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Es war ein guter Tag für Louboutins. Ich hatte nicht geplant, auf dem Laufsteg in den Tod mondäne Stilettos zu tragen, aber welch besseren Abgang könnte es geben, als in rot besohlten High Heels einen »Fick dich«-Abschiedsgruß an meinen Killer zu richten, wenn ich wirklich von einem blutrünstigen Psychopathen ermordet werden sollte?
Fick dich, Arschloch, weil du mich zum Opfer eines sinnlosen Verbrechens machst.
Fick dich, weil du mich zusätzlich demütigst, indem du mich dein Gesicht nicht sehen lässt, bevor du mir eine Kugel in den Kopf jagst.
Fick dich, weil die Kabelbinder so stramm sind, dass sie tief in meine Handgelenke einschneiden und blutige Male hinterlassen.
Und fick dich erst recht, weil niemand kurz vor seinem vierundzwanzigsten Geburtstag sterben will - die Haare frisch frisiert, die Fingernägel mit Gel-Lack perfekt designt -, auf dem Heimweg von einem Date mit einem Mann, der endlich »der Richtige« sein könnte.
Mein Leben war prädestiniert, eine fortlaufende Erfolgsgeschichte zu werden: Examen, Hochzeit, ein Haus, das es verdiente, in einem Hochglanzmagazin abgebildet zu werden, zwei perfekte Kinder. Doch nun kniete ich hier, mit einem Sack über dem Kopf und der kalten Mündung einer Schusswaffe im Genick. Aber das Allerschlimmste war, nicht zu wissen, warum das passierte, warum ich sterben musste. Andererseits, wann ergab so etwas schon einen Sinn? Steckte Willkür oder sorgfältige Planung dahinter? Ob Mord, Vergewaltigung, Folter oder Missbrauch - sind wir je fähig, das Warum zu begreifen, oder sehnen wir uns einfach nach Etikettierungen und Ablagefächern, um das Chaos zu organisieren, das wir nicht kontrollieren können?
Finanzieller Vorteil.
Psychische Störung.
Extremismus.
Hass auf Tussis mit Acrylnägeln.
Unter welchem dieser Motive würde meine Ermordung katalogisiert werden?
Hör auf, Skye. Noch bist du nicht tot. Denk nach.
Streng dein Gehirn an.
Der derbe, penetrante Geruch von Jute stieg mir in die Nase, während das Boot im Wasser schaukelte.
Was tust du dann, Skye?, hörte ich das Echo von Estebans Worten laut und deutlich in meinem Kopf.
Ich schlage zurück, und ich kämpfe hart.
Mir entfuhr ein Laut, halb Lachen, halb Schluchzen.
Nun hatte ich Esteban so lange ausgeblendet, aber jetzt stahl er sich unerwartet und unangekündigt wie immer in meinen Kopf, hockte am Rand meines Bewusstseins, als wäre es mein Schlafzimmerfenster.
Mir kam das Online-Quiz in den Sinn, das ich an diesem Morgen gemacht hatte:
An wen denkst du zuletzt, bevor du einschläfst?
Klick.
Das ist der Mensch, den du am meisten liebst.
Ich dachte an Marc Jacobs und Jimmy Choo und Tom Ford und Michael Kors. Nicht an Esteban. Niemals an Esteban. Denn im Gegensatz zu Kindheitsfreunden begleiteten die anderen mich durchs Leben. Ich konnte ihren Verlockungen erliegen, ihre glitzernden Kreationen nach Hause tragen und wusste beim Einschlafen, dass sie auch am nächsten Morgen noch da sein würden. Wie die Louboutins. Ich hatte mit mir gerungen, ob ich die fuchsienfarbenen mit den Fesselriemen oder die hochhackigen goldenen Pumps mit der halben D'Orsay-Silhouette wählen sollte. Wegen der messerscharfen Absätze war ich froh, mich für Letztere entschieden zu haben. Vor meinem geistigen Auge stellte ich mir die morgige Schlagzeile vor:
»KILLER-STILETTOS«
Das Foto würde einen gemeingefährlichen Lackabsatz zeigen, der in der Leiche meines Entführers steckte.
Ja, genau so würde es ausgehen, redete ich mir ein.
Atme, Skye. Du musst atmen.
Aber die Luft in dem Sack war schlecht und stickig, meine Lunge dem Kollaps nahe angesichts meines drohenden Verderbens. Erst allmählich begann ich zu begreifen, dass das hier wirklich passierte. Es war real. Wenn man bis dato ein behütetes Leben geführt hat, setzt ein Effekt ein, der einen vor dem Schock schützt und das Gefühl gibt, dass irgendjemand auch in dieser Situation eingreifen wird. Indem ich mich daran festklammerte, schöpfte ich daraus eine Art leichtfertigen Wagemut. Ich wurde geliebt, geschätzt und anerkannt. Ganz bestimmt würde mir irgendjemand zu Hilfe eilen und den Tag retten. Nicht wahr?
Ich hörte, wie der Hahn der Waffe gespannt wurde, und spürte den festen Druck des Laufs an meinem Hinterkopf.
»Warte!« Meine Kehle war wund, meine Stimme heiser, weil ich wie eine Irre geschrien hatte, als ich verschnürt wie ein Wildschwein im Kofferraum meines Autos zu mir gekommen war. Das wusste ich, weil er noch immer nach Tuberose und Sandelholz roch, von dem Parfum, das ich vor ein paar Wochen dort verschüttet hatte.
