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Holloway
»Wird jemand gehängt?«, fragte ein neugieriger Zeitungsjunge. Er war klein, erst dreizehn Jahre alt und hüpfte auf und ab in dem Bestreben, einen Blick auf die Ursache dieser Vaudeville-Stimmung zu erhaschen. Die Dämmerung hatte kaum eingesetzt, und der Himmel war nur schwach erleuchtet, doch das hatte eine bunt gemischte Meute Feiernder nicht davon abgehalten, sich vor dem Tor des Holloway-Gefängnisses zu versammeln. Die eine Hälfte war früh aufgestanden, die andere Hälfte schien noch nicht im Bett gewesen zu sein.
Viele der Anwesenden trugen ihre Abendgarderobe - die Männer Dinnerjacket oder weiße Krawatte und Frack, die Frauen zitterten in dünner rückenfreier Seide unter ihren Pelzmänteln. Der Junge roch das müde Miasma aus Alkohol, Parfum und Tabak, das sie umgab. Feine Pinkel, dachte er. Er war überrascht, dass sie sich so fröhlich gemeinmachten mit Laternenanzündern, Milchmännern und Frühschichtarbeitern, ganz zu schweigen von dem üblichen Gesindel und den Gaffern, die immer zusammenkamen, wenn es etwas zu sehen gab, auch wenn sie keine Ahnung hatten, worum es sich handelte. Der Junge zählte sich nicht zu Letzteren. Er war lediglich neugierig, ein unbeteiligter Zuschauer bei den Verrücktheiten der Welt.
»Also? Wird jemand gehängt?«, hakte er nach und zupfte am Ärmel des nächsten feinen Pinkels - ein großer rotgesichtiger Mann mit einer halb erloschenen Zigarre im Mund und einer offenen Flasche Champagner in der Hand. Der Junge nahm an, dass der Mann den Abend in makellosem Zustand begonnen hatte, doch jetzt war die steife weiße Brust seiner Weste mit kleinen Flecken und Essensspritzern besudelt und auf seinen glänzenden Lackschuhen klebte Erbrochenes. Eine rote Nelke, welk von den Exzessen der Nacht, hing aus einem Knopfloch.
»Ganz und gar nicht«, sagte der feine Pinkel und schwankte selig. »Es gibt Grund zum Feiern. Old Ma Coker wird entlassen.«
Der Junge dachte, dass Old Ma Coker klang wie eine Zeile aus einem Kinderlied.
Eine Frau in tristem Gabardine zu seiner anderen Seite hielt ein Stück Pappe vor sich wie einen Schild. Der Junge musste den Hals recken, um das Geschriebene lesen zu können. Ein wütender Bleistift hatte die Pappe aufgerissen. Dem Gerechten gereicht sein Erwerb zum Leben, aber dem Gottlosen sein Einkommen zur Sünde. Sprüche 10,16. Der Junge sagte die Wörter lautlos vor sich hin, während er sie las, doch er unternahm keinen Versuch, ihre Bedeutung zu dechiffrieren. Er wurde seit zehn Jahren dazu gezwungen, die Sonntagsschule zu besuchen, es gelang ihm jedoch, dem Thema Sünde nur flüchtige Aufmerksamkeit zu schenken.
»Auf Ihre Gesundheit, gnädige Frau«, sagte der feine Pinkel, hob der Frau gut gelaunt die Champagnerflasche entgegen und trank einen Schluck. Sie schaute ihn finster an und murmelte etwas von Sodom und Gomorrha.
Der Junge schlängelte sich in dem Gedränge ganz nach vorn, von wo er das imposante Tor gut sehen konnte - hölzern mit eisernen Beschlägen, die besser zu einer mittelalterlichen Festung gepasst hätten als zu einem Frauengefängnis. Wenn drei seiner Größe aufeinandergestanden hätten wie die chinesischen Akrobaten, die er im Hippodrom gesehen hatte, dann hätte der ganz oben Stehende vielleicht den Scheitelpunkt des Tors berühren können. Für den Jungen hatte Holloway etwas Romantisches. Er stellte sich vor, dass hinter seinen dicken Steinmauern schöne, hilflose Mädchen gefangen waren und darauf warteten, gerettet zu werden, in erster Linie von ihm.
Um die Aufregung zu dokumentieren, war ein Fotograf der Empire News anwesend, leicht zu erkennen an der Karte, die flott in seinem Hutband steckte. Der Junge empfand verwandtschaftliche Gefühle für ihn - schließlich waren sie beide im Nachrichtengeschäft tätig. Der Fotograf machte ein Gruppenporträt von einer Schar »Schönheiten«. Der Junge wusste von solchen jungen Frauen, denn es war nicht unter seiner Würde, in den Tatlers und Bystanders zu blättern, die er einmal in der Woche in Briefkästen steckte.
Die Schönheiten - eine unwahrscheinliche Erscheinung in dieser Gegend - posierten vor dem Tor. Drei sahen aus, als wären sie in ihren Zwanzigern, und trugen edle Pelze gegen die frühmorgendliche Kälte, die vierte - zu jung, um eine Schönheit zu sein - trug einen Schulmantel aus Kammgarn. Alle vier nahmen elegante Posen wie für Modeaufnahmen ein. Alle schienen vertraut mit der bewundernden Linse. Der Junge war hingerissen. Er ließ sich leicht von weiblicher Form hinreißen.
Der Fotograf schrieb die Namen der Schönheiten in ein Notizbuch, das er aus einer Tasche zog, damit sie in der Zeitung am nächsten Tag wahrheitsgemäß identifiziert werden konnten. Nellie Coker hatte etwas gegen den Bildredakteur in der Hand. Irgendeine Indiskretion seinerseits, vermutete der Fotograf.
