Schweitzer Fachinformationen
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Golineh Atai wurde 1974 in Teheran geboren und kam mit ihren Eltern im Alter von fünf Jahren nach Deutschland. Von 2006 bis 2008 war sie für die ARD als Korrespondentin in Kairo, danach folgten verschiedene Stationen als Redakteurin und Reporterin für "Tagesschau" und "Morgenmagazin". Von 2013 bis 2018 war sie ARD-Korrespondentin in Moskau, derzeit arbeitet sie wieder von Köln aus für den WDR. Für ihre Arbeit wurde sie vielfach ausgezeichnet, u. a. als "Journalistin des Jahres 2014", mit dem Peter-Scholl-Latour-Preis sowie dem Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis.
«Vor fünfzig Jahren lernte ich eine Regel in den Straßen von Leningrad: Wenn der Kampf unvermeidbar ist, dann schlag als Erster zu.»
(Wladimir Putin, 2015)
Im Frühjahr 2018, nach den letzten Präsidentschaftswahlen, so erzählt der liberale russische Oppositionelle Grigorij Jawlinski, habe er sich mit Wladimir Putin getroffen und ihm gesagt: «Wladimir Wladimirowitsch, verstehen Sie, dass wir an einem Punkt angekommen sind, an dem ein Krieg stattfinden kann?» Der Präsident Russlands soll dem Oppositionellen mit einem Lächeln geantwortet haben: «Ja, ich verstehe das. Machen Sie sich keine Sorgen, Grigorij Alexejewitsch. Wir werden den Krieg gewinnen.»
Eine Entgegnung, die uns zwingt, uns nicht mehr länger mit dem Russland zu beschäftigen, das wir uns wünschen, das wir gerne sehen würden und das wir uns lange schöngeredet haben - sondern mit dem Russland, das sich in der dritten Amtszeit Wladimir Putins herausgebildet hat. Mit jenem Russland, in dem ich mehr als fünf Jahre gelebt und gearbeitet habe. Mit jenem Russland, in dem der Gedanke an Krieg, Apokalypse und Sieg allgegenwärtig geworden ist und mit bemerkenswerter Leichtigkeit geäußert wird. Niemand hat Russlands Grenzen in den vergangenen dreißig Jahren angerührt. Aber spätestens seit 2014 wähnt sich der Kreml im Krieg. «Man hätte uns gerne in das jugoslawische Szenario von Zerfall und Aufteilung geschickt», ist Wladimir Putin 2018 überzeugt. «Wir haben erst spät die Waffe gesehen, die ihr, der Westen, entwickelt habt. Und als wir sie sahen, dachten wir, sie käme nur in instabilen, peripheren Ländern zum Einsatz. Dann sahen wir, dass ihr sie auch auf uns richten konntet.», sagt ein Militär.
Von welcher Waffe redet Moskau? Dass im Nachbarland, in der Ukraine, Bürger aufstehen und ein Leben in Würde fordern, interpretiert der Kreml als heimtückischen Angriff des Westens auf Russland. Er traut dem ukrainischen Volk kein eigenständiges Denken und Leben zu, sondern sieht in seiner Forderung nach Würde eine hinterlistige westliche Anstiftung, eine westliche «Informationsoperation» - und einen Versuch, den Präsidenten Russlands von jenem Tisch auszuschließen, an dem die zukünftige Weltordnung verhandelt werde.
