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Hadscha
Man sagt, der Mensch habe sein Schicksal in der Hand, aber das ist eine Lüge. Meist ist das Schicksal bloß die Spitze eines Speers, den jemand mehrere Generationen zuvor abgeworfen hat. Ich bin überzeugt, dass Imans Schicksal mit dem Blut geschrieben wurde, das ich bei der Geburt seiner Mutter Zainab verlor, meiner Tochter. Hätte Zainab ihm doch nur eine gute Mutter sein können. Hätte sie doch nur irgendetwas sein können, und sei es sie selbst. Ich erinnere mich noch gut an die mitleidigen Blicke bei ihrer Geburt. Das war lange bevor ich den Namen Hadscha annahm, als ich selbst noch ein halbes Kind mit einem strahlenden Lächeln war. Ich erinnere mich noch gut an die Glückwünsche, die die Traurigkeit nicht zu vertreiben vermochten. Allah hat mir zwei Kinder geschenkt. Das erste starb bei der Geburt, bekam gemäß der Tradition aber trotzdem einen Namen, denn es hatte seinen ersten Schrei ausgestoßen, bevor es von uns ging. Ein paar Jahre später, 1965, kam Zainab nach einer langen Nacht voller Schmerzen und Wehklagen zur Welt. Die Familie hatte es mir verheimlichen wollen, aber ich hatte einen Traum gehabt, der es mir verriet: Mein Mann, der Vater meiner beiden Kinder, würde nicht mehr zurückkehren. Imans Schicksal ergibt sich aus dem Zusammentreffen dieser beiden Ereignisse: Younous’ Tod und Zainabs Geburt. Mein Mann kam nicht mehr zu mir zurück, nur ein Sarg mit seinem Leichnam. Wir hoben ihn heraus, um ihn in der nackten Erde zu bestatten. Ich erkannte Younous in dem steifen, kalten Körper nicht wieder, dem der Geruch des Jenseits anhaftete. Während wir ihn wuschen und ihm das Gewand anzogen, das er bei seinem Tod getragen hatte, denn er war im Zustand der Weihe gestorben, begriff ich, dass der Körper, den wir wuschen und anzogen, bloß eine leere Hülle war. Younous selbst war in Mekka geblieben, wo der endlose Zug der Gläubigen ihn weiterhin tottrat und ihm wieder und wieder das Leben nahm. Ich weiß nicht, ob er gelitten hatte oder ob er schon vor Erschöpfung gestorben war, bevor er zu Boden ging. Bevor unzählige Füße ihn niedertrampelten. Ich selbst habe gelitten. Aber nur kurz. Dann sah ich in Zainabs Augen, und darin las ich, dass Younous über mich wachte. Fortan litt ich nicht mehr. Ich weinte und klagte nicht mehr, und ich war nicht mehr wütend, denn Gott ist gerecht. Er kennt keine Grausamkeit. Wer ungerecht handelt, tut dies aus einem der folgenden drei Gründe: Er weiß nicht, dass er Böses tut – aber Gott weiß alles. Er will ein lebenswichtiges Bedürfnis stillen – aber Gott hat keine Bedürfnisse. Oder jemand anderes hat ihn zum Bösen verleitet – aber Gott ist allmächtig, und niemand kann ihn zu irgendetwas verführen. Deshalb ist Gott gerecht, und alles, was er tut, hat einen tiefen Sinn. Er schenkt oder nimmt uns einen geliebten Menschen, er füllt unsere Bäuche oder lässt uns hungern. Ich weiß nicht, für welches Gebet Younous sein Leben gegeben hat, aber ich wusste, dass es meine Pflicht war, seine Tochter aufzuziehen. Ich kümmerte mich nicht nur deshalb um Zainab, weil sie meine Tochter war und ich sie liebte, sondern vor allem auch, weil ich auf diese Weise ihrem Vater Ehre erwies. Für ihr Wohl zu sorgen war meine Pflicht. Eine Mutter, die ständig jammert und klagt, lehrt ihre Tochter bloß Traurigkeit. Deshalb lächelte ich nach Zainabs Geburt nur noch. Ich lächelte, als wir Younous’ Leichnam in Empfang nahmen, ihn wuschen, abtrockneten, ankleideten und die Schahada für ihn beteten. Ich lächelte, als sein Leichnam, der nach Tod und Verwesung roch, weil wir Gesicht, Hände, Knie und Füße nicht mit Kampfer eingerieben hatten – das ist verboten, wenn jemand auf der Pilgerreise stirbt –, zum Friedhof gebracht wurde und Männer ihn in das Grab hinabließen, ihn auf die rechte Seite betteten und sein Gesicht nach Mekka ausrichteten. Und selbst danach lächelte ich, während der dreitägigen Trauerzeit, als ich in unserem Haus saß und die Frauen empfing, während Younous’ Brüder im Haus des Nachbarn die Männer empfingen, und ich mit geschlossenen Augen der wiederkehrenden Beileidsbekundung lauschte, »möge Allah deine Belohnung vergrößern, deinen Trost bessern und deinem Verstorbenen vergeben«, worauf ich jedes Mal »Amen« antwortete. Und auch wenn mir ein paarmal die Tränen kamen, weinte ich auf würdevolle Art und Weise, stumm und ohne Wehklage, denn der Prophet (Allahs Frieden und Segen seien auf ihm) lehrt uns, dass der Tote in seinem Grab für das Weinen der Lebenden büßt.
