Schweitzer Fachinformationen
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DAS APARTMENT
Du studierst Kunst, du findest es furchtbar, du brichst ab, du ziehst nach New York City. Für die meisten Leute ist das eine Geste, die Ehrgeiz beweist, nach New York City ziehen. Aber für dich besiegelt es nur dein Scheitern, weil, dort bist du aufgewachsen, also kehrst du, nachdem du es in der wirklichen Welt nicht geschafft hast, bloß wieder nach Hause zurück. Mental im Rückwärtsgang.
Eine Weile wohnst du downtown bei deinem Bruder und seiner Freundin in einer Kammer, wo dein Bett zwischen Schuhregalen und ein paar von den Gitarrenkoffern deines Bruders klemmt, und einer Wand voller Bücher aus dem Grundstudium seiner Freundin an der Brown University. Du findest einen Job, mithilfe besagter Freundin. Einen Job, den du weder hasst noch liebst, aber du kannst dich schlecht über geregelte Arbeit beschweren, du bist schließlich nicht besser als alle anderen und in gewisser Hinsicht noch viel, viel schlimmer. Du siehst ein, wie privilegiert du bist, und du packst es an.
Du verdienst allmählich Geld. Du findest ein kleines, verstaubtes, schäbiges Loft in einer miesen Ufergegend in Brooklyn. Es hat ein einziges, bodentiefes Fenster, das ein winziges Empire State Building in der Ferne schön umrahmt. Jetzt bist du zu Hause. Alle in deinem Leben atmen auf. Jetzt ist sie in Sicherheit, denkt jeder. Nie sagt irgendjemand zu dir: »Und, hast du aufgehört mit der Kunst?« Weil, sie wollen die Antwort nicht hören oder es ist ihnen egal oder sie haben Angst zu fragen, weil du ihnen Angst machst. Wie dem auch sei, alle machen sich mitschuldig daran, an deiner neuen Lebensphase ohne Kunst. Auch wenn du nichts auf der Welt mehr geliebt hast.
Aber du hast ein kleines Geheimnis: Du produzierst zwar keine Kunst mehr, aber immerhin zeichnest du jeden Tag. Irgendjemandem davon zu erzählen hieße einräumen, dass deinem Leben etwas fehlt, und das sagst du lieber nicht laut, außer in der Therapie. Aber so ist es, einmal täglich zeichnest du immer wieder dasselbe: dieses gottverdammte Empire State Building. Jeden Morgen (beziehungsweise Nachmittag, am Wochenende, je nach Kater) stehst du auf, trinkst eine Tasse Kaffee, setzt dich an den Spieltisch am Fenster und zeichnest es, normalerweise mit Bleistift. Wenn du Zeit hast, auch mit Tusche. Manchmal, wenn du spät dran bist und zur Arbeit musst, machst du es stattdessen abends, und dann kolorierst du die Skizzen auch, um wiederzugeben, dass sich die Beleuchtung des Gebäudes ständig verändert. Manchmal zeichnest du nur das Gebäude und manchmal zeichnest du die Gebäude darum herum und manchmal zeichnest du den Himmel und manchmal zeichnest du die Brücke im Vordergrund und manchmal zeichnest du den East River und manchmal zeichnest du den Fensterrahmen um die ganze Szenerie. Diese Zeichnungen füllen ganze Skizzenbücher. Du könntest ewig dasselbe zeichnen, wird dir klar. Niemand steigt zweimal in denselben Fluss, denn es ist nicht derselbe Fluss, und es ist nicht derselbe Mensch, das hast du einmal gelesen. Das Empire State Building ist dein Fluss. Und du musst dein Apartment nicht verlassen, um hineinzusteigen. Du fühlst dich wieder sicher in der Kunst, auch wenn du weißt, dass du nicht besser wirst, dass man die Arbeiten, die du machst, an sonnigen Samstagen auf dem Gehweg vor dem Central Park an Touristen verkaufen könnte, und das war's dann auch. Sie haben nichts Herausforderndes, keine Botschaft, nur dein Ausblick in ständiger Wiederholung. Aber mehr kannst du nicht tun, mehr hast du nicht zu bieten, und es reicht gerade für das Gefühl, etwas Besonderes zu sein.
Das machst du sechs Jahre lang. Apartment in Brooklyn, eine Gegend im Umbruch, wieso umziehen, wenn die Miete so günstig ist? Mittelmäßiger, aber gut bezahlter Job, in dem du glänzt; du erhältst öfter eine kleine Beförderung. Ehrenamtliches Engagement hier und da. Du gehst demonstrieren, wenn deine aktivistische Mutter sagt, dass du demonstrieren sollst. Unnütze Skizzenbücher stapeln sich auf dem untersten Brett eines Bücherregals. Lindern kaum das höllische Jucken. Außerdem trinkst du viel, und lange Zeit nimmst du auch Drogen, Koks hauptsächlich und Ecstasy, aber manchmal auch Pillen, um am Ende der Nacht wieder runterzukommen. Auch eine Art, den Juckreiz zu lindern. Und es gibt Männer, in deinem Bett, in deiner Welt, irgendwie, doch dir ist weniger an ihnen gelegen als vielmehr daran, jene Stimme in deinem Kopf zu dämpfen, die dir sagt, dass du nicht das Geringste mit deinem Leben anfängst, dass du ein Kind bist, dass die Insignien des Erwachsenseins nur Verarsche sind, dass sie einen Dreck bedeuten und du zwischen allen Stühlen sitzt und immer sitzen wirst, es sei denn, etwas zwingt dich zur Veränderung. Und außerdem, die künstlerische Arbeit fehlt dir.
