Schweitzer Fachinformationen
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Montag, 18. September 1950
Eine leicht wabernde Nebelwand lag über dem Wittmoor und hielt die Kälte fest am Boden. Oberhalb des Nebels herrschte klare Sicht auf den funkelnden Sternenhimmel und den Mond, der hell herableuchtete. Das Moor war im Osten durch dichten Mischwald begrenzt und stach aus der herbstlichen Landschaft heraus wie eine verdorrte Oase.
Ein heiser geschnurrtes, gedehntes "Chrüüüh" ließ den schmächtigen Mann am Waldrand kurz zusammenzucken.
"Chrüüüh" kam es ein zweites Mal aus der Finsternis hinter ihm. Es war lange her, dass er dieses Geräusch gehört hatte. Eine Schleiereule. Aus dem nebelverhangenen Moor kam der gleiche Ruf wie eine Antwort auf den ersten.
Der Mann stand unter den Bäumen und rauchte mit zitternden Fingern seine Eckstein zu Ende. Er war froh, dass es keinen Krieg mehr gab und er die Zigarette allein zu Ende rauchen konnte. Das Teilen seiner Lieblingsmarke mit den Kameraden war schlimm für ihn gewesen. Dass er diese jüdische Marke so liebte, hatte sein Bruder nie verstanden. Hastig nahm der Mann einen letzten Zug. Dann warf er die Zigarette auf den Boden, wo sie im nassen Morast mit einem leisen Zischen erlosch.
Nervös schaute er sich um. Seine müden Augen suchten den Rand des Moores ab, dort wo der Nebel flüchtig war. Die Kälte krabbelte wie winzige Ameisen an der Innenseite seiner dünnen Hose empor. Seine Handflächen rieben schnell aneinander, aber die Finger blieben klamm und steif.
In seiner Nase kribbelte es und der stechende, beißende Geruch überquellender Latrinen war wieder präsent. Der Blick wurde schummrig und verschwommen, allmählich teilte sich das Moor vor seinem geistigen Auge und ein karger, sandiger Platz erschien. Die Häftlinge liefen zum Morgenappell herbei. Er hörte die gellenden Schreie der Kapos und sah die nur aus Haut und Knochen bestehenden Geschöpfe sich im Gleichschritt auf den Appellplatz zwischen den Baracken zubewegen. Tausende Menschen kamen wankend aus den steinernen Gefangenenunterkünften hervor. Sie waren noch nicht tot. Mit vor Angst verzerrten Gesichtern versammelten sie sich auf dem großen freien Platz inmitten der Unterkünfte. Unter dem Gebrüll der Kapos bemühten sie sich, still zu stehen. Der elektrische Zaun war nicht weit entfernt. Sehnsuchtsvolle Blicke. Dahinter lag die Freiheit. Nur ein kleiner Sprung.
Der Mann am Waldrand vertrieb die Erinnerung mit einem heftigen Kopfschütteln und schlug den löchrigen Kragen des Mantels hoch. Die Hände wanderten tief in die Taschen. Mit Unbehagen sah er auf die sich nur schwer auflösenden Nebelschwaden und fragte sich, wie spät es inzwischen war. Mitternacht musste schon vorbei sein, schätzte er, denn die Uhr seines Vaters hatte er bei einem Handgemenge im Lager verloren.
Die Feuchtigkeit der vermodernden Pflanzen war durch die dünnen Schuhe längst an seine Füße gelangt und hatte sich wie ein nasser Wischlappen auf die abgemagerten Zehen gelegt. Der faulige Geruch kroch unangenehm in seine Nase. Seine linke Hand holte ein rostiges Zigarettenetui aus der Manteltasche und öffnete es. Es war leer. Stumm ließ er es wieder in den Mantel gleiten. Der Kopf rutschte in den Mantelkragen hinein, die Schultern fielen nach vorne und der Blick suchte den Nebel ab.
Die Schleiereule schrie erneut ihr heiseres "Chrüüüh". Aus den Tiefen des Waldes antwortete ein anderes Geschöpf der Nacht mit einem kraftvollen Jaulen.
Ein Wolf? Seit mehr als 150 Jahren hatte es keine Wolfssichtung in dieser Gegend gegeben. Sein Großvater hatte ihm berichtet, dass er als Kind einmal auf eine Wolfsfährte gestoßen war.
Die feuchte Moorlandschaft lag vor ihm wie ein verlassener Friedhof. Er hatte viele Orte kennengelernt, an denen man Menschen begraben hatte. Bilder von Skeletten tauchten vor seinem Auge auf. Zerlumpte Menschen hockten zwischen den Toten und streckten ihm die Hände entgegen. Sie waren zu schwach zum Sprechen, zu ausgemergelt zum Essen und doch zu lebendig, um zu sterben.
Seine Finger zitterten unkontrolliert in den ausgebeulten Taschen des Armeemantels, der sein persönliches Andenken an den Krieg war. Er drehte sich zu dem verrosteten rosa Damenfahrrad, das neben ihm an einer Fichte lehnte. Ein sanfter Windhauch kam durch den Nebel herüber und kitzelte seine Nase. Eine Hand umklammerte den Lenker des Rades. Kurz darauf hörte er das schmatzende Geräusch von Stiefeln, die sich durch den Schlamm wühlten und mit jedem Schritt etwas tiefer einsanken. Die Tiere verstummten.
Er starrte auf die sich oberhalb der Baumwipfel verflüchtigende Nebelwand und ließ den Blick dann zu Boden gleiten. Unscharfe Figuren erschienen hinter dem Nebel, sie schwebten über dem Boden und kamen langsam auf den Mann mit dem Damenrad zu. Allmählich lösten sich die feinen Umrisse aus der Dunkelheit und traten durch den wabernden Vorhang. Sie wurden zu menschlichen Silhouetten.
