Schweitzer Fachinformationen
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George Flicker, Mazies Nachbar, Grand Street Nr. 285
Bevor sie als Königin der Bowery in diesen knallbunten Kleidern herumlief, mit ihrem Schlapphut aus Filz, klimpernden Armbändern und Spazierstock, und jahrelang den vielen wohnungslosen Männern half, und bevor man in Zeitungen und Zeitschriften über sie zu schreiben begann und sie eine bedeutende New Yorkerin nannte, eine Heldin hieß es sogar, vor alldem war sie einfach nur Mazie Phillips, das Mädchen, das in der Etage über mir wohnte, in das ich vielleicht ein bisschen verknallt war, ohne dass es mich eines Blickes gewürdigt hätte.
Mazies Tagebuch, 1. November 1907
Heute habe ich Geburtstag. Ich werde zehn. Dich habe ich geschenkt bekommen.
Ich bin die Tochter von Ada und Horvath Phillips. Aber die wohnen in Boston, weit weg. Ich sehe sie überhaupt nicht mehr. Sind sie dann noch meine Eltern? Mir doch egal. Mein Vater ist fies und meine Mutter einfältig.
Ich wohne jetzt in New York. Rosie sagt, ich bin New Yorkerin. Du bist mein New-York-Tagebuch.
George Flicker
Zuerst war nur Louis Gordon in der einen großen Wohnung in der zweiten Etage, er lebte ziemlich lange allein, das weiß ich noch. Ein riesiger Mann, rotes Fleisch satt. Das konnte man auf dem Korridor riechen. Wie er es kochte, meine ich. Und er war einer, der viel schwitzte. Mitten im Winter, da hatte er schon vormittags Schweißflecken. Er trug immer so einen braunen Filzhut mit blauer Feder dran - das war das Auffälligste an ihm, diese Feder. Er war kein Mann, der gern Aufmerksamkeit erregte, aber diese Feder besagte, dass es da doch irgendwas gab. Da wohnte also Louis, der große Mann, ganz allein, gleich über uns.
Wir hingegen waren zu fünft in unserer Familie, meine Mutter, mein Vater, meine Tante, mein Onkel, alle in ein kleines Zimmer gepfercht. Und noch ein Onkel, Al, der Bruder meiner Mutter, der wohnte unter der Treppe und war ständig oben bei uns in der Wohnung, wo er noch mehr von dem bisschen Platz einnahm. Ich sehe Ihr Gesicht, aber damals hat man sich wirklich da reingezwängt. Und Mazie hat sich später noch sehr verdient gemacht um meinen Onkel Al, deswegen ist er wichtig für diese Geschichte. Er ist nicht bloß mein verrückter Onkel Al, der unter der Treppe wohnte.
Okay, wir waren also manchmal zu sechst in dem einen Zimmer, aber Louis, der hatte zwei Zimmer für sich allein. Es ist beklemmend, auf so engem Raum zu wohnen. Einerseits waren wir's gewohnt. Ich kannte gar nichts anderes als dieses Zimmer; ich wurde da reingeboren. Und wir hatten unsere kleinen Freuden. Wir hatten alle zu essen. Niemand wurde krank, niemand starb. Die Mietskasernen in der Umgebung waren verdreckt und stanken. Aber wir hatten Glück, mit diesem einen Gebäude. Wir waren zwar zusammengepfercht, hatten es aber sicher und sauber. Die Familie blieb heil. Doch wir beneideten die mit mehr Platz.
Ein bisschen Missgunst gab es also, aber trotzdem, er war unser Nachbar. Seid nett zu den Nachbarn, das hat man uns beigebracht. Meine Mutter nannte ihn immer den »stillen Riesen«, weil er so groß war, aber nie ein Geräusch machte. Man hörte kein einziges Mal den Fußboden knarren, und wir reden hier von einem Haus, wo ständig irgendwas knarrte. Jeden Muckser konnte man hören. Manchmal ging sie rauf und klopfte bei ihm, nur um sicherzugehen, dass er noch lebte. Sie machte sich Sorgen, weil er alleinstehend war; darum machte sie sich unentwegt Sorgen.