Der Angriff war auf dem Parkplatz erfolgt. Ich war gerade in mein himmelblaues Cabriolet gestiegen, als er mich herausgezerrt und frontal gegen die Motorhaube geschmettert hatte. Ich hatte gedacht, er würde meine Handtasche, mein Portemonnaie, meine Schlüssel, meinen Wagen nehmen. Vielleicht ein Schutzinstinkt; vielleicht fokussiert man sich automatisch auf das, von dem man will, dass es als Nächstes passiert.
Los, bedien dich und verschwinde.
Doch das war nicht geschehen. Er hatte es nicht auf meine Handtasche, mein Portemonnaie, meine Schlüssel oder meinen Wagen abgesehen. Sondern auf mich.
Es heißt, man sollte besser »Feuer« anstatt »Hilfe« rufen, doch ich bekam weder das eine noch das andere heraus, weil mir der mit Chloroform getränkte Lappen, den er mir auf Nase und Mund presste, den Atem nahm. Die Sache bei Chloroform ist die, dass es einen - anders als in Filmen - nicht sofort bewusstlos macht. Ich trat nach dem Angreifer und wehrte mich eine gefühlte Ewigkeit, bevor meine Arme und Beine erlahmten und es dunkel um mich wurde.
Ich hätte nicht schreien dürfen, als ich zu mir kam. Stattdessen hätte ich nach der Heckklappenentriegelung tasten, die Bremslichter herausdrücken oder irgendetwas anderes unternehmen sollen, was in späteren Interviews bei den Journalisten gut ankommen würde. Aber man kann die Panik nun mal nicht zum Schweigen bringen. Sie ist eine kreischende Furie, die mit Gewalt ins Freie drängt.
Es machte ihn wütend. Das merkte ich, als er anhielt und den Kofferraum öffnete. Obwohl mich das kalte blaue Licht der Straßenlampe hinter seiner Schulter blendete, merkte ich es. Um jeden Zweifel auszuräumen, zerrte er mich an den Haaren heraus und stopfte mir denselben Chloroformlappen in den Mund, mit dem er mich überwältigt hatte.
Ich würgte, als er mich zum Kai schleifte, meine Hände waren noch immer auf meinem Rücken gefesselt. Der süßliche, beißende Geruch war nicht mehr so stark, trotzdem wurde mir übel davon. Fast wäre ich an meinem Erbrochenen erstickt, bevor er den Lappen aus meinem Mund zog und mir einen Sack über den Kopf stülpte. Jetzt schrie ich nicht mehr. Er hätte mich ersticken lassen können, aber er wollte mich lebend, zumindest so lange, bis er erreicht hatte, was er mit meiner Entführung bezweckte. Wollte er mich vergewaltigen? Mich als Geisel nehmen und Lösegeld fordern? Ein ganzes Kaleidoskop schauriger Berichte aus den Fernsehnachrichten und Zeitungen wirbelte durch meinen Kopf. Selbstverständlich hatte ich immer einen Anflug von Mitleid empfunden, aber ich hatte nur den Sender wechseln oder umblättern müssen, um derlei Grauen auszublenden.
Doch dieses Grauen ließ sich nicht ausblenden. Ich hätte mir weismachen können, es wäre nur ein lebhafter Albtraum, wären da nicht die wunden Stellen an meiner Kopfhaut gewesen, wo er mir Haare ausgerissen hatte. Sie brannten wie die Hölle, aber Schmerz war gut. Er bewies mir, dass ich noch lebte. Und solange ich lebte, bestand Hoffnung.
»Warte«, sagte ich, als er mich auf die Knie zwang. »Ich tue alles, was du willst. Aber bitte . töte mich nicht.«
Ich hatte mich geirrt. Er wollte mich nicht lebend. Er würde mich weder einsperren noch ein Lösegeld fordern. Er würde mir nicht die Kleider vom Leib reißen und sich an meinem Leid ergötzen. Er hatte mich einfach nur hierher bringen wollen, wo immer hier sein mochte. Dies war der Ort, an dem er mich ermorden würde, und zwar, ohne es auf die lange Bank zu schieben.
»Bitte«, flehte ich. »Lass mich noch ein letztes Mal den Himmel sehen.«
Ich musste Zeit schinden, feststellen, ob es einen Ausweg gab. Und sollte dies wirklich das Ende sein, wollte ich nicht im Dunkeln sterben, betäubt von den giftigen Dämpfen der Angst und Verzweiflung. Mein letzter Atemzug sollte ein freier sein, erfüllt vom Duft des Ozeans, der Brandung und der Gischt. Ich wollte die Augen schließen und mir vorgaukeln, es wäre Sonntagnachmittag und ich ein zahnlückiges, kleines Mädchen, das mit MaMaLu Muscheln sammelte.
Einen Moment herrschte Stille. Ich kannte weder die Stimme meines Entführers noch sein Gesicht. Es gab kein Bild von ihm in meinem Kopf, es gab nur die dunkle Präsenz, die hinter mir lauerte wie eine riesige Kobra, die jeden Moment attackieren würde. Ich hielt den Atem an.
Er nahm mir den Sack ab, und ich fühlte die nächtliche Brise im Gesicht. Es dauerte einen Moment, ehe meine Augen sich orientiert und den Mond gefunden hatten. Doch dann sah ich sie, die perfekte, silberne Sichel. Es war...