Russland sieht sich von Feinden umzingelt. Die Welt soll wissen: Der Präsident hat keine Angst vor dem Krieg. «Wenn jemand die Entscheidung getroffen hat, Russland zu zerstören, dann haben wir das gesetzliche Recht, zu antworten», erklärt Putin einige Wochen vor den Wahlen im März 2018. «Ja, für die Menschheit wäre das eine globale Katastrophe. Aber - als Bürger und Staatschef Russlands - möchte ich fragen: Warum bräuchten wir diese Welt noch, wenn darin kein Russland mehr ist?» Es geht Putin offenbar nicht nur darum, den Gegner zu vernichten, sondern auch darum, ihn in der ewigen Verdammnis zu wähnen: «Jeder Aggressor sollte wissen, dass Vergeltung unvermeidbar ist und dass er vernichtet wird. Wir, als die Opfer der Aggression, gehen als Märtyrer in den Himmel, während der Aggressor einfach krepiert, weil er nicht einmal die Zeit haben wird, seine Sünden zu bereuen.» Ein Satz, der eine Mission offenbart, ein «Wir sind die Guten». Demnach ist Russland im Recht, weil es angeblich die Wahrheit besitzt.
Niemand hat Russlands Grenzen angerührt. Und doch sagt Wladimir Putin, unmittelbar nach dem Maidan-Aufstand in Kiew sei er kurz davor gewesen, die Nuklearwaffen seines Landes in Alarmbereitschaft zu versetzen. Auch ohne eine nukleare Aggression hätte der rote Knopf also gedrückt werden können. «Russland ist die größte Atommacht. Aber nein, mit uns wollte niemand ernsthaft reden. Niemand wollte uns zuhören. Jetzt hört uns zu», fordert Putin 2018 den Westen auf. Offenbar scheint diese Nuklear-Rhetorik für den Kreml der einzige Weg zu sein, ernst genommen zu werden von einem konventionell weitaus mächtigeren Rivalen.
Russland sucht die Konfrontation mit dem Westen. Zu Beginn seiner vierten Amtszeit verkündet der Präsident, dass Russland die neue, «unbesiegbare», atomwaffenfähige Interkontinentalrakete «Avangard» erfolgreich getestet habe; eine Waffe, mit der Russland den USA um Jahre voraus sei, eine Rakete, die nicht abgefangen werden könne und mit der Großstädte und Infrastruktur zerstört werden könnten - ein «hervorragendes Neujahrsgeschenk für das Land», schwärmt Putin. Es wird offen spekuliert, dass sich Moskau im hypothetischen Fall eines NATO-Einsatzes in der Ostukraine oder auf der Krim ohne den frühen Einsatz von Atomwaffen ja gar nicht verteidigen könne. Die Senatoren des Föderationsrates empfehlen Putin 2018, den nuklearen Erstschlag gegen die NATO in der Militärdoktrin zu verankern. Die großen Militärmanöver üben Simulationen begrenzter Nuklearschläge. Das Konzept, zu eskalieren, um eine Aggression zu beenden, ist dabei von zentraler Bedeutung. Grigorij Jawlinski, der alte Liberale, warnt die Öffentlichkeit 2018 mehrfach vor den Sackgassen der russischen Außenpolitik: «Präsident Putin und der Kreml sind der Überzeugung - ich betone, der Überzeugung (.) - dass, wenn notwendig, ein begrenzter Einsatz taktischer Atomwaffen möglich sei. Meiner Meinung nach ist es nicht möglich, sich etwas Gefährlicheres und Falscheres vorzustellen.»
2014 erlebe ich eine Zeitenwende. Der Kreml beginnt, im Namen eines mythischen «Neurusslands» den ukrainischen Staat anzugreifen. Seither erhöht Wladimir Putin den Einsatz, durch Rhetorik und Nadelstiche, bis an den Rand der Konfrontation, wie wir sehen werden. Der Maidan scheint wie der sprichwörtliche letzte Tropfen, um eine «Ideologie der globalen Revanche» vollends auszuformen. Ein ideologisches Projekt, das die politischen Ränder Russlands in die Mitte spült. Jene bizarre, «rotbraune» Minderheit der 1990er Jahre, die damals wie übriggeblieben wirkte - erzkonservative Orthodoxe, Alt-Kommunisten, Imperial-Nationalisten - wird zunehmend zur Triebkraft der patriotischen Mobilisierung. Daher habe ich diesen ultrakonservativen Randfiguren, die nun im Staatsfernsehen auftauchen und sich mit Ministern und Spitzenbeamten treffen, mehr Platz eingeräumt. Sie prägen als Medienunternehmer und Informationskrieger, als Paramilitärs, als Geistliche, Kuratoren und politische Strategen den Zeitgeist der dritten Amtszeit Wladimir Putins. Ihre alten Ideen von der «konservativen Revolution» erleben eine Renaissance, parallel dazu verblasst der Pragmatismus, der Putins erste Jahre kennzeichnete.
