Schweitzer Fachinformationen
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»Wir kommen jetzt rein«, sagt Ferhat. Er klingt sehr entschieden. Tobias, Sema und Julian tauschen Blicke aus. »Achte auf das Mädel in der Küche«, flüstert Tobias mir ins Ohr, und dann gehen wir rein.
Jetzt sehe ich sie. Sechzehn oder siebzehn, ein zartes Gesicht, kein Kopftuch auf den schwarzen Haaren. Das verwundert mich nicht, die Familie hat nicht mit Besuch gerechnet, schon gar nicht mit fünf Polizistinnen und Polizisten. Der Vater wollte uns erst gar nicht reinlassen, weil seine Frau und Tochter ihre Köpfe nicht bedeckt hielten, wie es sich eigentlich gehört, wenn fremde Männer sie sehen. Er hat uns auch gebeten, die Schuhe auszuziehen, so ist es in vielen muslimischen Haushalten, um den Boden, auf dem gebetet wird, sauber zu halten. Wir müssen unsere Stiefel allerdings anbehalten, um jederzeit einsatzbereit zu sein.
Das Mädchen verschwindet fast hinter dem breiten Rücken des Vaters und gibt keinen Ton von sich. Aber ich sehe ihre Augen und bin sofort alarmiert - die pure Angst. Sie sieht aus, als würde sie im nächsten Moment umkippen. Ihr Vater steht vor ihr wie eine Mauer.
»Wir möchten gerne kurz mit Ihrer Tochter sprechen«, sage ich.
»Warum? Ihr geht es gut. Ich verstehe nicht, was das soll.« Maximale Härte liegt plötzlich in seiner Stimme.
Doch die junge Frau, die den Notruf gewählt hat, hat dem Kollegen gesagt, sie fürchte um ihr Leben - und jetzt sind wir hier, um unseren Job zu machen.
»Wir möchten uns einfach vergewissern, dass alles in Ordnung ist«, erkläre ich dem Mann, der in T-Shirt und Pluderhose vor mir steht. Mir fällt ein, dass ich ihn erst letztens gesehen habe. Er war einer der Beteiligten eines Verkehrsunfalls, den ich aufgenommen habe. Nach einigen Jahren auf diesem Abschnitt sehe ich oft Gesichter, die ich schon kenne, Menschen, denen ich bereits begegnet bin. Er spricht perfekt Deutsch.
Die Kollegen unterhalten sich mit ihm. Sema schließt die Küchentür und lächelt das Mädchen an, wir setzen uns. Meine türkische Kollegin hat warme braune Augen, und obwohl die Uniform, die Schutzweste, die Pistole und der Rettungsmehrzweckstock, auch Tonfa genannt, nicht gerade flauschig wirken, strahlt sie Freundlichkeit aus. Sie hat die Gabe, dass Menschen sich in ihrer Anwesenheit sicher fühlen und ihr vertrauen. Manche denken, als Polizistin müsste man übermäßig ernst und streng sein, gerade als Frau, aber das stimmt nicht. Vertrauen und Mitgefühl wirken wie ein beruhigender Zaubertrank.
»Setz dich erst mal hin«, sage ich zu dem Mädchen. »Du erzählst uns, was los ist, und wir tun unser Bestes, um dir zu helfen.«
Sie hört endlich auf zu zittern und schaut mich an. »Bitte schreiben Sie keine Anzeige gegen meinen Vater«, fleht sie.
»Das kann ich dir leider nicht versprechen, denn das hängt davon ab, was passiert ist. Wir sind hier, um dir zu helfen«, erkläre ich. »Du hängst sehr an deinen Eltern, oder?«
Sie schluchzt und nickt.
Ich stehe auf. Einer der Küchenschränke ist geöffnet. Die Gläser sind fein säuberlich nach Art und Größe geordnet. In dieser Küche liegt nirgendwo ein Staubkörnchen herum. Kurz denke ich daran, dass vermutlich die Mutter und die Tochter hier für Ordnung sorgen.
Ich nehme ein Glas, drehe den Wasserhahn auf, befülle es und stelle es vor dem Mädchen ab. Sie trinkt zwar einen Schluck, aber sie sagt nichts. Ihr Gesicht verzieht sich und sie legt eine Hand auf ihren Magen, atmet stoßweise. Es ist nicht zu übersehen, dass sie Schmerzen hat.
»Ist etwas mit deinem Magen?«, frage ich.
Sie nickt.
»Hast du das öfter?«
Sie nickt wieder.
»Warst du mal beim Arzt?«
Jetzt schüttelt sie den Kopf.
»Meine Eltern haben nie Zeit, und alleine darf ich nicht.«
Draußen vor der Küchentür höre ich die Stimmen meiner Kollegen, die beruhigend auf ihren Vater einwirken. Seine Worte verstehe ich nicht, aber sein Ärger ist nicht zu überhören. Aber ich bleibe in der Küche, ich will hier nicht weg, bevor ich weiß, warum seine Tochter so viel Angst hat.
