Schweitzer Fachinformationen
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Wenn in Bugia, jener von schroffen Klippen und mächtigen Bergen umgebenen Stadt in Nordafrika, einem Kind das Leben geschenkt wurde, wurde es in Blumenwasser gebadet. Eine Dienerin lief mit Salz durch den Raum, um die dschinn zu vertreiben, jene aus rauchlosem Feuer erschaffenen Dämonen, und nicht weit von der Wiege entfernt brannte ein starkes Feuer, an dem drei Tage und drei Nächte lang kein Mensch vorbeischreiten durfte, ansonsten brachte er Unglück über das Kind. Am allerwichtigsten aber war, dass man dem Kleinen Brot, Zucker und Gold in die Wiege legte: Zucker, damit es freundlich werde, Brot, damit es lange lebe, Gold, damit das Glück ihm lache.
Ja, das geschah, wenn in Bugia, einer der wichtigsten Hafenstädte in Nordafrika, ein Kind geboren wurde - zumindest wenn es das Kind einer reichen Familie war. Die Eltern von Aziza aber waren nicht reich, sie waren so bitterarm, dass ihre Hütte nicht einmal mit Stroh bedeckt war, nur mit Fladen aus getrocknetem Ziegenmist. Die erste Mahlzeit ihrer Mutter nach der Geburt war keine Suppe aus Weizenmehl, Hammelfett und Traubenmus gewesen, und Aziza wurde kein Brot, Zucker und Gold in die Wiege gelegt. Kein Wunder also, dass die Menschen, denen sie in den ersten Jahren ihres Lebens begegnete, sie nicht für freundlich, sondern für verblödet hielten. Sie erwarteten, dass sie bald wie eine der nutzlosen schwarzen Fliegen dahingerafft werden würde, und glaubten nicht daran, dass sie jemals ihr Glück fände.
Zunächst schienen sie recht zu behalten. Ihre Eltern starben so früh, dass sie sich nicht an sie erinnern konnte - nur manchmal vermeinte sie in ihren Träumen das Echo vom Singen und Lachen der Mutter zu hören. Ihre Tante, die sie nach deren Tod aufnahm, sang und lachte nicht. Sie beklagte sich ständig über das Schicksal, das ihr eine solch nutzlose Last aufgebürdet hatte.
»Wenn du wenigstens gut im Weben wärst!«, rief sie oft, aber in Azizas Händen verknotete sich jeder Faden.
»Wenn du wenigstens ein Kunststück vollbringen könntest!«, jammerte sie, aber die einzigen Kunststücke unter ihrem Dach vollbrachte die einohrige Katze, die noch die schnellste Maus fing.
»Und wenn du wenigstens ein liebreizendes Lächeln hättest«, kam es schließlich, »die Menschen würden nicht achtlos an dir vorbeigehen, sondern dir mehr Geld zustecken.«
Nun, Aziza konnte durchaus lächeln, aber wenn sie am Boden lungerte und bettelte, wie die Tante es befahl, hob sie den Kopf nicht weit genug, um den Menschen, die an ihr vorbeischritten, ins Gesicht zu sehen. Auch ihre Tante lächelte sie sehr oft an, meist entschuldigend, weil sie ihr das Leben schwer machte, aber die bemerkte es gar nicht. »Du taugst einfach zu gar nichts«, erklärte sie nur.
Eines Morgens setzte sie sie wieder einmal in einer der Gassen ab, kam am Abend jedoch nicht zurück, um sie wieder nach Hause zu holen. Auch am nächsten Tag erschien sie nicht.
Aziza, die durch das Labyrinth an Straßen und Gassen unmöglich den Heimweg finden würde, blieb sitzen. Sie kaute tagsüber an Schalen von Feigen, die jemand achtlos weggeworfen hatte, und leckte Wasser aus einem undichten Rohr, das vom nächstgelegenen Hamam wegführte. Irgendwo tief drinnen wucherten Schmerz und Angst. Zugleich hoffte sie ganz selbstlos, die Tante würde nun, da sie sie los war, fröhlicher sein, den ganzen Tag singen und lachen. Sie nahm ihr nichts übel. Sie war ja selbst der Meinung, dass sie zu nichts taugte.