»Heda!«, rief er jemand Unsichtbarem zu. »Ramsay, kommen Sie. Stellen Sie sich zu Ihren Schwestern!«
Ein junger Mann tauchte auf, gesellte sich widerwillig zu der Schar und lächelte gequält für den Blitz der Kamera.
Dann wurde ohne großes Tamtam eine kleine Pforte in dem großen Tor geöffnet, eine nicht sehr große, eulenhafte Frau kam heraus und blinzelte dem hellen Licht der Freiheit entgegen. Die Menge jubelte, vor allem die feinen Pinkel, und schrie: »Gut gemacht, altes Mädchen!« und »Willkommen zurück, Nellie!«, doch der Junge hörte auch den Ruf »Isebel!« von irgendwo in der Mitte der Menschenmenge. Er hatte den tristen Gabardine im Verdacht.
Nellie Coker wirkte glanzlos, und der Junge entdeckte nichts von dem an ihr, was er über Isebel gehört hatte. Hinter dem riesigen Strauß weißer Lilien und rosa Rosen, den man ihr in die Arme gedrückt hatte, sah sie nahezu wie eine Zwergin aus. Eine der Schönheiten warf einen großen Pelzmantel um die Schultern der frisch Entlassenen, als wollte sie ein Feuer ersticken. Die Mutter des Jungen hatte Ähnliches getan, als seine kleine Schwester als Baby auf den Kaminrost gefallen war und ihr weites Kleidchen Feuer gefangen hatte. Sie hatten beide überlebt und nur kleine Narben als Erinnerung behalten.
Die Schönheiten scharten sich um sie, umarmten und küssten die Frau - ihre Mutter, mutmaßte der Junge. Die Jüngste klammerte sich nach Ansicht des Jungen auf eine affektierte Weise an sie. Er kannte sich aus mit dem Theatralischen, seine Runde führte ihn zu allen Bühneneingängen des West Ends. Im Palace Theatre ließ ihn der Türsteher, ein gut gelaunter Veteran der Schlacht an der Somme, sich während der Nachmittagsvorstellung umsonst auf die Ränge schleichen. Der Junge hatte No, No, Nanette fünfmal gesehen und war ziemlich verliebt in Binnie Hale, den strahlenden Star des Musicals. Er konnte die Texte von »Tea for Two« und »I Want to Be Happy« auswendig und hätte sie gern gesungen, wäre er darum gebeten worden. Es gab eine Szene in der Show, in der die Tänzerinnen und Binnie (der Junge meinte sie oft genug gesehen zu haben für diese vertraute Anrede) in Badeanzügen auf die Bühne kamen. Es war aufregend skandalös, und dem Jungen fielen bei dieser Szene jedes Mal fast die Augen aus dem Kopf.
Die Kehrseite des freien Eintritts war, dass er sich die ausführlichen Kriegserinnerungen des Türstehers anhören und seine Sammlung Heimatschüsse bewundern musste. Der Junge war ein Jahr alt gewesen, als der Krieg ausbrach, und er bedeutete ihm wie die Sünde noch nichts.
Ramsay, Nellies zweiter Sohn, wurde gedrängt, seiner Mutter die Last des Straußes abzunehmen, und der Fotograf erwischte ihn, wie er die Blumen wie eine errötende Braut hielt. Zum Ärger seiner Schwestern (und zu seinem) zierte dieses Bild die Zeitung am nächsten Morgen unter der Überschrift SOHN DER BERÜCHTIGTEN SOHO-NACHTCLUB-BESITZERIN NELLIE COKER BEGRÜSST SEINE MUTTER NACH IHRER ENTLASSUNG AUS DEM GEFÄNGNIS. Ramsay hoffte auf Ruhm, doch nicht aufgrund der Berühmtheit seiner Mutter. Als Reaktion auf die Blumen musste er niesen, ein Hatschi-hatschi-hatschi in rascher Folge, und der Zeitungsjunge hörte Nellie sagen: »Herrgott noch mal, Ramsay, reiß dich zusammen.« So etwas sagte auch die Mutter des Jungen.
»Komm, Ma«, sagte eine aus der Schar. »Fahren wir nach Hause.«
»Nein«, sagte Nellie Coker bestimmt. »Wir fahren in den Amethyst. Und feiern.« Die Steuerfrau übernahm das Ruder.
Die Menge begann sich aufzulösen, und der Zeitungsjunge setzte seine Runde fort, in gehobener Stimmung, weil er Zeuge von etwas Historischem geworden war. Plötzlich fiel ihm der Apfel ein, alt und verschrumpelt, den er sich als Erstes heute Morgen angeeignet hatte. Er holte ihn aus der Tasche und mampfte ihn wie ein Pferd. Er war wunderbar süß.
Der feine Pinkel mit der Zigarre sah ihn an und sagte: »Tolle Show, was?«, als wäre er wirklich an seiner Meinung interessiert, dann boxte er ihn freundlich gegen den Kopf und schenkte ihm eine Sixpence-Münze. Der Junge tänzelte glücklich von dannen.
Als er sich davonmachte, hörte er jemanden schreien: »Diebe!« Es war ein Ausdruck, der wirklich auf alle hier gepasst hätte außer vielleicht auf den Mann, der die Geschehnisse aus diskreter Distanz beobachtete, vom Rücksitz eines unauffälligen Wagens aus. Detective Chief Inspector John Frobisher - »Frobisher vom Yard«, wie die Zeitschrift John Bull ihn genannt hatte, wenn auch etwas unpräzise, da er gerade an das Revier in der Bow Street in Covent Garden ausgeliehen war, um »den Stall auszumisten«. Dort grassierte Korruption, und er war damit beauftragt, die schwarzen Schafe ausfindig zu machen.
John Bull hatte Frobisher kürzlich gebeten, eine...
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