Kapitel 1
Jetzt hat er das Haus angezündet!, schoss es mir durch den Kopf, kaum dass ich einen Fuß auf die Türschwelle gesetzt hatte. Der Gestank von verschmortem Plastik quoll unter dem Türschlitz hervor und versetzte meinen Körper innerhalb von Sekunden in den Autopiloten. Als hätte jemand die Enter-Taste für die Ausführung einer komplexen Handlungsroutine gedrückt, ratterte mein Gehirn nacheinander die Programmierbefehle runter.
Durchatmen, Schlüssel suchen, richtigen Schlüssel ins Schloss stecken, wieder durchatmen und Schlüssel herumdrehen.
Ich hatte mir immer vorgestellt, zu einer hysterischen Furie zu mutieren, wenn so ein Szenario wirklich passierte. Aber überraschenderweise behielt ich einen kühlen Kopf. Vielleicht lag es daran, dass ich diese Situation schon unendlich oft in meinem Kopf durchgespielt hatte. Oder daran, dass mich die vier Jahre WG-Leben mit meinem dementen Grandpa um einiges stressresistenter gemacht hatten als gedacht. Natürlich raste mein Puls wie ein ICE auf offener Strecke, aber die Panik schaffte es nicht, mein rationales Denken zu vernebeln.
Ich stieß die Haustür auf. Mit angehaltenem Atem hechtete ich durch den Flur, in dem bereits blaue Rauchschwaden hingen. Ich presste mir eine Hand vor den Mund und musste heftig blinzeln. Der Rauch brannte in meinen Augen, aber das ignorierte ich. Ohne zu zögern, preschte ich in die Küche und stieß die halb angelehnte Tür auf.
Die Küche war leer. Die verdammte Küche war leer! Das gesamte Himalaya-Gebirge fiel mir von den Schultern.
Ein völlig deplatziertes Lachen machte sich in meiner Kehle breit.
Kein bewusstloser Grandpa, der röchelnd auf dem Küchenboden lag. Nur eine uralte Plastikschüssel auf dem Herd, die bereits mannigfaltige Blasen warf. Damit kam mein Autopilot klar. Eine geschmolzene Salatschüssel brachte ihn nicht zum Absturz.
Die Hitze der voll aufgedrehten Herdplatten schlug mir entgegen, als ich mit einem Geschirrtuch bewaffnet nach dem stinkenden Klumpen griff.
»So ein Mist!«, fluchte ich. Das geschmolzene Plastik zog Fäden, und eine ordentliche Portion Schüssel blieb auf den Herdplatten kleben - wahrscheinlich für die Ewigkeit. Ich würgte, als sich die aufsteigenden Plastikdämpfe in meine Atemwege brannten. Schnell presste ich mir die freie Hand wieder vor Mund und Nase und schmiss den noch nicht flüssigen Teil der Schüssel in die Spüle. Das Plastik zischte, als ich das Wasser aufdrehte. Dann schaltete ich den Herd aus und riss fast zeitgleich das Küchenfenster auf. Ich brauchte frische Luft, und zwar viel davon. Der Wind, der von draußen in die Küche drängte, war zwar nicht halb so erfrischend wie erhofft, doch er würde immerhin die Rauchschwaden vertreiben. Von dem ekelhaften Plastikgestank würden wir allerdings noch die nächsten Jahre etwas haben. Aber das war mir jetzt genauso egal wie der ruinierte Herd. Was zählte, war Grandpa. Ich warf das Geschirrtuch auf die Arbeitsplatte und eilte zurück in den Flur.
»Grandpa?«, rief ich und musste heftig husten, als ich schon wieder eine ordentliche Portion Rauch einatmete. Ich riss die Tür zu seinem Schlafzimmer auf, dann die Tür zum Wohnzimmer. Nichts.
»Grandpa?« Meine Stimme war mehr ein Krächzen als ein Rufen. »Wo steckst du, Grandpa?« Mit jeder Sekunde ohne Antwort schnürte mir die Angst weiter die Kehle zu. Ich sagte mir immer wieder, dass er sich bestimmt nur irgendwo versteckt hatte - irgendwo, wo ihn der Gestank von verbranntem Plastik nicht erreichen konnte. Irgendwo, wo er sich sicher fühlte.
Dass er vor lauter Panik auch weggelaufen sein könnte, wollte ich mir nicht ausmalen. Wer wusste schon, wo er in seinem Zustand hinlief.
Ich stieß die Tür zu meinem Zimmer auf, und eine kräftige Windböe schlug mir entgegen. Am anderen Ende des Flurs fiel die Küchentür zu.
»Grandpa!« Ich lief zu der offen stehenden Terrassentür, raus in den kleinen Garten, der hinter dem Haus lag. Und da war er.
Mit Shorts und einem Unterhemd bekleidet, saß Grandpa auf einem der morschen Gartenstühle und hielt sein Gesicht in den einsetzenden Sprühregen.
»Was machst du denn hier draußen?« Ich versuchte die Angst und auch den aufkeimenden Ärger aus meiner Stimme herauszuhalten, auch wenn es mich einiges an Willenskraft kostete. Grandpa konnte Emotionen nur noch schwer deuten und wurde schnell ungehalten, wenn er nicht verstand, was ich ihm sagen wollte.