Doch ihre Tante und sie irrten sich beide. Aziza hatte durchaus ein großes Talent, obwohl noch niemand davon wusste, und sie verhungerte nicht im Staub der Straße. Stattdessen wurde sie mit nunmehr sechs Jahren ein zweites Mal geboren, und an diesem Tag - oder vielmehr war es die dritte Nacht, die sie mittlerweile im Freien verbrachte - wurde ihr ein Schatz geschenkt, kostbarer als Gold, Brot und Zucker.
Der Mann, der Aziza diesen Schatz anvertraute, war Abelardo Gualandi, ein Pisaner Kaufmann. An dem Tag, da er Aziza ein zweites Leben schenkte, war er zuvor zweimal dem Tod begegnet. In den frühen Morgenstunden gebar seine Frau Riccia nach langen Monaten des Leidens ein Kind, so blau wie der abendliche Himmel, wenn die nahende Nacht fast sämtliches Licht und Wärme verscheuchte, und faltig wie ein Greis, als wäre es im Mutterleib nicht einfach nur gewachsen, sondern unaufhörlich gealtert. Es hatte Kraft für genau sechs Atemzüge, dann war es tot. Die Hebamme, die weniger von Geburten, dafür umso mehr von Zauberei verstand, meinte, es wären besser sieben oder zwölf gewesen. Die Sieben stände für die Unendlichkeit, die Zwölf für Vollständigkeit.
Abelardo befahl ihr zu schweigen. Mit dem leblosen Bündel in den Händen trat er an das Bett seiner Frau. Riccias dunkelbraunes Haar, das ihr sonst in geschmeidigen Locken über den Rücken fiel, klebte am bleichen Gesicht. Sie hatte während der Geburt viel Blut verloren, viel zu viel Blut, wie die Hebamme mehrmals klagend gerufen hatte. Ihre Kraft reichte gerade noch für eine letzte Frage.
»Lebt es?«, wollte sie wissen, ehe ihr Kopf schwer zurückfiel, sie das Bewusstsein verlor.
»Ja«, sagte er, und er würde nie erfahren, ob sie diese Lüge noch gehört und geglaubt hatte. Ihre Atemzüge zählte er nicht; bis zu ihrem Tod dauerte es noch quälende, keuchende, rasselnde Stunden, in denen die Hebamme vergebens versuchte, den fortwährenden Blutfluss zu stoppen.
Als sie nicht länger nach Luft rang, legte er das Kind auf jene Brust, nach der es nie schnappen und aus der niemals ein Tropfen Milch quellen würde, und er fühlte sich so trostlos und verzweifelt, dass er sich am liebsten dazugelegt und gewartet hätte, bis der Tod auch ihn holte.
Die junge Bona, die seit zwei Jahren Riccias Dienerin war, breitete erst ein weißes Tuch über ihre Herrin aus, dann ein weiteres über das blaue Kind. Sie weinte immerzu und klagte: »Wenn sie wenigstens in Pisa hätte sterben können. Pisa war doch ihr Zuhause.«
Mehr sagte sie nicht, aber er konnte all die Fragen hören, die ihr auf den Lippen lagen. Warum war er ständig unterwegs, anstatt das Leben in seinem prächtigen Palazzo zu genießen? Warum zog es ihn ausgerechnet in das Land der Heiden, obwohl die Kirche wetterte, man solle keinen Handel mit ihnen treiben? Und warum war Riccia bloß nicht stark genug gewesen, ihm laut zu trotzen, und er so blind, dass er nicht bemerkte, wie sie es leise tat - indem sie ständig kränkelte, meist im Bett lag?
