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Es herrschte kaum Begeisterung vor dreißig Jahren, als der Parlamentarische Rat die Arbeit abschloß. Was die Bevölkerung angeht, so erfuhr sie nicht allzuviel davon, wurde auch nicht aufgerufen, ihr Votum abzugeben. Die Mitglieder dieser verfassunggebenden Versammlung ihrerseits taten ihr Werk eher in einer gedrückten Seelenlage. Es war nur ein Teil der Nation, für den sie handeln konnten. So meinten viele von ihnen, auch dem Staat, den sie widerstrebend schufen, einen bloß vorläufigen oder bloß interimistischen Charakter aufprägen zu sollen. Der klanglose Name »Grundgesetz« zeugt von solcher Zurückhaltung. Man sprach gleichsam mit gedämpfter Stimme, arbeitete mit zögernden Händen - in der Trauer um die Zertrennung der Nation, in der zagen Hoffnung auf einen künftigen freien Akt des ganzen Deutschlands.
Noch immer trauern wir, noch immer hoffen wir. Doch ist den nationalen Gefühlen seither ein helles Bewußtsein von der Wohltat dieses Grundgesetzes zugewachsen. Die Verfassung ist aus der Verschattung hervorgekommen, worin sie entstanden war. In dem Maße, wie sie Leben gewann, wie aus bloßen Vorschriften kräftige Akteure und Aktionen hervorgingen, wie die Organe sich leibhaftig regten, die dort entworfen, wie wir selbst die Freiheiten gebrauchten, die dort gewährleistet waren, wie wir in und mit diesem Staat uns zu bewegen lernten, hat sich unmerklich ein neuer, ein zweiter Patriotismus ausgebildet, der eben auf die Verfassung sich gründet. Das Nationalgefühl bleibt verwundet, wir leben nicht im ganzen Deutschland. Aber wir leben in einer ganzen Verfassung, in einem ganzen Verfassungsstaat, und das ist selbst eine Art von Vaterland.
Alle spüren es, die meisten wissen es, einige freilich wollen es partout nicht wahrhaben, daß hier die Luft der Freiheit weht. Man muß nur begreifen, daß es keine Freiheit geben kann ohne Staat. Und keine Menschenrechte außerhalb des Staates, der sie nämlich in Bürgerechte verwandelt. Und keinen Staat ohne Behörden. Überhaupt sollen wir uns nicht scheuen, das Wort »Staat« zu gebrauchen. Das Wort »Demokratie« kann kein Ersatz dafür sein, es führt eine Träumerei mit sich, als ob es eigentlich auch ohne Regierung ginge, wenn man das Volk nur machen ließe. Darum ist es besser, sich vor Augen zu halten, daß es in unserem Verfassungsstaat nicht das »Volk« ist, das »sich selbst« regiert, daß es darin vielmehr Regierende und Regierte gibt, eine Minderheit von Regierenden und eine Mehrheit von Regierten. Das ist unaufhebbar. Aber diese Regierten sind zugleich die Wähler, und diese Regierenden sind die Gewählten; die Regierenden hängen in gewisser Weise und in gewissem Maße von den Regierten ab. In jenen sonderbaren Vereinen, die politische Parteien heißen, sind Regierende und Regierte, Bewerber und ihre Anhänger miteinander organisatorisch verbunden. Die Parteien sitzen in den Parlamenten, bilden kooperierende und konkurrierende Mannschaften, treten in aller Regel in wechselseitiger Kritik auseinander, in einen regierenden und einen opponierenden Teil. Wir haben eine Auswahl, ein Wechsel im Regierungsamt ist möglich, wenn auch mühsam. Im Bund hatte zwanzig Jahre lang die eine, zehn Jahre lang die andere Gruppierung die Führung inne.
Die Staatsgewalt ist nicht an einem Ort konzentriert, weder oben noch unten, weder links noch rechts, sie ist vielmehr weit herum verteilt, wir nehmen auf allerlei Art an ihr teil, nicht nur leidend, auch tätig. Das Leben der Verfassung spielt sich nicht allein in den Parlamenten des Bundes, der Länder und der Gemeinden, nicht allein in den Regierungen und Verwaltungen ab; hinzu treten die Gerichte als »dritte Gewalt«, zumal diejenigen, welche die Gesetzgebung und die Verwaltung zu kontrollieren, zu korrigieren, die politische Machtübung in Grenzen zu halten sich erstaunlich fähig gezeigt haben. Die gesellschaftlichen Organisationen in ihrer Vielfalt existieren und wirken aus dem Grundrecht der Vereinigungsfreiheit, stellen Kräfte der lebenden Verfassung dar, auch wenn sie sich dessen nicht bewußt sind; es ist an den politischen Instanzen, ihr Recht zu berücksichtigen, ihren Übermut zu dämpfen. Jede Tarifverhandlung stellt ein Stück lebender Verfassung, die Autonomie der Tarifpartner, die keiner behördlichen Intervention bedarf, gleichwohl in sich selber ein Stück Staat dar. Nicht zu reden von dem vielstimmigen Simultan-Gespräch der sogenannten öffentlichen Meinung, die aus dem Grundrecht der Meinungs- und Informationsfreiheit erwächst. Auch Bürgerinitiativen, auch Demonstrationen sind Verfassungs-Lebensvorgänge, der Staat ist nicht bloß in der Polizeimannschaft gegenwärtig, die sie zu begleiten, ihre verfassungsrechtlich gebotene Friedlichkeit zu sichern bestimmt ist.