Und dann heiratet er Rosie. Man erzählt sich, dass er sie auf der Rennbahn kennengelernt hat, nicht hier in der Stadt, in Boston. Ah, ich muss überlegen . die Rennbahn hieß Readville, war damals eine große Sache, aber jetzt gibt es sie schon viele Jahre nicht mehr. Was man sich so alles erzählt, hm? (Lacht.) Er heiratet sie also und bringt sie mit nach New York. Und Rosie ist wirklich umwerfend, als sie da auftaucht, dieses schöne, dunkle, aufgesteckte Haar, die Augen mit Kajal umrandet, die Lippen dunkelrot. Sie sieht exotisch aus, wie eine Zigeunerin, ist aber Jüdin, natürlich. Und sie lächelt allen zu, weil alle ihr zulächeln. Das Mädchen sieht einfach gut aus.
Und nun sind es also zwei Leute in zwei Zimmern, und jetzt knarrt auch der Boden. Jede Nacht! Jetzt ist er nicht unbedingt still, und meine Mutter klopft gar nicht mehr bei ihm an. So geht das, ich weiß nicht, ein Jahr? Aber das Knarren, das hören wir inzwischen nicht mehr so oft, und Rosie, die so glücklich gewesen ist, wenn wir die jetzt in der Nachbarschaft sehen, lächelt sie nie. Geht sie einkaufen, ist sie traurig. Geht sie mit Louis spazieren, ist sie traurig. Sagt man ihr Hallo auf dem Korridor, grüßt sie griesgrämig zurück. Ich erinnere mich, wie meine Mutter sagte: »Der stille Riese und die Prinzessin Sauertopf.«
Einmal war ich bei ihnen in der Wohnung. Aber nur einmal. Ich rannte in unserem Mietshaus die Treppe runter, und da stolperte ich und stürzte und schlug mir das ganze Knie auf. Kinder machen so was ständig. Tja, Rosie kam gerade mit ihren Lebensmitteln die Treppe hoch und sah meinen Sturz. Also schleppte sie mich in ihre Wohnung, um mich zu versorgen. Vor allem erinnere ich mich an so einen riesigen Holztisch mit lauter Stühlen drum herum, so schönes, glänzendes Holz. Als Rosie im Bad war und einen Verband für mein Knie suchte, lief ich um den Tisch herum, zählte dabei die Schritte und strich mit der Hand darüber. Wozu brauchten die einen dermaßen großen Tisch?
Jedenfalls kümmerte sich Rosie sehr gut um mich. Sie gurrte mich an, nahm mich in die Arme, drückte mich an ihre Brust. Sie hielt mich ganz fest, und dann ließ sie mich urplötzlich los und schickte mich nach unten zu meiner Mutter. Ich erinnere mich sehr deutlich daran. Sie sagte: »Du gehörst zu deiner Mutter.«
Danach, ich weiß nicht, ein, zwei Monate später vielleicht, fahren Louis und Rosie für eine Woche weg. Sie bitten meine Mutter, ein Auge auf die Wohnung zu haben. Sie sagen, sie machen die Hochzeitsreise, die sie nie hatten. Meine Mutter glaubte, dass er Geld unter den Dielenbrettern versteckte. »Unrecht Gut gedeiht nicht.« Sie sprach im Scherz davon, die Böden mal anzuheben, während er weg war, aber das war kein Witz. Sie dachte, dass er vorgab, zu sein, was er nicht war, damit ihn niemand verdächtigte. Dass es unrecht Gut war, dachte sie erst, als Rosie auf den Plan trat. Ich mochte Louis ja. Er machte auch legale Geschäfte. Er besaß das Filmtheater, er besaß den Bonbonladen. Er investierte in die Gemeinschaft. Und jeder bekam jederzeit einen Nickel von ihm. Unrecht Gut - wem steht es zu, das zu sagen?