»Ich . ich bin doch ein Kaufmann«, stammelte Abelardo. »Und ein Kaufmann reist. Es war ihre Entscheidung, mich zu begleiten.«
Bona weinte noch mehr, sagte nichts mehr, aber Abelardo wusste auch so: Riccia hatte ihn nicht begleiten wollen, es jedoch tun müssen, um ihn überhaupt noch zu Gesicht zu bekommen.
Was ihn im Übrigen in ferne Städte trieb, ob Damietta und Alexandrien, Kairo und nun eben Bugia, war nicht nur die Gier eines Kaufmanns. Er verkaufte zwar Weizen aus Sizilien gegen Gold aus Ghana, Holz und Eisen gegen Kupfer und Salz, Olivenöl und Wein gegen Tierhäute. Seine wahre Gier aber galt etwas anderem, und dem jagte er nicht nur selbst nach, er hatte Riccia dabei stets hinter sich hergezerrt. Am Ende hatte es ihm aber bloß ein totes Weib, einen toten Säugling und ein klaffend leeres Herz eingebracht.
Er schaffte es nicht, in dessen Abgrund zu schauen. Er schaffte es nicht einmal, die tote Frau und das tote Kind unter den Leinentüchern liegen zu sehen. Hastig floh er aus dem Haus - eines der prächtigsten im Fondaco der Pisaner, wie man an der Küste Nordafrikas die Stadtviertel der ausländischen Händler nannte. Man fand dort alles, was man zum Überleben brauchte und was das Leben obendrein annehmlich machte: Herbergen und Handelskontore, Lagerräume und Kirchen, Fleischereien und Bäckereien. Nur das, was Abelardo suchte, ließ sich heute nirgendwo finden. Er hoffte nicht einmal auf Trost oder Seelenfrieden, er hoffte auf einen Funken Gewissheit - nicht größer als ein Senfkorn -, dass er in seinem Leben nicht alles falsch gemacht hatte, dass er nicht sinnlos dem falschen Schatz nachgejagt war.
Er hatte zum Hafen gehen wollen, um sich vom Anblick des Meeres bestärken lassen. Ob es nun bedrohlich rauschte oder türkis glitzerte - mit jedem Wellenschlag bewies es, dass des Menschen Geist für die Weite gemacht ist, nicht für die Enge. Doch der eigene Geist schien ein paar Schritte vor oder hinter ihm zu gehen, und er selbst war eine Hülle, die bald nur mehr den Wunsch verspürte, in einer ärmlichen Gasse von einem Dieb gemeuchelt zu werden.
Leider war hierzulande auf Diebe kein Verlass. Im fernen Byzanz gab es ununterbrochen Überfälle, Messerstechereien und Plünderungen, weil die Pisaner den Venezianern nichts gönnten und die Venezianer nichts den Genuesen. Im heidnischen Nordafrika aber galten die christlichen Händler als Gäste, und wer ihnen unrecht tat, wurde genauso hart bestraft, als hätte er die Hand gegen seinesgleichen erhoben. Einem Dieb begegnete er also nicht, in eine ärmliche Gasse geriet er allerdings schon. Er musste den Kopf einziehen, weil so viele Lumpen zum Trocknen aufgehängt waren, riss dennoch einen mit sich und sah nun nichts mehr. Erst als er fast über einen Köter fiel, der aufsprang, knurrte, die Zähne fletschte, danach aber leider floh, anstatt ihn totzubeißen, zog er den Lumpen wieder vom Gesicht. Wenige Schritte später stolperte er dennoch wieder - diesmal über ein Bündel Stoff. Bis er erkannt hatte, dass sich unter dem Bündel ein Mensch befand, war er schon dem Kopf voran auf den Boden gekracht, und es wurde schwarz um ihn.
Als er wieder erwachte, schien der Himmel auf ihn zu fallen und zu zerbrechen, als wäre er aus Glas....
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