Schweitzer Fachinformationen
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Ich bin sieben Jahre alt. Auf dem Randstein balancierend, umrunde ich unseren Hof, die Arme wie Flugzeugflügel waagerecht ausgestreckt. Ich setze einen Fuß vor den anderen und versuche, den Blick nach vorne gerichtet zu halten, denn das hat Marcel mir geraten, immer nach vorne zu sehen, aber nie, nie auf meine Füße. Je mehr Tage vergehen, desto leichter komme ich voran. Am Anfang der Ferien habe ich gerade mal drei Schritte geschafft. Heute umrunde ich mehrmals den kleinen viereckigen Hof des grauen, verwitterten Mietshauses, in dem ich wohne. Ich habe mir vorgenommen, dass ich bis zum Ende des Sommers eine Runde mit geschlossenen Augen schaffe.
Mein Fuß rutscht von der Kante, nur wenige Zentimeter nach meinem vorherigen Rekord. Mit der blauen Kreide aus meiner Hosentasche mache ich einen neuen dicken Strich auf den Stein. Ich werfe mir den Rucksack über die Schulter, drücke mir den Helm auf das lange, braune Haar und fahre mit dem Skateboard vom Hof.
Die Sonne steht schon hoch am Himmel und scheint warm auf meine Arme. Der August hat gerade begonnen, und die Stadt ist wie leergefegt. Manche Geschäfte haben sogar die schweren Rollgitter heruntergelassen, an denen nun Zettel mit den Urlaubszeiten flattern. Alle scheinen weggefahren zu sein. Alle, außer mir. Natürlich wäre ich lieber am Meer, aber es gefällt mir auch, die Stadt für mich allein zu haben. Im Park kommen die Tiere aus ihren Verstecken hervor, besonders die Eichhörnchen, die nun weniger zu fressen finden. Deshalb stecke ich mir abends beim Essen immer ein Stück Brot in die Tasche. Das muss ich heimlich machen, weil mein Großvater es nicht mag, wenn man Essen vergeudet. Er hat den Krieg miterlebt, und Krieg bringt offenbar Hunger.
Ich komme bei meiner Lieblingsbank an, die im Schatten der großen Eiche. Ich mag ihre mächtigen Äste. Bäume geben mir ein Gefühl der Geborgenheit, bestimmt habe ich Marcel deshalb so lieb. Er hat etwas von einem alten knorrigen Baumstamm.
Wie jeden Tag versuche ich, die Eiche mit meinem Armen zu umschlingen. Ich küsse die raue Rinde, deren Duft mich an den alten Holztisch in unserer Küche erinnert. Wenn ich den Stamm eines Tages ganz umspannen kann, werde ich groß genug sein, um fortzugehen.
Doch vorerst bin ich hier, in diesem Park. Ich hole den Kanten Brot aus der Tasche meiner Shorts und werfe ein paar Krumen vor mich auf den Boden. Zwei Tauben kommen vorsichtig näher. Ich beobachte sie, ohne wirklich hinzuschauen. Ich warte.
Plötzlich ist er da. Er trägt ein Käppi und eine grüne Latzhose und schiebt eine Schubkarre voller Blumentöpfe vor sich her.
»Hallo«, sage ich und stelle mich vor ihn.
»Hey, Pretty Billie«, antwortet Ernest mit seiner tiefen Stimme.
Mir läuft jedes Mal ein Freudenschauer über den Rücken. Dass ich Billie heiße, verdanke ich nämlich dieser amerikanischen Sängerin mit der schönsten Stimme der Welt. Billie Pretty. Als ich klein war, hat Marcel mir die Geschichte immer erzählt, wenn ich nicht einschlafen konnte. Und ich habe sie Ernest bei unserer ersten Begegnung erzählt, gleich am Anfang der Ferien.
»Was pflanzt du heute?«, frage ich.
»Schwertlilien«, antwortet er, »Hilfst du mir?«
»Okay.«
Ich mag Blumen gar nicht besonders, aber Ernest mag ich umso mehr. Er bringt Farbe in die Erde und vor allem in mein Herz. Ich weiß nicht genau, wie das funktioniert, aber sobald er den Mund aufmacht, sprudelt ein Regenbogen heraus: Tiefe Töne, und hohe, und alles dazwischen, viele verschiedene Stimmen, die sich miteinander vermischen. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich kunterbunte Schleifen, die sich binden und wieder lösen. Ernest singt allein, aber ich glaube, dass all seine Vorfahren aus ihm sprechen. Und dieser Gedanke macht mir Mut.
Ich begleite Ernest, bis er sich in die Mittagspause verabschiedet. Dann steige ich wieder auf mein Skateboard und singe die Lieder, die ich gerade gehört habe. Zu Hause haben wir kein Radio, keinen Fernseher, und erst recht keinen Computer. Früher hatten wir einen kleinen knisternden Apparat in der Küche stehen, aber der hat letzten Winter den Geist aufgegeben. Er wurde nicht ersetzt.
Zum Glück spielt die Nachbarin von unten jeden Abend eine Stunde lang Klavier. Das verpasse ich um nichts in der Welt. Ich klebe mit dem Ohr am Boden und lausche der Melodie, die zu mir aufsteigt. Schon bei den ersten Noten schwillt mir das Herz in der Brust. Es wird so groß, dass ich es bis im Hals klopfen spüre. Dort drückt es wohl auf irgendetwas, vermutlich einen kleinen See, denn in genau diesem Moment entwischt meinen Augen immer eine Träne und kullert über meine Wange. Musik ist das Einzige, das mich zum Weinen bringen kann.
