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Erinnert sich noch jemand an das »gemeinsame europäische Haus«? An Gorbatschows Traum von einem Europa, das von Lissabon bis nach Wladiwostok reicht? Der Graben, der heute, dreißig Jahre nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, Russland von seinen westlichen Nachbarn trennt, ist tiefer als je zuvor. In der Ukraine herrscht Krieg, in Belarus Staatsterror. Innerhalb der EU werden Bruchlinien entlang der alten Grenze sichtbar. Verfassungsänderungen bedrohen in Polen und Ungarn die erst jüngst erkämpfte Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Vieles spricht dafür, dass wir an einer Epochenschwelle stehen. Wie konnte es dazu kommen? Gut dreißig Jahre nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme in Osteuropa werfen die Autoren einen kritischen Blick zurück - in einer gemeinsamen Anstrengung, von Erfahrung und Anschauung gesättigt und entsprechend erkenntnisreich.
Der Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine am 24. Februar 2022 markiert das Ende aller Illusionen, die vor allem die Westeuropäer sich gemacht hatten: Bis zuletzt hatte man auf Dialog gesetzt, auf Wandel durch Handel, auf den stabilisierenden Effekt einer kooperativen Sicherheitsarchitektur mit Russland. In Deutschland endet die Ära einer Politik, die sich gut fünfzig Jahre lang als Mittler und Brückenbauer zwischen dem Westen und Moskau verstand. Drei Tage nach dem Überfall sprach Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung von einer »Zeitenwende«, während die meisten osteuropäischen Staaten schon längere Zeit in Furcht vor einer Renaissance des aggressiven russischen Imperialismus gelebt hatten.
Obwohl das Staccato alarmierender Nachrichten schon seit Jahren zunahm, hatten nur die USA eindringlich vor dem Krieg gewarnt. Die Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 war ein erster eindeutiger, viel gescholtener und doch ungestrafter Völkerrechtsbruch. Auch die Reaktionen auf Russlands nichterklärten Krieg im Donbass blieben auf Lippenbekenntnisse und vergleichsweise milde Sanktionen beschränkt. Ohne Rücksicht auf das Leben von Zivilisten intervenierte Russland in Syrien, gab Mordanschläge in Großbritannien und Deutschland in Auftrag, hackte den Deutschen Bundestag und hielt die Welt mit sicherheitspolitischen Ultimaten in Atem. Allerdings dachten nur ukrainische, 8polnische, baltische und amerikanische Sicherheitsanalysten an einen erneuten Krieg gegen die Ukraine.
Vladimir Putin hat die Ukraine verwüstet und Russland zu einem Pariastaat gemacht. Zuvor war der Versuch fehlgeschlagen, die Ukraine für die Gründung der Eurasischen Wirtschaftsunion zu gewinnen. Der Grund dafür war der unverhohlene Führungsanspruch Moskaus, dem sich die anderen Mitgliedstaaten nur mit höchstem Misstrauen unterordneten. Offensichtlich glaubt auch der Kreml mittlerweile nicht mehr an die Verwirklichung einer politischen Eurasischen Union. Putin versucht seine imperialen Gelüste nun durch die anachronistische Wiederherstellung eines »Heiligen Russland« mit dem »dreieinigen Volk« der Russen, Ukrainer und Belarusen zu befriedigen.
Wie konnte es geschehen, dass Russlands Vorbereitungen auf den Überfall auf die Ukraine und die Revision der europäischen Friedensordnung lange Zeit nicht die gebotene Aufmerksamkeit in der europäischen Politik erhalten hatten?
Dass sich Russlands autokratisches und repressives Regime nach innen auch in Gewalt nach außen manifestieren würde, wollten jene, die Russland als Exportmarkt und als Energielieferanten schätzten, ungern zur Kenntnis nehmen. Reiche russische Wirtschaftsvertreter und Politiker hofierten Berlin, London, Paris, Rom oder Athen, luden zu pompösen Empfängen ein, wuschen ihr Geld und förderten »Stiftungen« zum Zwecke des Wirtschaftslobbyismus. Das Bild einer - wenn auch schwierigen - Partnerschaft sollte nicht durch Alarmismus oder rhetorisches »Säbelrasseln« gestört wer9den. Bisweilen verband ein latenter Anti-Amerikanismus die deutsche mit der russischen politischen Klasse.
Das Selbstbild als Mittler machte blind für heraufziehende Gefahren. Die Illusion vom Ende der Geschichte und ihrer Friedensdividende war zu groß. Gorbatschows ungewollter Beitrag zu einem friedlichen Ende der Sowjetunion und des Ost-West-Konfliktes übersetzte sich in einen Vertrauenskredit gegenüber Russland. Zu verheißungsvoll waren auch die ökonomischen Aussichten von Russland als großem Absatzmarkt deutscher Exporte und Energielieferanten in einer Übergangsphase zu einer nachhaltigen Energiewirtschaft. Alarmierende Entwicklungen lösten kein Nachdenken über eine vorsichtigere Russlandpolitik aus. Auch ein kritisch-besorgter Blick auf die keineswegs geradlinigen Transformationsverläufe in Ostmitteleuropa mag dazu beigetragen haben, Russland in milderem Licht zu sehen. Denn auch in Ostmitteleuropa setzten sich nach dem Untergang des Sozialismus Menschenrechte, Toleranz, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nur partiell durch - dem Versprechen eines Neuanfangs zum Trotz. Sein und verfassungsrechtlicher Schein fielen deutlich erkennbar auseinander.
