Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
»Ich bin Dichter. Ich lebe einen Roman.«1 Es mutet etwas seltsam an, diese Zeilen ausgerechnet in den Tagebüchern Andreas Baaders zu lesen, sind doch Dichtung und Literatur nicht unbedingt die ersten Dinge, die man mit ihm assoziiert. Das hat weniger damit zu tun, dass er einer der führenden Köpfe der Roten Armee Fraktion war, die sich in den 70er Jahren mit Gewalt in die westdeutsche Geschichte einschrieb. Schließlich war auch Ulrike Meinhof beides (und in dieser zeitlichen Abfolge): zunächst eine angesehene öffentliche Intellektuelle, danach eine Terroristin. Anders als bei Meinhof, der die Eigenschaft einer Intellektuellen in zahlreichen Medienberichten und Spielfilmproduktionen nicht abgesprochen wurde, entstand durch genau diese Berichte und Darstellungen das Bild von Andreas Baader als einem völlig anti-intellektuellen und im Grunde bildungsfernen Macho. In diesem Bild tritt er meist in Gestalt eines gutaussehenden Mannes in Lederjacke auf, der die Frauen in seiner Gruppierung beschimpft, cholerisch herumbrüllt und dabei mit der Knarre fuchtelt. Bewegtbildaufnahmen des realen Andreas Baader gibt es allerdings relativ wenige, und Tonbandaufzeichnungen, auf denen seine Stimme, sein Sprechen, seine Wort- und Begriffswahl zu hören sind, wurden erst Jahrzehnte nach seinem Tod publik, als Bänder mit Aufnahmen aus dem Stammheim-Prozess zufälligerweise im Archiv gefunden wurden. Nicht wenige waren damals überrascht, einen eher ruhig, gleichförmig und eben kaum cholerisch sprechenden Mann zu vernehmen. Seine Stimme hatte einen warmen Klang, keinen schrillen; er nuschelte ein wenig und sprach nicht im Kommando-Stakkato. Dokumente wie diese Tonbandaufnahmen - von Tagebüchern ganz zu schweigen - waren lange Zeit nicht verfügbar, was in Verbindung mit den entsprechenden Filmen der Unterhaltungsbranche die Tradierung des Bildes eines »dümmliche[n] Dandy[s]«2 oder »Schießen-ist-Ficken-und-Ficken-ist-Schießen-Monster[s]«3 deutlich begünstigt haben dürfte.
Doch tatsächlich spielt Literatur, spielen das Lesen und Schreiben eine überraschend große, ganz entscheidende Rolle in Andreas Baaders Gefängnistagebüchern des Jahres 1968/69. Diese bestehen aus insgesamt elf Büchern und Kladden, die er im Jahr seiner ersten Haftunterbringung und in Zusammenhang mit dem sogenannten »Brandstifterprozess« verfasst hat. Er begann mit dem Tagebuchschreiben, als er am 4. April 1968 in Frankfurt am Main verhaftet wurde - einen Monat vor seinem 25. Geburtstag und keine zwei Tage nach den Brandanschlägen gegen zwei Frankfurter Kaufhäuser. 14 Monate später kam er wieder auf freien Fuß. Den Tage- und Notizbüchern aus dieser Zeit lässt sich entnehmen, was und wie er damals dachte - und wie sich sein Denken allmählich veränderte. Im Rahmen dieses Buches werden sie zum ersten Mal als eine historische Quelle verwendet und ausgewertet. Wie sich herausstellt, waren jene Monate in Haft für Baader nicht nur eine Zeit der autobiografischen Besinnung und der intensiven Beschäftigung mit Literatur in einem sehr weiten Sinne. Es war auch eine Zeit der theoretischen und ideologischen Hochrüstung und der Gewaltbefähigung.
