Schweitzer Fachinformationen
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1 Bestandteile
1.
Ich bin die Tochter einer mutterlosen Mutter. Das klingt dramatischer, als es eigentlich ist, auch wenn es für mich als Kind wohl etwas von Schauerromantik hatte. Es war traurig, dass die Mutter meiner Mutter so jung gestorben war, aber es war auch mysteriös, und was mysteriös war, war interessant. Ich wusste sehr wenig über die Frau, die mir eine Großmutter gewesen wäre - sie starb, als meine Mutter elf war, und hatte vor ihrem Tod fünf Jahre an einer Krankheit gelitten, also hatte meine Mutter sie nur auf eine bestimmte Weise erlebt und nur bis zu einem bestimmten Zeitpunkt. Es gab eine spürbare Leerstelle in unserem Leben: dass wir von diesem Menschen nichts wussten, dass es so wenig Geschichten gab, die wir uns liebevoll erzählen konnten. Sie wurde erwähnt, hin und wieder sprach man natürlich von ihr, aber in erster Linie gab es im Hintergrund diese blasse Vorstellung von ihr.
Auch eine Traurigkeit, die man nicht benennt, kann natürlich tief empfunden sein. »Ein Schleier der Traurigkeit« war das in meiner Vorstellung gewesen, und so hatte ich es anderen beschrieben, als ich älter wurde. Meine Mutter war nach außen hin kein unglücklicher Mensch - bis heute ist sie fröhlich, energisch und umgänglich. Sie hat einen trockenen Humor. Große braune Augen, ein ironisches Lächeln. Sie mag Mannschaftssport, sogar jetzt im Ruhestand. Vom Pickleball-Platz muss man sie wegzerren. Die Leute mögen sie. Und ich werde ständig gefragt, wie ich über dermaßen kaputte Familien schreiben kann, wo meine Mutter doch offensichtlich ein so netter Mensch ist.
Trotzdem hatte ich in meiner Jugend stets ein Bewusstsein von Tragödie und Verlust - auch wenn ich selbst gar nichts verloren hatte. Eine Affinität zu dem, was da fehlte. Eine Skizze, ein Umriss, nie ganz ausgeformt und als Vorstellung doch existent. Gedachte Lücken, ausgefüllt mit Informationen, die ich nicht hatte, aber, wie ich merkte, mühelos erfinden konnte. Etwas, das wir tun als Autorinnen und Autoren. Wenn wir es uns nur zugestehen. Aber es hatte auch etwas, diese Leere einfach nur zu empfinden. Es ging nicht einfach um eine Oma weniger, die mir hätte sagen können, dass sie mich lieb hatte, obwohl - wäre es nicht auch schön gewesen, das zu hören? Tragödie und Verlust hatten mit mir nichts zu tun - dass sie fehlte, betraf ausdrücklich das Leben meiner Mutter. Eine Frau, die abwesend war. Und damit all das, was sie von ihrer Mutter niemals lernen durfte.
Vieles davon drehte sich um das Dasein als Mädchen. Ich spreche von der traditionellen, altmodischen Vorstellung von Mädchenzeit und Weiblichkeit, einer, die in den Fünfziger- und Sechzigerjahren vorherrschte und sogar noch während der Achtziger, als ich am nordwestlichen Stadtrand von Chicago aufwuchs. Ein Mädchen zu sein, hat heute eine andere Bedeutung, flexibler, voll neuer Möglichkeiten, und für wen all das zugänglich ist, hat sich auch verändert. Doch im Moment denke ich an eine Zeit, in der Mädchen Make-up und Kleider tragen, irgendwann heiraten und Kinder kriegen sollten. Kochen und putzen und so weiter. Das scheint ewig her zu sein. Klar, all diese Erwartungen gibt es noch immer in unserer Kultur, aber inzwischen ist Raum für mehr - für viel mehr als diese Endlosliste weiblicher Eigenschaften, die man erwartet.
Meine Mutter lernte all das jedoch nie, nicht so, wie eine Mutter es an die Tochter weitergibt, und entsprechend lernte ich als Kind auch nichts darüber. (Und wieso sollte es auch allein ihre Sache gewesen sein, mir das beizubringen?) Ich war ziemlich burschikos, und irgendwann hörte das auf. Doch überbrücken ließ es sich nicht.
Immerhin gab es den Kapitalismus. Als ich zwölf Jahre alt war, fuhr meine Mutter mit mir zur Mall, Schminke ausprobieren. Madonnas erstes Album war gerade erschienen, und alle wollten so aussehen wie sie, insbesondere und offensichtlich die junge Frau am Make-up-Tresen. Ihr Haar fiel in schicken, sicherlich morgens vor dem Spiegel geduldig ondulierten Wellen. Mit meinem Gesicht ging sie auch geduldig um, diszipliniert, fixiert auf eine Vision: die kunstvolle, geometrische Betonung meiner Augen durch pinke und lila Dreiecke, dick aufgetragene Mascara und Eyeliner. Bei jeder neuen Schicht überkam mich Panik. Dieser Look war etwas für deutlich ältere Mädchen, und außerdem hätte ich ihn niemals selbst nachschminken können. Ich war noch nie gut im Ausmalen gewesen, und bei Augenlidern schon gar nicht. Das kann ich nicht, dachte ich. So kann ich nicht sein.
Auf der Heimfahrt von der Mall betrachtete ich mich im Spiegel der Sonnenblende, und dann heulte ich los. »Ich sehe aus wie eine Prostituierte«, sagte ich, ohne je Sexarbeiterinnen gesehen oder kennengelernt zu haben oder irgendetwas von ihrem Erleben zu wissen. »Du musst das ja nicht wieder tragen«, sagte meine Mutter in einem Ton, der ahnen ließ, dass Make-up ohnehin überflüssig war.
