Schweitzer Fachinformationen
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Ein paar Meter weiter steht ein alter apfelgrüner Twingo, ein Rad auf dem Bürgersteig, die Stoßstange an einem Parkverbotsschild. Die rechte Seite ist eingedrückt, Kratzer zieren die gesamte Karosserie. Die Hände in den Hosentaschen lässt Stanislas den Gesamtzustand des Autos auf sich wirken.
»Ich parke nicht mehr auf Parkplätzen«, sagt Sara, während sie das Knöllchen unter dem Scheibenwischer hervorzieht. »Ich hatte die Nase voll von Unfallprotokollen, Unehrlichkeit und Verfahren, die immer mit Mitverschulden auf beiden Seiten enden. Ich mag meine Schuld nicht teilen.«
Die Zentralverriegelung funktioniert nicht mehr, also steckt Sara den Schlüssel ins Schloss, setzt sich auf den Fahrersitz und reckt sich, um Stanislas die Beifahrertür zu öffnen. Auf den Sitzen liegt ein Haufen Zeug: Kleidungsstücke, Papiertüten, leere Wasserflaschen, Bücher, Zeitschriften, eine angebrochene Kekspackung. Und auf dem Armaturenbrett steht die Queen, wackelt mit dem Kopf und winkt.
»Wohnst du hier drin?«
»Irgendwo müsste ein großer Umschlag liegen«, sagt Sara statt einer Antwort und lässt den Motor an. »Vielleicht unter deinem Sitz. Kannst du mal nachgucken?«
Stanislas tastet vorsichtig über den Boden unter seinem Sitz.
»Der hier?« Er hält sein Fundstück hoch.
»Ja.«
»Was soll ich damit machen?«
»Steck ihn in meine Tasche. Okay? Bist du angeschnallt?«
Und ohne seine Antwort abzuwarten, gibt sie Gas.
Sara parkt vor einem dreistöckigen Haus, das ein Rasenstück mit ein paar mickrigen Blümchen seinen Vorgarten nennt. Einige Stufen führen zu einer alten Holztür, neben der drei Klingelschilder hängen. Auf einem steht »Stanislas Gélin«.
Das Gebäude ist schmal und wirkt so, als würde es bald von den mächtigen Häusern links und rechts verschluckt werden. Die Straße ist verwaist. Es ist niemand zu sehen und nicht mal Autolärm zu hören.
»Komm, wir gehen auf den Bürgersteig gegenüber«, schlägt Sara vor.
Sie lehnt sich an eine Mauer, verschränkt die Arme und hebt das Gesicht zum Himmel, um ein paar Sonnenstrahlen einzufangen.
»Und was machen wir jetzt?«
»Wir warten.«
Stanislas zögert einen Moment, dann lehnt er sich neben sie an die Wand.
»Was hat dich zurück nach Dijon verschlagen?«
»Das Leben«, antwortet sie, ohne die Augen zu öffnen.
»Sara .«
»Ich erzähle es dir. Aber nicht jetzt. Es . ich bin noch nicht so weit.«
Ein metallisches Geräusch unterbricht ihre Unterhaltung. Eine alte Dame mit Einkaufstrolley biegt um die Ecke und steuert das Haus an. Sara springt auf und läuft zu ihr.
»Warten Sie, ich helfe Ihnen!«
Dann beobachtet Stanislas, wie sie den Trolley mit einer Hand ergreift, die Stufen hochstürmt, die Einkäufe abstellt, zurückgeht, eine Lauchstange einsammelt, wieder raufgeht, dann wieder runter, der alten Dame den Arm bietet, jeden ihrer Schritte auf jeder Stufe begleitet, extralangsam geht, sich zur Langsamkeit zwingt, lächelt, zusieht, wie die alte Dame den Schlüssel ins Schloss steckt, geduldig wartet, lächelt, ihr die Tür aufhält, hinter ihr ins Haus geht, wieder herauskommt, Stanislas heranwinkt, lautlos »Beeil dich« und »dritte Etage« mit den Lippen formt, während sie nach oben deutet, und wieder verschwindet.
Er tut, wie ihm geheißen. Er weiß nicht, warum, aber er tut es. Seit er Sara wiedergetroffen hat, tut er alles, was sie von ihm verlangt. Er steigt die Treppe hinauf und zählt dabei die Stufen. Es gibt ihm Sicherheit. Also zählt er. Dann steht er vor der Wohnungstür und kurz darauf gesellt sich Sara zu ihm.
»Und jetzt? Was tun wir?«, fragt er.
»Ich habe ein YouTube-Video gesehen«, sagt sie und fährt nachdenklich mit der Hand über die Tür.
»Dreipunktschloss, Einbruchschutz und Sicherheitsgriff«, murmelt sie fachmännisch.
»Und?«
»Die Tür ist nicht abgeschlossen«, behauptet sie im Brustton ahnungsloser Überzeugung.
Dann holt sie den großen Umschlag aus ihrer Tasche, zieht etwas heraus, und Stanislas erkennt, dass es eine Röntgenaufnahme ist. Sara atmet tief durch und schiebt das Röntgenbild zwischen Türzarge und Schloss, während sie gleichzeitig gegen die Tür drückt. Nach einigem Ruckeln springt die Tür auf.
