Schweitzer Fachinformationen
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In Pyramiden herrschte eine besondere Atmosphäre. Leise quietschten die Ketten der Kinderschaukeln im Wind. Polarfüchse tobten durch die Straßen. Der Schnee hatte der Leninbüste eine Tschapka aufgesetzt. Alles war zu ruhig, zu sauber, als hielte die Stadt im Warten auf die Rückkehr ihrer Bewohner den Atem an.
Die Phantomstadt war eine Anomalie, die mit dem Sonderstatus von Svalbard zu tun hatte. Lange Zeit war der Archipel terra nullius gewesen, ein Gebiet, das niemandem gehörte, bis nach dem Ersten Weltkrieg ein internationaler Vertrag unterzeichnet wurde, der Norwegen die Souveränität über die Inselgruppe zusprach. Er legte aber auch fest, dass alle Unterzeichnerstaaten ihre Bodenschätze nutzen konnten. Nur Russland hatte sich auf diese Klausel berufen, um zwei Kohlevorkommen auszubeuten, eins in Barentsburg, etwa dreißig Kilometer westlich von Longyearbyen, das andere hier.
Zu Zeiten der Sowjetunion hatten ungefähr tausend Menschen in der Stadt gelebt. Bergleute mit ihren Familien, Techniker, Wissenschaftler. Hier fehlte es ihnen an nichts: Die Geschäfte waren voll, die Löhne großzügig, es gab sogar ein Schwimmbad und ein großes Kulturzentrum. In der Sowjetunion drängte man sich danach, in Pyramiden eingestellt zu werden: Damals lohnte es sich, in der Arktis zu arbeiten, man verdiente genug, um sich nach der Heimkehr eine Wohnung zu kaufen. Allerdings musste man gute Beziehungen haben, um dorthin entsandt zu werden.
Im Frühling 1998 aber war es damit vorbei. Die Mine war nie sehr ergiebig gewesen, und nach dem Zerfall der UDSSR hatte das neue Russland kein Geld, um sie weiter zu betreiben. Pyramiden wurde von einem Tag auf den anderen geräumt, und alle Investitionen konzentrierten sich fortan auf Barentsburg. Seither waren die Bewohner hauptsächlich Polarfüchse, Zugvögel, die im Frühling an den Fenstern nisteten, und ein paar Touristen, die den Fjord hinauffuhren und für eine Nacht im Hotel Tulpan Station machten, das die Russen erst kürzlich renoviert hatten. Es war nicht sehr rentabel, aber Moskau wollte verhindern, dass Pyramiden an Norwegen zurückfiel.
Der Super Puma landete im Stadtzentrum, direkt neben dem Hotel. Lottie war froh auszusteigen. Sie hatten den Leichnam von Agneta Sørensen auf eine Trage gelegt und in den Hubschrauber gebracht, nachdem sie die Arbeit am Ort des Bärenangriffs in Brucebyen beendet hatten. Während des kurzen Flugs nach Pyramiden war Lottie dem toten Blick ausgewichen, um nicht wieder in Panik zu geraten.
»Wie gehen wir vor?«, fragte Thor.
»Ich verhöre den einen Wachmann, du lädst dein Handy und guckst, was du aus dem anderen rauskriegst. Dann tauschen wir.«
Der Hubschrauber flog ohne sie nach Longyearbyen weiter. Dort wartete ein Krankenwagen, um Agnetas Körper zur Kirche zu bringen. Die Stadt war zu klein für eine Leichenhalle im Krankenhaus. Wenn jemand starb, kam er in die Kirche, bis man ihn mit dem nächsten Postflugzeug aufs Festland schicken konnte.
Die Wachleute, die die Tote gefunden hatten, erwarteten sie vor dem Tulpan. Sie trugen beide lange schwarze Mäntel, deren Ledergürtel von goldglänzenden Schnallen zusammengehalten wurden. Mit ihren tief in die Stirn gezogenen schwarzen Wollmützen, sogenannten Papachas, wie sie früher die Kosaken getragen hatten, sahen sie aus, wie einem Tolstoi-Roman entstiegen. Im Winter waren die Wachmänner auch Reiseführer, und die Touristen schätzten diese Aufmachung.
»Wer von euch hat die Signalrakete abgeschossen?«, fragte Lottie barsch.
Die Männer sahen sich an, vom schneidenden Ton der kleinen Norwegerin ebenso überrascht wie davon, dass man sie auf Russisch anredete.
»Ich«, sagte der jüngere.
»Und du bist?«
»Alexej Borissowitsch Saikow.«
Der Russe hatte braunes Haar und ebensolche Augen. Seine schlanken Finger zitterten, als er ihr die Hand gab. Sie roch den Alkohol in seinem Atem. Er hatte sich wohl an der Bar einen Wodka gegönnt. Verständlich nach dem, was er erlebt hatte.
»Okay, Alexej. Wir müssen für die Untersuchung des Vorfalls deine Aussage aufnehmen. Du kommst mit, dein Freund redet erst mal mit meinem Kollegen, dann ist er dran. Einverstanden?«
Er nickte ebenso wie der andere Russe, der seine Zigarettenkippe in den Schnee warf und die Tür zum Tulpan aufstieß. Ende dreißig, Hakennase, struppiger Bart, ausdrucksloses Gesicht, als wäre ihm das Eis unter die Haut gedrungen. Thor setzte sich mit ihm an ein Ende der Bar, wo er eine Steckdose fand, um sein Telefon aufzuladen. Die Frau hinter der Theke zeigte zum Zapfhahn, um ihm ein Bier anzubieten. Thor lehnte mit einem höflichen Spassiba ab.
