Schweitzer Fachinformationen
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Eines Freitagnachts deaktivierte mein Leben kurzerhand den generellen persönlichen Sachverstand (besser bekannt als GPS) und verließ die vorgegebene Spur - mit mir im Fahrzeug. Mit passendem Soundtrack dazu hätte ich vielleicht geahnt, was anschließend passierte. Aber wie der ahnungslose Trottel im Horrorfilm - der für einen späten Snack in die Küche spaziert und keinen Schimmer hat, dass er gleich aufgeschlitzt, elektrogeschockt oder vom Teufel übernommen wird - knibbelte ich fröhlich »Made in China«-Sticker von den kleinen Platzkartenhaltern für die Verlobungsparty meiner Cousine. Kurz zuvor hatte ich noch Isabelles voluminösen Chiffonrock über einem Toilettensitz hochgehalten. Also ja, ich war vergleichsweise glücklich mit dem Sticker-Job.
Bei den Platzkartenhaltern handelte es sich um kleine Holzrahmen mit herzförmigem Bildausschnitt. Auf der einen Seite stand die jeweilige Tischnummer, und auf der anderen sah man ein Foto von Isabelle und Thomas mitsamt eines »Sie hat Ja gesagt!«-Banners. Ihre überglücklichen Gesichter wurden von verschwommenem Herbstlaub umrahmt, was dem Bild einen zusätzlichen Touch Romantik verlieh. Es war eine wunderschöne Aufnahme. Ich war wahrscheinlich die Einzige, die sie gruselig fand. Das Foto wirkte, als wäre es von einem Käfer auf einem Ast geschossen worden, der vorsichtig auf seinen kleinen Stativ-Beinchen balancierte und -
»Moti.«
Als Rachel Auntie näher kam, zuckte ich zusammen. In einer indischen Familie aufzuwachsen bedeutete, dass alle, die sich annähernd im Alter der eigenen Eltern befanden, als »Auntie« oder »Uncle« angesprochen wurden. Man klatschte die Anrede einfach an den eigentlichen Namen, ganz gleich, ob man nun tatsächlich miteinander verwandt war oder nicht. Wenn man den Vornamen nicht kannte, sprach man sein Gegenüber als »Aunti-ji« oder »Uncle-ji« an.
Kinder aus Einwandererfamilien lernen recht früh, dass es Ausnahmen für die Regeln ihrer Eltern gibt. Ein Bespiel: Wenn du das Namensschild einer Kassiererin gelesen und dich daraufhin mit »Vielen Dank, Mildred Auntie« verabschiedest hast, erntest du entsetzte Blicke sowohl von deiner Mutter als auch von der Dame an der Kasse. Wenn du klug bist, kapierst du, dass einige Regeln nur für Menschen gelten, die dein kulturelles Erbe teilen. Falls nicht, wird es durch heftiges Ziehen am Ohr verdeutlicht. Der vermachte Dualismus folgt dir - genau wie deine Hautfarbe und das Geräusch von Senfkörnen, die im heißen Fett aufplatzen - durchs Leben. Deine Eltern kommen von dort, leben jedoch hier. Du wurdest hier geboren, und doch befindest du dich im ewigen Spagat zwischen dort und hier.
Rachel Auntie war wirklich meine Tante - die jüngere Schwester meiner Mom und die Mutter meiner Cousine Isabelle. Daher wusste sie über bestimmte Dinge bestens Bescheid.
»Moti, solltest du nicht bei Dolly sein?«
»Ich komme, sobald ich mit denen hier fertig bin.« Ich lächelte und versteckte einen der Tischkartenhalter hinter meinem Rücken. Hoffentlich hatte sie nicht gesehen, dass ich Konfetti darauf geklebt hatte. Es war nicht möglich, die Sticker zu entfernen, sie waren mit industriellem Superkleber daran befestigt. Daher prangten jetzt auf sämtlichen Rahmen Reste von »Made in China«-Stickern, was noch schlimmer war als vorher. Nun würde nicht nur jeder wissen, dass wir billige Rahmen gekauft hatten, sondern auch, dass wir versucht hatten, es zu verheimlichen. Es lag auf der Hand, dass das einzige Vernünftige war, die Vertuschungsaktion zu vertuschen und Tischkonfetti auf die Klebreste zu drücken.
»Moti, das ist ein großer Tag für Isabelle. Wie du weißt, können wir nicht riskieren, dass Dolly eine Szene macht. Lass das Gefummel, und sieh nach deiner Mutter.«
»Ja, Rachel Auntie.« Ich stellte den Tischkartenhalter ab und folgte ihr.
Ich war vierundzwanzig, aber wenn dich ein älteres Familienmitglied um etwas bittet, lässt du alles stehen und liegen und kümmerst dich darum. Dieses Pflichtbewusstsein war tief in meine DNA gedrillt. Es war meine Aufgabe, mich um meine Mutter zu kümmern. Bei genauem Hinsehen ließ sich erkennen, dass jeder in der Familie seine konkreten Aufgaben hatte. Es gab die Tonangeber und die Tonempfänger. Bandenführer und Teigrührer. Versprechenhalter und Versprechenbrecher. Wenn man etwas oft genug wiederholte, bekam man ein entsprechendes Label verpasst, und alle wussten, womit sie es zu tun hatten.
»O Gott, Moti, bei dem kannst du kein Geld für dein Auto leihen. Das ist ein Pfennigfuchser« oder »O Gott, Moti, frag die bloß nicht um Hilfe. Sie ist der Beistands-Bumerang. Erst steht sie dir bei, und dann kommt sie immer darauf zurück - wie ein Bumerang«.