Deinen Bekannten scheint Veränderung leicht zu fallen. Sie haben keine Probleme damit, im Beruf erfolgreich zu sein und Apartments zu kaufen und in andere Städte zu ziehen und sich zu verlieben und zu heiraten und Doppelnamen zu bilden und Katzen aus dem Tierheim zu adoptieren und schließlich Kinder zu kriegen und das alles akribisch im Internet zu dokumentieren. Es scheint sie keinerlei Anstrengung zu kosten. Ihre Leben sind aufgebaut wie Fertighäuser - jedes kostbare, aber komplett vorhersehbare Klötzchen wird vor deinen Augen auf ein anderes gesetzt.
Am tollsten ist es, wenn eine Freundin mit dir was trinken gehen will, eine Freundin, mit der du schon zahllose Gläser in deinem Leben getrunken hast, und wenn ihr dann an der Bar sitzt, starrt deine Freundin in die Karte und bestellt nichts und du sagst gezwungenermaßen: »Trinkst du nichts?«, und sie sagt: »Ich würde ja gern« und macht eine dramatische Pause und du weißt genau, was als Nächstes kommt. Gleich erzählt sie dir, dass sie schwanger ist. Und zwar mit diesem Subtext, dass du Glück hast, weil du noch was trinken kannst, und sie kein Glück hat, weil sie nichts trinken kann, mit diesem blöden Baby im Bauch. So ein dämliches Drecksbaby. Im Bauch.
Irgendwann werden dein Bruder und seine Frau schwanger, und du kannst nicht mal ablästern, weil es deine Familie ist, und außerdem waren sie immer unfassbar gut zu dir, dein Bruder und du, ihr habt nämlich eine besondere Bindung durch das frühe Ableben eures Vaters, Überdosis. Du organisierst eine Babyparty, auf der du zu viel Sekt-Orange trinkst und auf der Toilette weinst, aber relativ sicher bist, dass niemand es merkt. Nicht, dass du ein Baby willst oder heiraten willst oder so. Das ist nicht dein Ding. Du hast es nur einfach irgendwie satt. Hast die Welt satt. Hast es satt, irgendwo hinpassen zu wollen, wo du nicht passt. An diesem Abend gehst du nach Hause und zeichnest das Empire State Building und es gibt dir Hoffnung, das zu tun, was du so liebst, so viel Hoffnung, dass du online nachschaust, wofür die Farben heute Abend stehen - grüne und blaue Beleuchtung -, um zu erfahren, sie ehren den Nationalen Tag der Essstörungen, was dich wieder total deprimiert, obwohl du nie im Leben essgestört warst.
Neun Monate kommen und gehen, jeden Moment könnte ein Baby geboren werden. Du rufst deinen Bruder an, um zu erfahren, wann genau, aber sie haben so eine hippiemäßige Hebamme, und er sagt: »Wissen wir noch nicht. Könnte noch eine Woche dauern.« Auf einmal bist du ganz hibbelig vor Begeisterung. Es wird ein Mädchen. »Ruf mich an, sobald du was hörst, was auch immer«, sagst du zu ihm. Dann hast du drei ungemein öde, nervtötende Nachmittagsmeetings hintereinander, und danach wirst du in eine andere Box versetzt, zusammen mit einer neu eingestellten Kollegin, die dreizehn Jahre jünger ist als du und irrsinnig witzig und laut und hübsch und die wahrscheinlich halb so viel verdient wie du, aber trotzdem alles für enge Kleider ausgibt. Es ist Freitag. Du gehst bei dir um die Ecke was trinken. Etwas zu viel. Dann rufst du deinen Dealer an, den du seit Jahren nicht angerufen hast. Du fasst es nicht, dass seine Nummer noch funktioniert. Er sagt: »Wir haben uns eine Weile nicht gesehen.« Du sagst: »Ich war beschäftigt«, als müsstest du rechtfertigen, dass du keine Drogen mehr nimmst. Du kaufst nicht besonders viel, gerade genug, doch dann lernst du an der Bar einen Mann kennen - ihr tut beide so, als würdet ihr euch schon kennen, was nicht stimmt, aber es fühlt sich, warum auch immer, sicherer an - und er hat mehr als genug für euch beide. Dann geht ihr zusammen nach Hause, zu dir, zum winzigen Manhattan im Fenster, zu den Skizzenbuchstapeln, und ihr zwei macht euch daran, die ganzen Drogen zu nehmen. Das geht so stundenlang. Ein bisschen Sex kommt auch vor, aber ihr seid beide nicht übermäßig interessiert aneinander. Die Drogen verbinden, weiter nichts. Du hast nicht mal Bock, Bock zu haben. Irgendwann geht er, und du schaltest dein Telefon aus und legst dich schlafen. Am Sonntagabend wachst du auf. Du schaltest dein Telefon an. Es sind acht Nachrichten von deinem Bruder und von deiner Mutter da. Du hast die Geburt deiner Nichte verpasst.
Danach nimmst du keine Drogen mehr, nie wieder. Keine Entziehungskur nötig. Du fängst an, die Welt mit neuen Augen zu sehen. Aber die Welt sieht aus wie immer. Job, Apartment, Freunde, Familie, Ausblick. Ein paar Wochen lang scheint es, als stünde auf der Arbeit eine mächtige Beförderung an, aber dann wird dir klar, dass du dadurch auch mehr Verantwortung bekommst, also windest du dich irgendwie wieder raus. Diese Beförderung würde bedeuten, dass du noch eine Weile bleibst. Du belügst dich selbst: Ich sollte mir alle Optionen offenhalten. Man weiß nie, was noch passiert.
Nach wie vor zeichnest du. Das ist das Beste an deinem Tag. Das ist dein wahrhaftigster Moment. Dann strömt der Atem aus deinem Körper und du hast das Gefühl,...
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