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Wir beginnen unsere Untersuchung zum Gemeinsinn mit einigen Bemerkungen zur Wort- und Begriffsgeschichte. Während die Geschichte des Wortes bis in die Antike zurückführt, hat der Gebrauch des Begriffs «Gemeinsinn» im politischen Diskurs eine viel kürzere Geschichte, die nur bis zur Französischen Revolution zurückreicht. Anschließend geht es um Menschenbilder und Beziehungsgrammatiken. Diese werden darauf hin untersucht, ob sie eher dazu tendieren, Distanz, Schranken und Grenzen zwischen Menschen und Gruppen zu errichten, oder ob sie mit gemeinsinnigen Strukturen vereinbar sind.
Das deutsche Wort Gemeinsinn taucht als Übersetzung des lateinischen sensus communis zuerst im späten 17. Jahrhundert auf.[1] (Auf den Schöpfer dieses Begriffs und seinen Beitrag zur Gemeinsinn-Geschichte werden wir noch ausführlicher zurückkommen.) Das Wort hat mehrere Ursprünge, die wir hier als sensus communis 1 und 2 unterscheiden.[2] Die erste Bedeutungstradition verdanken wir Aristoteles. Sie geht auf seinen Begriff der koine aisthesis zurück, der lateinisch mit sensus communis übersetzt wurde. Mit diesem Begriff erfand Aristoteles einen sechsten Sinn, der zu den bekannten fünf Sinnen hinzukommt. Die fünf Sinne, mit denen jeder Mensch ausgestattet ist, ermöglichen die sinnliche Wahrnehmung der unmittelbaren Umgebung durch die drei Nah-Sinne Berühren, Schmecken und Riechen, sowie der weiteren Umgebung durch die beiden Fern-Sinne Sehen und Hören. Zu diesen kommt nun nach Aristoteles noch ein sechster Sinn hinzu, der die Daten der anderen fünf Sinne zu einer «gemeinsamen Wahrnehmung» zusammenführt.
Neben diesem sechsten Sinn des Aristoteles hat sich eine zweite Bedeutung von sensus communis etabliert, die sich auf das bezieht, «worin man sich praktisch mit allen Menschen verbunden fühlen und ungefragt eins wissen kann» (Tilman Borsche). Bei dieser Bedeutung steht nicht die psychische Wahrnehmung, sondern die soziale Übereinkunft mit anderen Menschen im Mittelpunkt. Sie gilt vor allem seit der Aufklärung als eine notwendige Grundlage aller individuellen Wahrnehmung. Englische und schottische Philosophen wie Shaftesbury, Hutcheson und Hume haben diese sozialanthropologische und intersubjektive Variante des common sense im 18. Jahrhundert aufgegriffen und weiterentwickelt.
Diese angelsächsische Tradition hat wiederum die deutsche Aufklärung stark beeinflusst. An den common sense, der im Französischen mit bon sens[3] und im Deutschen mit «gesunder Menschenverstand» übersetzt wird, schließt sich auch Kants Analyse des Geschmacks «als einer Art von sensus communis» in seiner Kritik der Urteilskraft an. In den Paragraphen 40/41 zeigt er die unhintergehbare Sozialität unseres Interesses am Schönen und unserer Geschmacksurteile auf. Kants Paragraphen zum Gemeinsinn sind ein Locus classicus und das wichtigste Portal geworden, durch das Philosophen bis heute in das Diskursfeld des Gemeinsinns eintreten.
«Gemein» bedeutet hier: Wir teilen etwas mit anderen; dadurch, dass andere genauso oder ähnlich denken, bestätigt sich eine alltägliche Ratio, die zwar nicht von Philosophen anerkannt wird, aber, nicht weniger wichtig, von Mit-menschen. Was ich denke, ist somit verallgemeinerbar, ich kann damit auch andere erreichen und mich auf die Unterstützung anderer verlassen. Es ist beruhigend zu wissen: Ich liege nicht ganz falsch, ich bin nicht schräg oder verrückt. Orwell hat Verrücktheit einmal definiert als eine «Minderheit einer Person»: «Lunacy is a minority of one».[4] Die Denktradition des Gemeinsinns zeigt: Es kann politisch, gesellschaftlich oder kulturell von Vorteil sein, mit anderen übereinzustimmen.