Statt einer Konsolidierung nach schwierigen Anfangsjahren gab es nach drei Jahrzehnten Reformpolitik in Ostmitteleuropa mehr Rück- als Fortschritt. In Polen schränkte die PiS-Regierung die Unabhängigkeit der Justiz ein und machte sich die Medien dienstbar. In Ungarn unterminierte Ministerpräsident Orbán die demokratischen Grundlagen des politischen Systems. Die 10EU-Kommission hatte keine andere Wahl, als gegen Polen und Ungarn Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten. Bei der Auseinandersetzung mit Polen gab es seit Herbst 2021 einen Showdown. Nach der Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichtshofs, wonach der Vorrang des EU-Rechts nicht mehr anzuerkennen sei, verhängte der Europäische Gerichtshof eine Strafzahlung von einer Million Euro pro Tag. Das politische System der Ukraine befand sich zum Beginn des Jahres 2022 und damit acht Jahre nach dem Maidan noch immer fest im Griff der Oligarchen. Die Korruptionsbekämpfung kam nur mühsam voran. In Belarus klammerte sich Präsident Lukaschenka mit aller Gewalt an die Macht, für die er in der eklatant gefälschten Präsidentschaftswahl von 2020 kein Mandat mehr erhalten hatte. Vor diesem Hintergrund schien eine Allianz des Westens mit den Staaten Ostmitteleuropas gegen Russland nicht die einzige und auch nicht die sich unbedingt aufdrängende Option zu sein.
Die Verschärfungen der politischen Gangart, die Renaissance von Populismus und Nationalismus in Polen, Ungarn und Slowenien, die schleppenden Reformen in der Ukraine und die Großmachtsucht Russlands wurden begleitet von einem fundamentalen Wandel der Erinnerungspraktiken. Die Geschichtskulturen der Länder im östlichen Europa traten nicht mehr in einen Dialog, sie arbeiteten sich antagonistisch aneinander ab. In Russland wurde der Schutz der »historischen Wahrheit« 2020 sogar in die Verfassung aufgenommen.
Aber auch wenn die Neuinterpretation und die Instrumentalisierung der Geschichte ein allgemeines und 11nicht ein spezifisch russisches Phänomen waren, ging doch nur Putin so weit, mit teils widersprüchlichen, teils absurden geschichtspolitischen Einlassungen Gewalt zu rechtfertigen: Mal galt ihm die Ukraine als Bruder Russlands, dann wieder als Idée fixe Lenins. Putins Kriegsziel, die Ukraine zu »entnazifizieren«, obwohl dort Nazis weder im Parlament noch in der Regierung vertreten sind, sollte als Begründung für einen Vernichtungskrieg Russlands gegen die Ukraine dienen. Aber auch ein fiktives Feindbild kann zu sehr realen Konsequenzen - zur Enthemmung und zur Verletzung grundlegender Menschenrechte - führen.
Wenngleich der Krieg einen alles verdunkelnden Schatten über dreißig Jahre der Geschichte wirft, sollte sicherlich nicht aus dem Blick geraten, was nach 1989 im östlichen Europa erkämpft worden ist: Freizügigkeit, Mehrparteienwahlen, gefüllte Regale, Eigentumsrechte und die EU- und NATO-Mitgliedschaft zumindest der ostmitteleuropäischen Staaten. Doch die Befreiung, nicht nur vom Repressionsapparat, sondern auch von den festen Strukturen des täglichen Lebens, hatte ihren Preis. Der sozialistische »Gesellschaftsvertrag« - moderate soziale und wirtschaftliche Sicherheit gegen opportunistische Hinnahme der Autokratie - brach zusammen, weil die selbst ernannten Volksdemokratien ihren Teil des Vertrages nicht mehr einhielten. Der neue Gesellschaftsvertrag, so die Hoffnung, würde Wachs12tum, Reichtum und Freiheit zugleich und sofort bringen. Auf die Revolution der Erwartungen musste fast zwangsläufig Enttäuschung folgen. In Russland war eine Präsidialrepublik entstanden, deren ohnehin fragile demokratische Substanz sich mittlerweile verflüchtigt hat. Putin hat an ihrer Stelle eine Diktatur errichtet. Er hat nicht nur keinen Widersacher mehr, sondern auch niemanden, der ihm ein mäßigendes Wort zurufen könnte. Auch in den anderen Staaten des Ostens steht die Demokratie vor Herausforderungen. Dazu kam eine ungeahnte soziale Ungleichheit. Die Einkommen wuchsen, aber unter der Einkommenskluft litt immer mehr der gesellschaftliche Zusammenhalt. Die...
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