Marcel ist kein großer Redner, aber er hört mir immer zu, wenn ich etwas zu erzählen habe. Er sagt seine Meinung, ohne sich je aufzuregen, es sei denn, jemand lässt einen Wasserhahn laufen. Da fährt er wirklich aus der Haut, wenn irgendwo Wasser läuft. Kommt er an einem Springbrunnen vorbei, brummelt er in seinen Bart:
»Sollen lieber mal Bäume pflanzen.«
Marcel hasst Schwimmbäder, Aquarien und automatische Rasensprenger. Wasser mag er, wenn es im Meer ist, oder in einer Wolke, oder allenfalls noch in einem Teich. Aber alles andere, nein.
Was er hingegen mag, und zwar so richtig, sind Sonderangebote. Wenn in der Stadt ein neues Geschäft aufmacht, schnappt er mich beim Arm, und wir rasen in seinem alten, einst knallroten C15-Kastenwagen zum Parkplatz des Einkaufszentrums. Marcel hat es dann so eilig, dass wir meistens viel zu früh dort sind.
Wenn die automatischen Türen aufgehen, möchte er als Erster seinen Kopf in den Laden stecken. Bei der Konsumolympiade würde er ohne Zweifel die Goldmedaille gewinnen! Also, wenn es so etwas gäbe.
Auf dem Rückweg spricht er über die Dinge, die er gekauft hat, und er nennt immer den Preis dazu. Marcel kauft nicht drei Paar Socken. Nein, nein. Marcel kauft drei Paar Socken für 25 Franc. Wenn er den Preis nennt, wirkt er immer sehr zufrieden. Jedenfalls für den Moment. Denn am Ende des Monats findet er immer, dass auch Sonderangebote viel zu teuer sind.
An diesem Morgen, auf dem Parkplatz des neuen Geschäfts der Discounterkette GiFi, streichelt die Sonne mein Gesicht. Ich schließe die Augen und lausche der Musik aus den Parkplatzlautsprechern, die durch das heruntergekurbelte Fenster zu mir hereindringt. Es ist die schönste Stimme, die ich je gehört habe.
»Wer ist das, Marcel?«
»Ah, das . das ist Billie Pretty!«
Ich richte mich kerzengerade auf. Es ist das erste Mal, dass ich ein Lied von ihr höre. Ich habe viel nach ihr gesucht, aber es hat zu nichts geführt. Keine Billie Pretty im Plattenladen, keine Billie Pretty im Computer der Schulbibliothek, keine Billie Pretty in den CD-Regalen des Supermarkts. Ich habe Marcel tausendmal angefleht, mir zu helfen, irgendetwas zu tun, aber er deutet nur jedes Mal auf mein Herz und sagt:
»Billie Pretty, die ist da drin!«
Nichts regt mich so sehr auf wie diese Antwort. Ich hätte dann Lust, ihn wie einen Apfelbaum zu schütteln, ihn anzubrüllen, ihm zu sagen, dass ich keine fünf mehr bin. Schlimmer noch, ich würde ihn dann gern an einen Stuhl binden, alle Wasserhähne der Welt aufdrehen und ihn zwingen, das fließende Wasser anzusehen. Aber ich sage nie etwas, weil er alt ist, weil ich nur ihn habe und weil ich nicht noch einmal verlassen werden will.
Ich lasse nicht locker.
»Marcel, bitte erzähl mir die Geschichte von Billie Pretty.«
Er brummt.
»Schon wieder? Ich habe sie dir doch letzte Woche erst erzählt!«
»Bitte .«
»Na gut, na gut. Billie Pretty war die größte Sängerin, die die Welt je gekannt hat. Sie war klein und rund und hatte große schwarze Augen und einen Mund so rot wie mein C15, als er noch knallrot war. Wenn sie sang, konnte niemand mehr traurig sein. Sie war wie ein Regenbogenpflaster, die ersten Kirschen im Frühling, die Lösung aller Gleichungen. Es heißt sogar, der Präsident der Republik habe sie kommen lassen, um bei Verhandlungen die Wogen zu glätten und Kriege zu vermeiden.«
Ich hänge an seinen Lippen. Ich kenne die Geschichte in- und auswendig, aber Marcel gelingt es immer, noch neue Details hinzuzufügen.
»Einmal schallte unser altes Radio durch die ganze Wohnung. Es folgte ein Lied auf das nächste, Odette machte Kreuzworträtsel, ich schälte Kartoffeln, und deine Mutter lag bäuchlings auf dem Fliesenboden in der Küche und las ein Buch. Da begann ein neues Lied, und plötzlich stand Odette auf, ergriff meine Hand und brachte mich zum Tanzen. Ich drehte und drehte und drehte mich um Odette, die meine Sonne war, du weißt es ja, und deine Mama sah uns an wie zwei Verrückte. Als das Lied zu Ende war, hat sie mich gefragt: >Ist das ein Beruf, Leute zum Tanzen zu bringen, Papa?< Und ich habe gesagt: >Ja, das ist ein Beruf! Das ist Billie Pretty!< In der nächsten Woche musste sie in der Schule einen Aufsatz schreiben. Das Thema war: >Was wollt ihr später machen?< Sie hat geschrieben: >Wenn ich groß bin, will ich Bilipriti werden.<«
Ich muss lachen, wie jedes Mal, wenn Marcel mir das erzählt.
»Als deine Mutter erfahren hat, dass Billie-Pretty-in-einem-Wort eigentlich kein Beruf ist, hat sie mir gesagt, wenn sie einmal ein Kind bekommt, nennt sie es Billie.«
Nach diesem Teil der Geschichte reden wir für gewöhnlich nicht weiter. Wir sehen in entgegengesetzte Richtungen und warten, dass irgendetwas passiert. An diesem Tag erlöst uns das...
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