Lottie setzte sich mit Alexej in eine Ecke des Speisesaals. Er war vielleicht fünfundzwanzig, dreißig, trug einen kleinen Schnurrbart und hatte etwas dunklere Haut. Vielleicht lag es an seiner Kleidung oder am Schnurrbart, dass sie eine gewisse Ähnlichkeit mit Doktor Schiwago in Gestalt von Omar Sharif sah. Das passte gut zur »Themenpark«-Atmosphäre des Hotels: kitschige Schnitzereien, Matroschkas, Fahne der einstigen Sowjetunion über dem Tresen, Zitat von Iwan Petrowitsch Pawlow, dem ersten russischen Nobelpreisträger, Wodka »UDSSR« und Omelett »Gorbatschow« auf der Speisekarte. Das Tulpan setzte ganz auf Kalter-Krieg-Nostalgie.
»Zigarette?«, fragte sie und streckte ihm ihre Schachtel hin.
Hier am Ende der Welt scherte man sich nicht um Nichtraucherzonen. Alexej bediente sich mit ehrlicher Freude. Pyramiden würde erst im Frühjahr wieder mit Nachschub versorgt werden. Womöglich hatte er seine Tabakreserven schon aufgebraucht.
»Woher kommst du?«, begann Lottie harmlos.
»Murmansk. Und du? Du sprichst gut Russisch.«
»Von hier. Meine Mutter ist Russin.«
Sie holte den Block und den Bleistift heraus, die sie immer bei sich hatte, um sich draußen Notizen zu machen. Kugelschreiber benutzte sie schon lange nicht mehr: Bei Temperaturen bis zu minus dreißig Grad war die Tinte meistens gefroren. Dann legte sie ihr Telefon auf den Tisch und schaltete die Diktierfunktion ein.
»Nimmst du das auf?«, fragte er besorgt.
»Das ist nur ein informelles Gespräch, damit wir die Todesumstände verstehen, aber wir sollten das schon festhalten. Ist das ein Problem?«
Plötzlich sprach sie wieder so schneidend wie am Anfang. Warm, kalt. Im Ungewissen lassen. Guter und böser Bulle in einer Person. Der Russe blies etwas Rauch durch die Nase aus und schüttelte den Kopf. Sie begann mit seinem Dienstgrad, seinem Namen, Uhrzeit und Ort, dann stellte sie ihm ein paar Standardfragen, ehe sie zum Thema kam:
»Wie hast du die Leiche entdeckt?«
Er räusperte sich, dann antwortete er wie ein Schüler, der etwas vorträgt:
»Ich war draußen, um einen Rundgang zu machen, dabei habe ich gemerkt, dass ein Bär versucht hatte, in die Sporthalle einzudringen.«
Sie fragte nach der Uhrzeit, er sagte sie ihr und fuhr fort:
»An der Tür waren Kratzspuren und daneben Exkremente. Ich wollte nachsehen, ob der Bär noch in der Nähe ist, und bin den Spuren gefolgt. Sie führten bis zum Strand und dann weiter in Richtung Gletscher. Ich habe mit dem Fernglas nach ihm gesucht. Bei den Hütten von Brucebyen sah ich ein Schneemobil. Das fand ich komisch, weil es schon vor zwei Tagen dort gestanden hat.«
»Bist du dir sicher, dass es vor zwei Tagen war?«
Er nickte, und sie notierte: »Opfer am Dienstag angegriffen?«
»Man sieht nur selten jemanden allein mit Schneemobil in der Gegend«, fuhr Alexej fort. »Wenn Touristen kommen, dann immer in Gruppen. Auch die Wissenschaftler sind mindestens zu zweit. Ich habe Nikolai davon erzählt, und wir haben uns gedacht, dass wir mal nachsehen sollten, was da los ist.«
Sie warf einen Blick zu dem anderen Wachmann. Thor und er versuchten sich über das Übersetzungsprogramm zu verständigen. Das sah ziemlich mühsam aus.
»Warum seid ihr selbst hingefahren? Ihr hättet uns benachrichtigen können.«
»Hier sind wir es gewohnt, allein klarzukommen. Wir haben ein Gewehr und Leuchtmunition mitgenommen und sind über das Packeis gefahren. Als wir ankamen, war der Bär da und schlug sich den Bauch voll und .«
Sein Blick ging ins Leere, und sie spürte, dass er die Szene wieder vor sich sah.
»Ich habe es nicht gleich kapiert . Von Weitem sah es aus, als hätte der Bär eine Robbe gefangen, wegen der Farbe des Overalls, den das arme Mädchen getragen hat.«
Seine Stimme brach. Er zog ein letztes Mal an der Zigarette und drückte sie nervös im Aschenbecher aus. Lottie stellte sich vor, was es für ein Schock gewesen sein musste, als er das Tier die Leiche fressen sah.
»Wir haben in die Luft geschossen, um den Bären zu erschrecken, und er ist weggelaufen. Dann haben wir euch angerufen.«
Jetzt kamen sie zum Kern.
»Wie weit wart ihr entfernt, als ihr versucht habt, den Bären zu verscheuchen?«
»Hundert, hundertfünfzig Meter.«
»Mit welcher Waffe hast du geschossen?«
»Nur mit der Signalpistole.«
Der Wachmann war nicht blöd. Er wusste, dass Eisbären auf Svalbard seit den 1970er-Jahren geschützt waren. Man durfte nur in unmittelbarer Gefahr auf sie schießen. Vor ein paar Jahren hatte ein Touristenführer eine Strafe von zwölftausend Kronen kassiert, nur weil...
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