»Und wenn die Tür abgeschlossen gewesen wäre? Was hätten wir dann gemacht?«
»Keine Ahnung. Ich mache nie eine Wenn-Liste.«
Stanislas misst sie mit dem Blick. Er macht Listen. Und zwar ständig. Er hat sogar eine Liste mit Listen, die er gern anlegen würde. Und Wenn-Listen sind seine Spezialität. Die vielen Wenns machen ihn immer total verrückt, und manchmal hindern sie ihn daran, eine Entscheidung zu treffen. Denn, was wenn? Was, wenn er diese Route nimmt, statt einer anderen, und ihm dann ein Ast auf den Kopf fällt? Was, wenn er seine Mutter bittet, ein Paket für ihn abzuholen, und dann wird sie auf dem Weg von einem Auto angefahren? Was, wenn er spontan einer Konzerteinladung folgt, und dann dringt dort ein Amokläufer ein und tötet alle? An diese Eventualitäten denkt er manchmal. Oft.
Sie stehen auf der Schwelle, trauen sich aber nicht, einzutreten. Das Parkett könnte knarzen, und dieses Geräusch würde sie daran erinnern, dass sie gerade ein Tabu brechen. Doch durch die Stille ihres Zögerns dringt das Tick-Tack einer Wanduhr, und Stanislas wagt den ersten Schritt. Denn dieses Geräusch hasst er. Es erinnert ihn an die langen, langen Sonntage seiner Kindheit, an die unendlichen Stunden, in denen die Zeit stillzustehen schien. Das Ticken einer Wanduhr und das Dröhnen von Formel-1-Wagen, die Stunde um Stunde im Kreis fahren, das bringt ihn an den Rand einer Panikattacke.
»Wir fassen nichts an, okay?«
»Ja klar«, sagt Sara und stellt schnell ein Holzkästchen wieder hin.
Das Wohnzimmer ist nicht sehr groß. Es gibt ein rotes Sofa, einen blauen Sessel und gelbe Kissen. Das Ensemble balanciert auf dem schmalen Grat zwischen gutem und schlechtem Geschmack, dieser Grenze, die jene festlegen, die für andere entscheiden. Auf dem weißen Holzcouchtisch liegen ein paar Zeitschriften, die Regale quellen über vor Krimskrams und Nippes. Der Nutzen dieses Zeugs hat sich Stanislas nie erschlossen.
»Er war wohl nicht sehr gesprächig«, sagt Sara.
»Wie kommst du darauf?«
»Da, sieh mal, ein Saxophon.«
»Ja und?«
»Keine Ahnung, hast du schon viele Unterhaltungen mit Saxophonmundstück im Mund geführt?«
»Nein. Aber ich spiele auch kein Saxophon. Es wäre schön dämlich, mir extra ein Mundstück in den Mund zu stecken, um mich zu unterhalten.«
Sie funkelt ihn an, lange, dann dreht sie ihm den Rücken zu.
Stanislas setzt seine Erkundung fort und geht zum Kühlschrank. Er betrachtet die Grußkarten an der Tür: Geburten, Hochzeiten, eine Postkarte aus Thailand, eine aus Südfrankreich. Außerdem hängt da ein Streifen aus einem Fotoautomaten, ein Mann und eine Frau, sie mit kurzer Bobfrisur und langen Eyeliner-Strichen. Das muss Émilie sein.
»Ein junges Paar«, sagt Sara, die die vier Fotos über seine Schulter hinweg betrachtet. »Weniger als ein Jahr Beziehung.«
»Das glaube ich nicht.«
»Doch, klar. Hier, das Datum. Das war vor sieben Monaten. Siehst du, wie er sie auf dem letzten Foto ansieht? Außerdem küssen sie sich auf dem ersten Foto. Wenn ein Pärchen sich schon beim ersten Blitz küsst, heißt das, sie sind so verliebt, dass sie verdrängen, dass ihr Verhalten völlig albern ist. Wenn ein Pärchen sich erst auf dem letzten Foto küsst, dann heißt das, sie sind am Ende angekommen und denken: >Ach ja, wie wär's, wenn wir uns für das hier küssen?< Dann ist es der Verstand, der sie daran erinnert, was von ihnen erwartet wird.«
»Sie ist schwanger .«
»Man muss nicht ewig zusammen sein, um ein Kind zu machen.«
Sara öffnet den Kühlschrank.
»Champagner. Tausend Dinge zu feiern. Weniger als ein Jahr Beziehung.«
In einem Regal in einer Ecke des Wohnzimmers entdeckt Stanislas ein großes Glas. Darin stecken Hunderte gleichformatige Zettel. Sehr darauf bedacht, das Glas nicht zu berühren, angelt Stanislas mit den Fingerspitzen ein Papier heraus. Es ist ein Lottoschein vom letzten Jahr, mit sechs angekreuzten Zahlen. Er steckt wieder die Hand ins Glas, dieser Schein ist vom Samstag, 14. September 2013, die gleichen sechs Zahlen. Er fischt noch einen heraus, und noch einen.
»Sara, sieh dir das an!«
Sie kommt und sagt schnippisch:
»Ich dachte, wir wollen nichts...
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