Plötzlich sprudelt es aus ihr heraus: »Ich kann einfach nicht mehr. Ich habe gar kein Leben. Ich muss alles machen, was mein Vater sagt. Vor zwei Wochen hat er mir verboten, weiter zur Schule zu gehen.«
Sie sei eine gute Schülerin, auf dem Gymnasium in der zwölften Klasse. Biologie und Chemie seien ihre Lieblingsfächer. Wenn sie es sich aussuchen könnte, würde sie Medizin studieren. Aber nun dürfe sie nicht mal mehr das Haus ohne die Begleitung ihres Bruders verlassen. »Ich darf überhaupt nichts. Ich darf keine normale Musik hören. Nur islamische Lieder.«
Ich weiß genau, wovon sie spricht. Eine Tante von mir lebt so, sie ist nach Istanbul gezogen. Nach diesen Wertvorstellungen ist Fernsehen Sünde, Popmusik ist Sünde, und wenn sie einem Mann in die Augen schaut, dann gilt das erst recht als Sünde. Es ist der strenge Glaube und kein Kind kann sich dem entgegenstellen. Ganz egal, ob die Familie in Istanbul oder in Berlin-Neukölln lebt.
»Und was ist heute passiert, warum hast du uns angerufen?«
»Meine Mutter hat herausgefunden, dass ich Facebook und TikTok auf dem Handy habe. Sie wird es meinem Vater sagen, und dann .«, sie schluchzt verzweifelt. »Mein Vater wird mich umbringen. Wegen der Schande.«
Sema schaut mich besorgt an. Wir wissen beide, dass das Mädchen tatsächlich in Gefahr sein könnte. Eine Frau darf die Ehre der Familie nicht beschmutzen. Wenn sie es tut, kann das ihren Tod bedeuten. Bei Ehrenmorden geht es oft um Beziehungen. Aber auch dann, wenn ein Mädchen lediglich ein paar Apps auf dem Handy hat, können die Konsequenzen für sie dramatisch sein.
»Wenn du sagst, dass dein Vater dich umbringt, müssen wir dich mitnehmen. Verstehst du?«
»Aber . Ich kann doch nicht weg«, sagt das Mädchen und schaut uns verzweifelt an.
»Unter diesen Umständen können wir dich nicht hierlassen. Wir bringen dich vorübergehend zum Jugendnotdienst, dann wird das Jugendamt eingeschaltet. Da gibt es Menschen, die dir helfen werden. Wenn du hier wirklich in Gefahr bist, darfst du keinen Kontakt mehr zu deiner Familie haben.«
Sie senkt den Kopf, eine seidige Haarsträhne streift ihre Wange und eine Träne tropft auf den Küchentisch.
Ich weiß, wie groß ihr Kummer in diesem Moment sein muss, und denke daran, wie ich damals von meinen Eltern weggegangen bin - heimlich, um aus der Enge und Strenge auszubrechen. Ich denke daran zurück, wie schwer es mir gefallen ist, weil ich meine Eltern über alles liebe. Mein Vater hätte mir nie ein Haar gekrümmt, aber ich war neunzehn und habe es nicht mehr ertragen, zu keiner Party gehen zu dürfen. Ich denke an dieses Gefühl, das ich hatte, weil für mich vieles verboten war, was für die Mädchen aus meiner Klasse ganz normal war. Nicht mal einen Freund durfte ich haben. Ich wollte einfach nur dazugehören. Damals hatte ich wirklich Angst, dass Freiheit in meinem Leben bloß ein Wort bleiben würde. Ich verstehe, was in dem Mädchen vorgeht, das mir hier gegenübersitzt, und ich lese in Semas Gesicht, dass auch sie mitfühlt.
»Mein Vater will mich verheiraten, aber dann habe ich einen Ehemann, den ich nicht liebe und alles ist genauso wie jetzt. Ich werde kein eigenes Leben haben, und ich werde nie glücklich sein. Dann bin ich zwar weg von meinen Eltern, aber was bringt mir das, wenn ich tun muss, was mein Mann sagt?«
Auch diese Gedanken kann ich nachvollziehen. So wie es momentan aussieht, werden wir das Mädchen mitnehmen müssen. Die Situation in der Wohnung lässt sich ausgesprochen schwer einschätzen.
»Was wird passieren, wenn du bleibst?«
»Ich weiß es nicht, ich habe solche Angst.«
»Und wenn wir dich mitnehmen?«
»Mein Vater wird ausrasten. Mein Bruder auch.«
Ich muss gar nicht mit meiner Kollegin reden, ein Blick genügt und ich weiß, dass wir dasselbe denken. Das Mädchen ist total verängstigt und kann ihr Problem nicht allein lösen. Damit steht unsere Entscheidung fest, wir werden sie mitnehmen und müssen darauf vorbereitet sein, dass Vater und Bruder sich dem widersetzen werden. Sema nickt mir zu und informiert die Kollegen im Flur. Wir fordern Verstärkung an. Fünf Minuten später trifft eine weitere Funkwagenbesatzung ein. »Meine Tochter, meine Tochter!«, schreit die Mutter verzweifelt. Dann wirft sie sich auf die Knie und umklammert die Beine der Siebzehnjährigen.
Die Tür des Kinderzimmers geht auf und zwei Mädchengesichter schauen mit erschrockenen Augen dabei zu, was vor sich...
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