Als Louis und Rosie dann zurückkommen in die Stadt, haben sie zwei Mädchen dabei, Rosies kleine Schwestern. So lerne ich Mazie und Jeanie kennen, die Phillips-Mädchen. Ungefähr ein halbes Jahr nach der Ankunft der Mädchen zog die ganze Familie, Louis und Rosie und Mazie und Jeanie, auf die andere Straßenseite in eine größere Wohnung, eine ganze Etage, wie ich gehört habe, aber nie gesehen. Da hätten Sie mal meine Mutter hören sollen.
Mazies Tagebuch, 3. Dezember 1907
Ich hab Dich verloren! Und jetzt hab ich Dich wiedergefunden. Aber ich hab nichts zu sagen.
Mazies Tagebuch, 13. März 1908
Ich kann das nicht gut. Daran denken, in Dich reinzuschreiben.
Mazies Tagebuch, 3. Juni 1908
Ich bin keine Lügnerin, ganz egal, was irgendwer sagt.
Als sie in die Stadt kamen, war Mazie wahrscheinlich zehn Jahre alt, Jeanie ist vier oder fünf. Ich muss damals knapp sieben gewesen sein. Die beiden waren immer sehr nett anzuschauen, obwohl sie nicht unbedingt hübscher waren als sonst irgendwer. Sie sahen nicht viel anders aus als die übrigen gelockten, dunkeläugigen Jüdinnen von der Lower East Side.
Aber Rosie kaufte ihnen schöne Kleider und Schleifen für die Haare, und sie waren wohlgenährt. Sie waren also nicht krank oder so fahl wie andere, die nicht genug zu essen bekamen, was man damals auf der Straße gar nicht so selten sah. Und Jeanie nahm schon Ballettstunden, da war sie noch ganz klein, was meine ganze Familie verrückt fand, wo es doch für die Flickers keine Sonderwünsche gab und Onkel Al unter der Treppe wohnte. Aber sie lief gekleidet wie eine winzige Ballerina herum, was zugegebenermaßen ein netter Anblick für uns alle war, ein kleines Mädchen, das hübsch aussah.
Mazie hatte keine Verwendung für mich. Ich langweilte sie. Sie suchte immer die Aufregung, sah drei Meter durch einen hindurch, als gäbe es weiter hinten was Besseres. Und sie wirkte viel älter als ich. Ich nehme mal an, sieben und zehn ist ein großer Unterschied, aber inzwischen denke ich, es lag einfach daran, dass sie mehr durchgemacht hatte als wir alle. Mazie war sehr klug. Natürlich hatte sie das nicht aus Büchern, so war das bei keinem von uns. Sie hatte das von der Straße, aber das war bei uns allen so, uns Stadtkindern. Nur dass sie eben den Eindruck erweckte, als wüsste sie mehr über die Welt, schon immer. Sie lieferte sich Rennen mit den älteren Kindern auf den Dächern der Mietskasernen. Ein wilder Haufen. Meine Mutter hielt mich da natürlich fern.
Also, nein, ich spielte nicht mit den Phillips-Mädchen. Ich bewunderte sie nur aus der Ferne. Beziehungsweise von der anderen Straßenseite aus.
Mazies Tagebuch, 8. Juli 1909
Ich kann schneller rennen als sämtliche Jungen aus dem Block. Denen habe ich gesagt, ich würde es beweisen, und das habe ich getan. Heute Abend habe ich auf dem Dach ein Wettrennen mit ihnen gemacht und gewonnen. Ich habe Abe und Gussy und Jacob und Hyman geschlagen, und zwar um Längen, alle Mann. Staub haben die geschluckt. Sogar im Kleid schlage ich die Jungen. Gussy...
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