Er drehte mir sein regennasses Gesicht zu, und ein breites Grinsen brachte die Falten darauf zum Tanzen. »Maggie, wie schön! Du kommst gerade rechtzeitig.«
»Das kann man wohl sagen«, murmelte ich und ließ mich auf einen weiteren Gartenstuhl fallen. Mir war egal, dass meine Jeans sofort von dem feuchten Holz durchgeweicht wurde. Hauptsache, ich konnte sitzen und meinen butterweichen Knien etwas Ruhe gönnen. Kaum hatte ich mich angelehnt, explodierten kleine schwarze Punkte vor meinen Augen, und der Garten geriet seltsam in Schieflage. Ich zwang mich dazu, einige ruhige, tiefe Atemzüge zu nehmen.
Hoffentlich habe ich mir keine Rauchvergiftung zugezogen.
»Granny hat schon das Essen auf dem Herd. Es gibt dein Leibgericht. Hausgemachte Bolognese.« In seiner Stimme lag solch eine Vorfreude, dass sich mir die Kehle verengte. Ich konnte in diesem Moment nichts sagen, wenn ich Grandpa nicht auch noch mit meinen Tränen irritieren wollte. Stattdessen beugte ich mich vor und legte ihm einfach die Hand auf den Unterarm. Sofort schob er seine Hand auf meine. Sie fühlte sich kühl und schwielig an, und doch strahlte sie eine Geborgenheit aus, die eine verräterische Träne über meine Wange rollen ließ. Grandpas Lächeln erlosch, und in seinen Augen flackerte etwas, was ich als Bedauern interpretierte.
»Ich habe wieder etwas angestellt«, flüsterte er. Sein vorher so strahlendes Gesicht hing nun nach unten wie ein Luftballon, aus dem alle Luft entwichen war.
Ich nickte und schloss meine Hand fester um seinen Unterarm.
»Was war es dieses Mal?«
Ich räusperte mich, damit ich überhaupt etwas sagen konnte. »Du hast den Herd angeschaltet, mit der Salatschüssel darauf.«
»Die Salatschüssel.« Ich sah, wie ihm Tränen in die Augen stiegen. »Meine Ellie hat diese Schüssel geliebt.«
Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen. »Oh ja, das hat sie.« Ich sagte nichts weiter. Es hatte keinen Sinn, ihm jetzt Vorwürfe zu machen. Er würde nichts damit anfangen können, wenn ich ihm sagte, dass er beinahe unser Haus abgefackelt hatte. Im schlimmsten Fall hätte ich riskiert, dass unkontrollierbare Wut in ihm aufflammte, der ich nicht alleine Herr werden konnte.
»Wir sollten wieder reingehen«, sagte ich stattdessen. »Der Regen wird stärker, und du hast keine Regenjacke an.« Ganz zu schweigen von Hose und Pullover.
»Noch fünf Minuten«, sagte er bereits wieder mit einem Grinsen im Gesicht. »Ich liebe den Regen.« Die Salatschüssel hatte er längst vergessen.
»Aber wirklich nur fünf Minuten.« Ich tätschelte Grandpa noch einmal den Arm und erhob mich. »Ich lasse dir Wasser in die Wanne ein. Dann kannst du dich gleich wieder aufwärmen.«
Ich ging durch die Terrassentür zurück in mein Zimmer. Auch hier war die Luft mittlerweile komplett von dem Gestank des verschmorten Plastiks durchzogen. Ich musste erneut ein Würgen unterdrücken - vor allem wenn ich daran dachte, dass ich die Nacht in diesem Gestank verbringen würde. Ich musste mir dringend etwas einfallen lassen - wegen des Gestanks, aber vor allem wegen Grandpa. So konnte es nicht mehr weitergehen. Heute war es nur die Salatschüssel gewesen, aber was kam morgen? Und übermorgen? Seine Demenz wurde schlimmer, und auch wenn ich es am liebsten nicht wahrhaben wollte: Ich konnte ihn so nicht länger allein zu Hause lassen.
Ich ließ mich der Länge nach auf mein Bett fallen, legte einen Arm über mein Gesicht und erlaubte mir einen Moment der Hoffnungslosigkeit. Es gab nur noch diesen einen Ausweg, nur noch eine Möglichkeit, um Grandpa vor sich selbst zu schützen. Ich würde ihn ins Pflegeheim geben müssen, und zwar nicht in eins mit blühenden Gärten, Nachmittagskaffee und Seniorenclubs. Das konnten wir beide uns nicht leisten, und meine Mum hatte mir schon mehr als einmal zu verstehen gegeben, dass sie Grandpa und mir nicht helfen konnte. Oder wollte.
Bei dem Gedanken, wie Grandpa ganz allein in dem trostlosen Zimmer einer staatlichen Einrichtung hockte, die grauen Wände anstarrte und jeden Tag die gleiche Hafergrütze vorgesetzt bekam, brannten mir die Tränen in den Augen. Das würde er nicht überleben. Ich schluckte gegen die Enge in meinem Hals an. Seine Demenz würde in der fremden Umgebung sofort die Oberhand gewinnen und binnen Tagen auch den Rest seines Verstandes zerstören. Das war eine Reise ohne Wiederkehr. Bei diesem Gedanken setzte ich mich ruckartig auf und straffte die Schultern.
Reiß dich zusammen, Maggie!
Ich durfte mein lösungsorientiertes Denken nicht mit negativen Grundannahmen blockieren. Ich musste pragmatisch bleiben und meine Emotionen außen vor...