Eine weitere Bedeutung des sensus communis, auf die wir uns im Folgenden beziehen werden, geht auf Cicero und Seneca zurück. Sie sind zwei herausragende römische Vertreter der griechischen Tradition der Stoa. Ihnen ging es nicht nur um die Idee eines guten Lebens, sondern auch um eine verantwortungsvolle gute Regierung und die gegenseitige Unterstützung der Bürger. Vor diesem Hintergrund haben sie den Aristotelischen Begriff sensus communis ins Moralische und Politische erweitert. So entstand eine dritte Bedeutung dieses Begriffs im Sinne von mitmenschlicher Tugend. Sensus communis steht damit nicht mehr nur für gemeinsame Wahrnehmung und Wissensformen im weitesten Sinne, sondern auch für das Engagement von Bürgern und die Verfassung der Gesellschaft. Diesen Gehalt der stoischen Tradition, der sich auf die Pflichten des Individuums gegenüber seinen Mitmenschen bezieht, hat später Herder in seinen Briefen zur Beförderung der Humanität mit neuer Bedeutung aufgeladen.
Ganz allgemein gesprochen umfasst Gemeinsinn das, was allen gemeinsam ist. Das kann sich auf zweierlei beziehen: Gemeinsam ist, was allen gehört im Sinne von «Allmende», aber auch: was sich für alle gehört und von ihnen gefordert ist, im Sinne von humanen Tugenden und Pflichten. Dieser Begriff umfasst zudem die gemeinsamen Neigungen und Bedürfnisse. Deshalb ist Kants Hinweis auf die irreduzible Sozialität des Menschen, die sich im Geschmacksurteil zeigt, so brillant. Die Sozialität des Menschen führt nicht nur zu Rechten und Pflichten, Forderungen und Zumutungen, sondern drückt sich auch in menschlichen Neigungen aus wie dem angeborenen Sinn für Schönheit, den mitzuteilen ein genuines anthropologisches Bedürfnis ist. Hier noch einmal die unterschiedlichen Bedeutungen von Gemeinsinn im Überblick:
Die Formen des Gemeinsinns
Sensus communis 1: Der sechste Sinn, der die Informationen der anderen fünf Sinne zu einer gemeinsamen Wahrnehmung zusammenführt (Aristoteles)
Sensus communis 2: Der gesunde Menschenverstand, den wir mit anderen Menschen teilen (schottische Philosophen und Immanuel Kant)
Sensus communis 3: Die sozialen Pflichten, die wir gegenüber unseren Mitmenschen haben (Cicero, Seneca und die Stoa)
Nach dieser ersten Übersicht über die Begriffsgeschichte werden wir uns in diesem Kapitel auf Bedeutungskomponenten des Wortes «Gemeinsinn» und einschlägige Parallel-Begriffe konzentrieren. Zunächst ist wichtig zu klären, wofür jeweils genau das Kernelement in Begriffen wie Gemeinschaft, Gemeinsinn oder Gemeinwohl steht. Das Wort «gemein» kommt als Adjektiv und als Präfix (wie in Gemein-sinn) vor und wird auf das althochdeutsche Wort gimeini, «zuteil geworden», «bestimmt», «gemeinsam», «gemeinschaftlich», «allgemein», «übereinstimmend», «zugleich», zurückgeführt.[5] In der Funktion des Adjektivs entwickelte sich später aus dem Begriff des Gemeinsamen, das allen zukommt, die pejorative Nebenbedeutung von «niedrig, niederträchtig» (vgl. engl. mean).
Als Gegensatz von «gemein-» kann «eigen-» (aus ahd. eigan) gelten, das sich in vieler Hinsicht ganz ähnlich verhält. Auch «eigen» kommt als Präfix vor (z.B. Eigen-sinn, Eigen-schaft usw.) und als Adjektiv und hat in beiden Verwendungen verschiedene Bedeutung: 1. eigen = enges Besitzverhältnis, 2. eigen = besonders, schwierig, eigenartig, seltsam, davon abgeleitet «Eigenheit» (im Sinne eines Alleinstellungsmerkmals), «Eigenart».
Die Begriffe «Gemeinsinn» und «Gemeinwohl» klingen so gut zusammen, dass man leicht übersieht, dass das Präfix «gemein» jeweils auf die Übersetzung eines ganz anderen lateinischen Wortes zurückgeht: «Gemeinsinn» ist die Übersetzung von sensus communis, «Gemeinwohl» ist die Übersetzung von salus publica....
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