Labels machten es für alle einfacher. Ich war voll dabei, und auf meinem Etikett stand »Muttersitter«, was hieß, dass ich bei Familienfesten auf meine Mutter aufpasste. Denn Dolly liebte es, sich tot zu stellen, und fand immer die schlechtesten Momente dafür.
Es begann eigentlich recht unschuldig, als unsere Nachbarin Tschüss-Lin mich eines Nachmittags bei der Arbeit anrief. Eigentlich hieß sie Shu-Lin oder vielleicht auch Sue-Lin, aber ich nannte sie in Gedanken nur Tschüss-Lin, da Dolly immer versuchte, sich so schnell wie möglich von ihr zu verabschieden. An jenem Tag gab meine Mutter vor, eingeschlafen zu sein, damit Tschüss-Lin endlich die Wohnung verließ. Es war Zeit für ihre indische Lieblingssoap, und sie hatte keine Lust auf Tee und Small Talk. Tschüss-Lin wurde angesichts Dollys Bewusstlosigkeit panisch und rief mich an.
»Moti, du musst schnell nach Hause kommen. Deine Mutter . sie ist nicht mehr unter uns.«
Damit wollte sie sagen, dass meine Mutter bewusstlos war, aber irgendwie kam die Sprachbarriere dazwischen . nun, so was passiert. Ich ließ alles stehen und liegen und kam in Rekordzeit zu Hause an, gemeinsam mit den Sanitätern und den Rentnern, die auf der gleichen Etage lebten.
Ich will ehrlich sein. Meine erste Reaktion auf den vermeintlichen Tod meiner Mutter war Erleichterung. Es war, als hätte man einem Kanarienvogel verkündet, die Katze sei tot.
Halleluja.
Direkt gefolgt von einer Woge aus Schuldgefühlen.
Doch dann begann Dolly zu husten, und zwar genau in dem Augenblick, als die Sanitäter mit den Wiederbelebungsmaßnahmen beginnen wollten.
Plötzlich hielt sie Hof und schlug alle Anwesenden mit Geschichten über ihre »Nahtoderfahrung« in den Bann. In den folgenden Wochen wurde sie überall eingeladen, um ihren persönlichen Aufstieg ins Himmelreich zu schildern, was sie mit großer Detailliebe und voll Nachdruck tat. Der Vorfall hat ihre Liebe zum Theatralischen befeuert, und ab da folgten regelmäßige »Beinahepassagen« ins Jenseits. Dolly liebte die Aufregung, die Aufmerksamkeit und die plötzliche hektische Betriebsamkeit. Niemand wusste, wie viele Flugmeilen sie schon bei ihren Reisen ins Nachleben gesammelte hatte - außer Rachel Auntie und ich. Wobei ich glaube, dass Rachel Auntie ihren Mann eingeweiht hat.
Joseph Uncle wirkte erleichtert, als er uns kommen sah. »Ah, Moti. Bleibst du bei Dolly und Naani? Die ersten Gäste sind schon da. Deine Tante und ich müssen sie begrüßen.«
»Natürlich.« Ich ließ mich auf dem frei gewordenen Platz zwischen meiner Mutter und Großmutter fallen.
»Hast du die Torte gesehen?« Dolly nickte in Richtung einer mehrstöckigen Konstruktion aus lilafarbenem und weißem Zuckerguss. »Als ob sie schon heiraten würden. Niemand bei klarem Menschenverstand -«
»Ma.« Ich warf ihr einen warnenden Blick zu.
»Pah!« Dolly winkte meine Bedenken beiseite. »Deine Naani hört doch gar nicht zu. Seit du das Facebook-Profil für sie angelegt hast, bekommt sie nichts mehr mit. Sieh nur. Schon wieder am Handy. Die ist genauso gelangweilt wie ich. Ich verstehe wirklich nicht, warum sie so einen Aufwand -«
»Du weißt, warum.«
»Na und? Dann bezahlt halt die Familie des Bräutigams für die Hochzeit. Das sind Millionäre. Milliardäre. Joseph und Rachel hätten trotzdem nicht so ein Affentheater aus der Verlobungsfeier machen müssen.«
»Das ist eine Frage des Stolzes. Sie können sich die Art von Hochzeit, die Isabelle und Thomas vorschwebt, nicht leisten, möchten aber etwas beisteuern.«
Meine Cousine und ihr Verlobter hatten eine Hochzeit in Griechenland geplant, wo Thomas' Familie lebte. Ein Großteil der Festgesellschaft war zu einer zweiwöchigen Kreuzfahrt entlang der griechischen Inseln eingeladen, gesponsert von Thomas und seiner Familie.
»Das ist prollig. Alles daran ist prollig.« Dolly strich ihre Haare glatt. »Wenn überhaupt, werden die Unterschiede zwischen denen und uns so noch deutlicher. Hochzeiten sind zu einer Show verkommen, Moti. Es geht nur noch ums Angeben. Gott sei Dank muss ich mir deinetwegen in nächster Zeit keine Sorgen machen.«
Die meisten indischen Mütter geben keine Ruhe, bis ihre Töchter einen netten Jungen kennengelernt haben. Meine Mom hingegen wäre vollkommen einverstanden damit gewesen, wenn ich niemals geheiratet hätte. Sie hatte ein konkretes Szenario im Sinn - inklusive klarer Randmarken, die es nicht zu überschreiten galt. Allerdings durfte man eigentlich nicht ihr die Schuld daran geben. Höchstens eine Teilschuld. Nach meiner Geburt konsultierte...
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