Der Mann am Waldrand stieß einen leichten Seufzer aus und spannte die Schultern an. Er blieb an seinem Platz und wartete, die zitternden Hände um den Lenker des Fahrrads geklammert.
Schwarze Schatten kamen langsam durch das Moor näher, ihre Gesichter waren nicht zu erkennen. Aber er erkannte die Waffen, die über ihren Schultern hingen, Sturmgewehre der Wehrmacht vom Typ 44.
Seine Kehle war ausgetrocknet und Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Die Soldaten kamen näher. Vier von ihnen hatten eine Hand auf dem Gewehr. Der Fünfte trug keine sichtbare Waffe. Er war der Anführer der Gruppe und ging geradewegs auf den Mann unter den Birken zu.
Mit einem kurzen Blick über die Schulter wies er seine vier Gefolgsleute an, stehen zu bleiben und zu warten. Mit festen Schritten näherte er sich dem Waldrand und blieb vor dem Mann mit dem Fahrrad stehen. Er zog die Handschuhe aus und steckte sie hinter die silberne Gürtelschnalle. Ein Totenkopf leuchtete im Licht des Mondes auf.
"Hallo, Heinrich. Du siehst krank aus."
Er streckte ihm die Hand entgegen. Heinrichs Finger hatten sich fest um den Lenker geschlungen. Er starrte den Mann in der dunklen Militäruniform an. Seit dem Lager war viel Zeit vergangen. Das einst schwarze Haar lugte weiß unter der Uniformmütze hervor.
"Hallo, Hermann", flüsterte Heinrich mit sterbender Stimme und ergriff zitternd die ausgestreckte Hand.
Ein kurzer, kräftiger Händedruck, dann fuhr der Oberkörper von Hermann herum und er gab seinen vier Begleitern ein Zeichen. Sie verließen die Nebelgrenze vollständig und traten an ihnen vorbei in den dunklen Wald.
"Du bist damit hergekommen, Bruder?", fragte Hermann und zeigte auf das klapprige Fahrrad.
Heinrich nickte stumm. Hermann musterte ihn. Er legte seinen rechten Arm um die Schulter seines Bruders, doch der war irritiert über die vertrauliche Geste und zog sich zurück.
"Wir nehmen es mit."
Hermann steckte zwei Finger in den Mund und ließ einen kurzen Pfiff ertönen. Einer der Soldaten kam zurück, packte das Fahrrad mit einer Hand und trug es über der Schulter in den Wald.
Schweigend folgten sie den vier Wehrmachtssoldaten in den bewaldeten Teil des Wittmoors. Sie wanderten immer tiefer in den Wald hinein. Das Mondlicht war keine Hilfe mehr. Einer der Gefolgsleute hatte eine Taschenlampe und eine Karte in den Händen. Er beleuchtete den Weg. Ein zweiter Soldat hielt einen kleinen Kompass direkt vor sich. Ab und zu gab er dem Kameraden mit der Lampe Anweisungen zur Korrektur der Richtung.
Vom Boden stieg die Feuchtigkeit zwischen den Baumstämmen empor und schlang sich um Heinrichs Körper wie ein nasser Lappen. Die Füße waren fast taub. Seinem Bruder schien die Kälte nichts auszumachen. Er bewegte sich frisch und kraftvoll durch den Wald.
Nach einem Marsch von etwa einer halben Stunde kamen sie auf eine Lichtung, an deren nördlichem Ende sich ein großer Hügel erhob. Darauf schoben sich meterhohe Birken in den Himmel. Zwei der Soldaten rissen mit den Händen Blätter und Äste herab.
Die beiden ungleichen Brüder standen stumm nebeneinander und beobachteten die Arbeit. Hermann griff in die Seitentasche seines sauberen schwarzen Mantels und holte ein glänzendes Etui hervor. Er öffnete es. Es war gefüllt mit Filterzigaretten. Er hielt es Heinrich entgegen, doch der schüttelte den Kopf. Hermann nahm sich eine Zigarette, zündete sie an und ließ das schimmernde Etui wieder in die Manteltasche gleiten.
Unterdessen kamen die Männer schnell voran. Eine von Efeu, Moos und dunkler Patina überwucherte Stahltür markierte den Eingang ins Innere des Hügels. Heinrich erkannte, was es war. Ein Bunker. Der Soldat, der den Kompass getragen hatte, nestelte kurz an seinem Hemdkragen und streifte ein Band mit einem dicken Schlüssel über den Kopf. Er fingerte an dem Schloss der massiven Tür herum.
"Was machen wir hier?", fragte Heinrich mit dünner Stimme und sah seinen Bruder an. Hermann warf die eben frisch entzündete Zigarette auf den Boden und trat sie mit dem vom Moor matschigen Stiefel aus. Er legte ihm erneut den Arm um die Schulter und zog ihn etwas fester an sich. Heinrich versuchte, sich zu entziehen, doch Hermann war kräftiger. Die Augen des älteren der beiden Riedel-Brüder strahlten im Dunkeln voller Vorfreude.
Es quietschte und Heinrich sah, wie die Soldaten gemeinsam und unter großer Kraftanstrengung die verwitterte Stahltür aufzogen.
"Warte ab, du wirst es gleich sehen!", verkündete Hermann mit leuchtenden Augen und gab seinen Leuten ein Zeichen, die Lichtung zu sichern. Zwei Kameraden postierten sich vor dem Zugang, einer sicherte den Weg ins Moor ab, der vierte platzierte sich am südlichen...
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