Nochmals elf Monate nach seiner Entlassung war Baaders Gesicht auf Fahndungsplakaten zu sehen und er einer der (unfreiwilligen) Namensgeber der »Baader-Meinhof-Gruppe«, die sich ihrerseits bald darauf Rote Armee Fraktion (RAF) nennen würde. In der Frage, wie es dazu kommen konnte, bieten seine Tagebücher und Notizhefte einen neuen Anlass, den Zeitraum des Kaufhausbrandprozesses in den Blick zu rücken und die Verbindungslinien zum historischen Linksterrorismus in der Bundesrepublik nachzuzeichnen, die sich von dorther ergaben - und nicht aus der allgemeineren Protestbewegung der 60er Jahre heraus, an der Andreas Baader ohnehin nur kurz und eher als ein Outsider beteiligt gewesen war. Gleichwohl blieben diese Tagebücher - aufgrund der teilweise sehr subjektiven und persönlichen Notizen Andreas Baaders - unverständlich, würde man sie nicht auch im lebensgeschichtlichen Zusammenhang sehen. Von hier aus betrachtet, fanden während der 14 Monate in Haft für Andreas Baader Biografie, Theorie und Ideologie in einer Weise zueinander, die gemeinhin als Radikalisierung bezeichnet wird: als die Entwicklung »radikale[r] Ideen« und der zunehmenden »Bereitschaft, gewaltsame Taten direkt zu unterstützen oder sie zu begehen«, insofern sie der Umsetzung solcher »Ideen« dienen.4
Andreas Baader, geboren 1943 in München, war der einzige Sohn eines promovierten Kunsthistorikers und einer Gerichtssekretärin. Seinen Vater, der als Frontsoldat 1945 in russische Gefangenschaft geriet und danach als verschollen galt, lernte er nie kennen. Er wuchs bei seiner alleinerziehenden Mutter auf, größtenteils in München-Schwabing, unterbrochen nur durch einen längeren Internatsaufenthalt im Alter zwischen 12 und 13 Jahren. Seine Mutter, die ihn auf Privatschulen und ins Internat schickte, ließ sich die schulische Bildung ihres Sohnes einiges kosten. Noch vor dem Abitur brach er seine Schullaufbahn jedoch als Oberschüler ab. Danach geriet er tatsächlich auffällig oft wegen Verkehrsdelikten mit der Polizei in Konflikt, was in der bisherigen biografischen Literatur Grund zu der Mutmaßung gab, er habe es womöglich von früh an als Kränkung empfunden, »sich irgendeiner Lehr- und Prüfungssituation auszusetzen - und wäre es nur die einer Fahrschule.«5 Doch ganz unabhängig von seinen persönlichen Motiven lässt sich Andreas Baader auch als Bildungsverlierer der »langen Sechzigerjahre« ansehen. Diese Bezeichnung hebt die »soziale Aufwärtsmobilisierung auf mehreren Ebenen«6 der Jahre 1958 bis 1973 als eigene Epoche hervor, deren stärkste Trägerelemente ein sich ausdehnender Freizeit- und Konsumsektor sowie das gleichfalls von einem Expansionsprozess erfasste Bildungssystem waren. Die bereits in den 50er Jahren sich abzeichnenden Kapazitätsgrenzen der Hochschulen regten zwar schon damals Strukturreformdebatten an, doch erst nach dem sogenannten »Sputnik-Schock« (1957) verbanden sie sich zusätzlich mit Fragen nach der Integrationsfähigkeit und sozialen Durchlässigkeit des deutschen Bildungssystems.
Unter diesen Umständen hätte es dem Sohn eines Kunsthistorikers allein aufgrund des kulturellen Kapitals, über das er von familiärer Seite her verfügte, eigentlich leichtfallen sollen, sich von der losgetretenen Reform- und Expansionswelle im Bildungssektor sozial nach oben tragen zu lassen. Während er aber vom Internat aufs Privatgymnasium und schließlich noch auf eine Kunstschule geschickt wurde, um letztlich dennoch ohne Abschluss zu bleiben, vergrößerte sich um ihn herum die Zahl der Bildungsaufsteiger zusehends. So wurde aus ihm ein Bildungsverlierer, ein »titelloser Erbe«.7 Das erklärt zum Teil, weshalb es ihm später, in Haft, mit seiner deutlich gesteigerten literarischen Produktivität auch darum gegangen sein könnte, einen »Rückstand aufzuholen«.8 Er hätte in dieser Situation durch den Bildungseifer, den er plötzlich an den Tag legte, auch eine soziale Kluft überbrücken können, die im Zuge der Bildungsexpansion zwischen ihm und den meisten seiner damals gleichaltrigen Weggefährten und -gefährtinnen entstanden war.
Einige Passagen in Baaders Tagebüchern erinnern tatsächlich ein wenig an den klassischen Bildungsroman. Nur zieht hier keiner in die weite Welt hinaus, um Erfahrungen zu machen, an denen er reifen wird, sondern alles spielt sich im Knast ab. Las er etwa Wittgenstein, hatte er das Gefühl, als setzte er sich »auf ein Pferd«, um damit »über Mauern [zu] setz[en].« Oder es ließ ihn ein Nachruf auf die damals erst kürzlich verstorbene taubblinde Schriftstellerin Helen Keller eine Parallele erkennen: Auch er sei im Gefängnis »wach«, wenn er »Briefe lese, wie ein Blinder hört. Das Geheimnis Helens: Sie erfand die Welt. Etwas ähnliches geschieht hier.«9 Solche und andere Bildsamkeitsmotive, auf die man in Baaders Tagebüchern stößt, vor allem dieses seltsam verstiegene Verhältnis zum geschriebenen Wort, das sie durchzieht, stehen ganz sicher in einer Verbindung mit dem durch die Haft gegebenen gestörten Raum- und Zeitempfinden und der gesteigerten Aufmerksamkeit für die eigene Wahrnehmung. Wer den Großteil des Tages zwischen den engen vier Wänden seiner Zelle verbringt, der konzentriert sich gezwungenermaßen mehr auf sein Innenleben. Und alles, was »innere Bilder« auslösen kann, wie z. B. Texte das tun, wirkt umso intensiver. Insbesondere die Lektüre eigentlich sehr abstrakter Texte, wie etwa sprachphilosophischer Abhandlungen Wittgensteins, schildert Baader teilweise als eine dermaßen sinnliche Erfahrung, dass man das...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.