Was war das überhaupt, Make-up? Ein Weg, die Wahrnehmung zu verändern, wo mein Gesicht doch eigentlich ganz von selbst jung und rein und gesund aussah. Lippenstift bewirkte dies, Mascara jenes. So braute man etwas zusammen, wie nach einem Rezept. Damals kam mir das falsch vor. Behälter für Make-up hatte ich schon gesehen, im Bad, das ich mit meinem Bruder und meinen Eltern teilte, wo sie oft in einer Schublade verstaubten. Werbegeschenke vom Clinique-Tresen, wenn meine Mutter dort Hand- oder Feuchtigkeitscreme kaufte. Lidschatten-Pröbchen, bald vergessen.
Make-up schien verbindlich zu sein, es aufzutragen eine Pflicht. Das musste ich tun, wenn ich als normal gelten wollte, was immer »normal« bedeutet, was immer »Mädchen sein« bedeutet, was immer das alles bedeutet. Diese Regeln hatte man lange vor meiner Geburt gemacht, und ich wusste noch nicht, dass ich sie brechen oder neu definieren oder komplett ignorieren durfte. Jedenfalls - ich fuhr zur Mall, um zu lernen, wie man als Mädchen ist. In einem Alter, in dem ich mir nicht einmal sicher war, was ich an mir mochte, was ich zur Geltung bringen oder betonen wollte - wenn überhaupt. Konnten wir uns nicht einfach lieber unterhalten? Nachdenken fand ich super. Konnte ich nicht einfach den ganzen Tag träumen? Aber nein - es war an der Zeit, anders auszusehen, anders zu fühlen, in die nächste Spielart meiner selbst hineinzuwachsen.
Durch das Make-up begriff ich, dass eine Uhr tickte, die ich bis dahin gar nicht bemerkt hatte.
Als ich meine Mutter heute per E-Mail nach diesem katastrophalen Vorstoß ins Frausein frage, damals in der Mall, schreibt sie nur: »Meiner Erinnerung nach war das keine gute Erfahrung! Es ist schwierig, Mutter zu sein.« Ich erzähle ihr, dass ich über Make-up schreibe. »Ist nicht so dein Ding, hm«, sage ich. »Ich glaube, ich sehe auch ohne ganz schön aus«, sagt sie. Und sie hat recht.
Eine ungelernte Lektion also, doch dafür lernte ich eine andere, wenn auch durch Zufall. Wen interessiert schon die Oberfläche? Zudem gab mir meine Mutter stattdessen die Freuden des Lesens und der Kreativität mit, Respekt vor meiner Bildung und den Glauben, dass ich alles erreichen konnte, was ich wollte, unabhängig von meinem Geschlecht - all das nahm ich sehr gern an, statt die Herausforderung, Flüssig-Eyeliner zu bezwingen. (Die ich, ehrlich gesagt, auch im Alter von neunundvierzig noch nicht bezwungen habe.)
Die einzige Form von Make-up, die ich schon immer liebend gern nutze, ist Lippenstift. Ich liebe die vielen leuchtenden Farben, wildes, hysterisches Pink, das ein langweiliges Outfit aufpeppt, Löcher in graue Tage bohrt, oder leuchtendes, sexy, sinnliches Rot, das Stunden auf meinen Lippen haftet und sie auf bestimmte Weise markiert. Ich mag es, wie Lippenstift manchmal mit meinen Augen zusammenwirkt, bei denen ich meist finde, sie sind glücklicher für sich, unbekleidet. Ich denke gern an meinen Mund, nach vielen Jahren, in denen er gar kein Thema war. Etwas, das ich mag an meinem Gesicht - das kann ich so sagen. Meinen Mund. Ihn werde ich schmücken. Ich habe viele Jahre gebraucht, um dort anzukommen. Etwas zu finden, das ich betonen will.
2.
Eine weitere, nicht von meiner Mutter gelernte Lebenslektion: Kochen. Klar, sie hatte Cousinen und Tanten gehabt, die hier und da etwas Wissen weitergaben, und im Rahmen der Schulbildung kam auch das Kochen vor. Wasser konnte sie erhitzen. Anweisungen konnte sie befolgen. Eine Schachtel mit handgeschriebenen Rezepten auf Karteikarten, verstaut in einem Küchenschrank. Honigkuchen für die hohen Feiertage. Doch bei einem alleinstehenden Vater, der zwei kleine Mädchen aufzog, entgingen meiner Mutter ein paar Fertigkeiten. Entsprechend lernte auch ich nie viel mehr als die Grundlagen.
Dafür ist aus mir ein begnadeter Dinnergast geworden. Es ist wunderbar, mich beim Kochen dabeizuhaben, vor allem, wenn ich ein Glas Wein bekomme, und auch, mich mit am Tisch sitzen zu haben, denn ich werde das Essen auf tiefe, emotionale Weise zu schätzen wissen und das auch sehr deutlich verbalisieren, nicht zuletzt, weil ich diese Form des Kochens aus meiner Jugend nicht kenne. Ich lege immer höchste Wertschätzung an den Tag, wenn ich eine köstliche, frisch zubereitete Mahlzeit bekomme, bestaune ehrlich und mit Hundeblick das Essen, das man mir vorsetzt. Ladet mich ein und gebt mir zu essen. Ich werde eure beste Gefährtin sein.
Trotzdem - meine Mutter versorgt mich auf ihre Weise mit Essen. Einmal ist sie von Chicago nach New York geflogen, weil sie sich um mich kümmern wollte, als ich mich von einer kleinen Operation erholte. Der Eingriff verlief glatt, die Schmerzmittel waren herrlich. Später, in...
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