Einer meiner letzten Berichte aus Russland dreht sich um die Frage, warum so viele meiner Interviewpartner seit 2014 das Land verlassen haben: Akademiker, Journalisten, Aktivisten, Kulturschaffende, Unternehmer. In den Monaten zuvor habe ich das Gefühl, dass sich die gesellschaftliche Atmosphäre noch weiter anspannt, noch weiter verengt. Orthodoxe Fanatiker reagieren auf einen Film über eine Liebelei des letzten Zaren mit mehreren Brandanschlägen, bei denen wie durch ein Wunder niemand ums Leben kommt. Ein geisteskranker Mann sticht eine kritische Journalistin mit einem Messer nieder. Ein Starregisseur landet in Hausarrest, das Bolschoi-Theater sagt dessen mit Spannung erwartete Aufführung über einen homosexuellen sowjetischen Balletttänzer plötzlich ab. Russlands Parlament weicht die Strafen für häusliche Gewalt gegen Frauen und Kinder auf, weil körperliche Züchtigung ein «wichtiges Recht» sei. Der Oppositionelle Alexej Nawalny verliert in einem Anschlag mit einem Antiseptikum fast sein Augenlicht. Und zum ersten Mal seit dem Ende der Sowjetunion wird ein amtierender Minister zu acht Jahren Lagerhaft verurteilt - in einem absurden Strafprozess, mit dem ein mächtiger Putin-Vertrauter einem Technokraten eins auswischen will. Kurze Zeit später kommen vier Journalisten unter mysteriösen Umständen ums Leben, ein weiterer wird vergiftet.
Niemand ist sicher. Jeden kann es erwischen. Stanislaw Kutscher, selbst Journalist und Filmregisseur, damals Mitglied im Menschenrechtsrat des russischen Präsidenten, macht Wladimir Putin im prachtvollen Alexander-Saal des Kreml auf eine bedrohliche Entwicklung aufmerksam: «Herr Präsident, allein aus meinem Bekanntenkreis sind im letzten Jahr ungefähr zwanzig Menschen ausgewandert. In erster Linie junge Menschen. Die haben das Gefühl bekommen, dass ein kalter Bürgerkrieg läuft. Das Gefühl einer zunehmenden Rückwärtsgewandtheit, die sich nach der Präsidentenwahl nur verstärken wird.» Die Vorfälle der letzten Zeit fühlten sich an wie eine Verfolgungskampagne gegen Andersdenkende, sagt Kutscher. Und das vertreibe viele junge Menschen, darunter die besten, aus dem Land. Der Präsident stimmt zu, dass die Auswanderung ein beunruhigendes Phänomen sei, zumeist aber wiegelt er ab, man dürfe nicht alles in einen Topf werfen. Schließlich antwortet Putin mit einem Whataboutismus, einer für ihn typischen, in der Sowjetunion oft genutzten rhetorischen Technik der Ablenkung auf ausländische, nicht vergleichbare Missstände: «Schauen Sie, was in den USA passiert. Oder in Europa. Brexit, Katalonien, Terror, Flüchtlinge, Gott weiß, was - dort herrscht echtes Chaos!» Darüber denken viele Russen offenbar anders. Die Zahl der Auswanderer hat sich seit 2012, seit Beginn der dritten Amtszeit Putins, verdoppelt. 15 Prozent der Russen säßen auf gepackten Koffern, sagen unabhängige Meinungsforscher kurz vor Putins vierter Wahl. Als Beweggründe nennen die Auswanderer die...
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