Es ist eine gute Verfassung, die all dergleichen und obendrein kräftige Führung möglich macht. Wir brauchen uns nicht zu scheuen, das Grundgesetz zu rühmen. Wir mögen im gegebenen Augenblick die Regierung tadeln, der Opposition Schwäche vorhalten, dem Parlament die Flut der Gesetze übelnehmen, bei den Parteien insgesamt Geist und Phantasie vermissen, von der Bürokratie uns beschwert fühlen, die Gewerkschaften für allzu unanspruchsvoll, die Reporter für zudringlich halten - die Verfassung ist von der Art, daß sie dies alles zu bessern erlaubt, zu bessern uns ermuntert und ermutigt. Eine maßvolle Unzufriedenheit ist dem Staat förderlich. Sie mindert nicht die Treue, die der Verfassung geschuldet wird. Gegen erklärte Feinde jedoch muß die Verfassung verteidigt werden, das ist patriotische Pflicht.
Die Prägung >Verfassungspatriotismus< hat zu meiner Freude eine gewisse Resonanz gefunden. In der >Historikerdebatte< hat sie eine Rolle gespielt. Sie ist freilich auch mißverstanden worden. Ich wollte nicht einen Ersatz für den nationalen Patriotismus bieten, der so schweren Schaden erlitten hat - durch zwei Kriege, zwei Niederlagen in diesen Kriegen und vor allem durch die Untaten, die während des letzten Krieges von Deutschen verübt worden sind. >Verfassungspatriotismus< war nicht gedacht als ein Notbehelf. Vielmehr wollte ich darauf aufmerksam machen, daß Patriotismus in einer europäischen Haupttradition schon immer und wesentlich etwas mit Staatsverfassung zu tun hatte, ja daß Patriotismus ursprünglich und wesentlich Verfassungspatriotismus gewesen ist - und freilich auch, daß er es heute in Deutschland noch und wieder sein könnte.
Wie das zu verstehen ist, mag ein Zitat aus meinem alten Konversationslexikon bezeugen - von Meyer, der Band stammt vom Jahre 1877, aus der Zeit nach dem Sieg über die Franzosen, aus der >Gründerzeit<, wo man eher nationale, kriegerische, monarchistische Töne erwarten würde:
»Ein um so größeres Feld seiner Wirksamkeit findet .
der Patriotismus, je mehr durch die Staatsverfassung dem Einzelnen gestattet ist, an den öffentlichen Angelegenheiten teilzunehmen.«
Dieser Verfassungsgedanke ist aber natürlich nicht erst von den liberalen und demokratischen Bewegungen des 19. Jahrhunderts erzeugt worden, hat vielmehr lange und starke historische Wurzeln in der lateinisch-humanistischen Tradition. Ich möchte zwei markante Beispiele in Erinnerung bringen:
Cicero stellt in >De legibus< (dem Buch, das von den Grundgesetzen oder, nach unseren Begriffen, von der Verfassung der römischen Republik handelt) die These von den zwei Vaterländern, von den zwei Arten von Vaterland auf. Alle Bewohner der Provinzen, sagt er, haben zwei Vaterländer
»unam naturae, alteram civitatis«,
das eine von Natur, nämlich gemäß der Herkunft, der Gebürtigkeit, der Heimat, der Nation, das andere gemäß dem Staate oder, wörtlich gesprochen, gemäß der Bürgerschaft. Und weiter macht er deutlich, daß es auf dieses zweite, das staatliche Vaterland eigentlich ankomme:
»dulcis autem non multo secus est illa, quae genuit, quam illa, quae excepit«,
das heißt: Angenehm ist nicht viel anders dasjenige Vaterland, das dich hervorgebracht hat, als dasjenige, welches dich aufgenommen hat. Nämlich: als Bürger. Dem du als Bürger angehörst. Also eben das staatliche, bürgerliche, civitas, die Bürgerschaft.
Die Renaissance hat dieses Motiv wieder aufgenommen. Es ist die Epoche der Wiederentdeckung, Wiederbelebung, auch der antiken Staatsauffassung - im >civic humanism<, im politischen Humanismus. Leonardo Bruni, Leonardus Aretinus hat in seiner >Laudatio Florentinae urbis< (von 1403) ganz ebenso die Republik Florenz als staatliche Heimat aller Italiener gepriesen wie Cicero die römische. Und er gibt in großartiger Einfachheit auch an, worauf diese Staatlichkeit beruht:
»ius ., sine quo nec civitas esse nec nominari potest .« und »libertas, sine qua nunquam hic populus vivendum sibi existimavit.«
Recht und Freiheit - das ist die Essenz des Verfassungsstaates. Diese...
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