»Wir gehören Gott, und zu Ihm kehren wir zurück.« Younous ist tot, und auch ich werde eines Tages sterben. Zainab ist die Einzige, die bleibt. Zainab ist meine Pflicht.
Es gibt eine Geschichte von einem Zimmermann, der ein geschickter Handwerker war. Jetzt war er alt und wollte sich zur Ruhe setzen, um seinen Lebensabend im Kreise der Familie zu genießen. Sein Chef war traurig, weil er einen guten Handwerker verlor, und bat ihn um einen Gefallen: Er sollte noch ein letztes Haus bauen. Nachdem sich der Zimmermann vergewissert hatte, dass es tatsächlich sein letzter Auftrag sein würde, ließ er sich darauf ein, aber er dachte nur an seinen Ruhestand und war nicht mit dem Herzen dabei. Er verwendete schlechtes Holz und arbeitete nachlässig. So beendete er sein Berufsleben auf unrühmliche Weise. Nach getaner Arbeit rief der Zimmermann seinen Chef und zeigte ihm das fertige Haus. Dieser überreichte ihm einen Schlüssel und sagte: »Bitte schön. Das Haus ist mein Abschiedsgeschenk an dich.« Der Zimmermann war wie vor den Kopf geschlagen. Wenn er gewusst hätte, dass er sein eigenes Haus baute, hätte er sorgfältiger gearbeitet.
Ich werde nicht denselben Fehler machen, ich weiß, dass Zainab mein Haus ist. Sie ist meine letzte Bleibe, und ich hoffe, dass sie einst meinen Leichnam waschen wird, so wie ich den ihres Vaters gewaschen habe.
Üblicherweise trauert eine Witwe vier Monate und zehn Tage. In dieser Zeit verlässt sie das Haus nur im Ausnahmefall. Eine Schwangere trauert hingegen bloß bis zur Geburt ihres Kindes. Da Zainab einen Tag nach dem Tod ihres Vaters zur Welt kam, konnte ich nicht um Younous trauern. Die fehlende Trauerzeit trug ich den Rest meines Lebens als Leere mit mir herum. Während ich versuchte, dieses Loch zu füllen, so wie man einen hungrigen Magen füllt, musste ich hilflos mit ansehen, wie um mich herum alles zerstört wurde, was Younous aufgebaut hatte. Jeden Morgen, wenn ich mit dem Waschkrug in der Hand aus meinem Zimmer trat und die Stufen zum Hof der Familie hinabging, hob ich die Augen zum Himmel und fragte mich, welcher Teil von Younous mir wohl heute entrissen werden würde.
Alles begann am siebten Tag nach der Beerdigung. Mehrere Familienmitglieder aus anderen Teilen des Landes waren eingetroffen, und man versammelte sich im Wohnzimmer eines Onkels. Die Männer wollten Younous’ Besitz untereinander aufteilen. Die Palmenplantage, Younous’ Haus auf dem Hof der Familie, die Moschee, mit deren Bau er begonnen hatte, die er aber nicht mehr hatte fertigstellen können, und natürlich seine Frau. Die Verhandlungen hatten gegen Mittag begonnen und gingen bis tief in die Nacht, sie wurden nur zu den Gebeten und zum Abendessen unterbrochen. Immer wenn einer der Männer vor die Tür trat, berichtete er vom Stand der Dinge. Über das Haus war bereits entschieden worden. Wakil, der jüngere von Younous’ Brüdern, würde es erben. Es war das Haus, in dem ich lebte. Die Moschee würde die Dorfgemeinschaft übernehmen, denn keiner aus der Familie wollte für ihren Weiterbau zahlen. Über die Ehefrau war aus Gründen der Pietät noch nicht gesprochen worden, aber alle wussten, dass Oumar, Younous’ älterer Bruder, mir bald Avancen machen würde. Das Problem war die Plantage. Sie hatte ursprünglich Younous’ Vater gehört. Als Younous das staubige Stück Land erbte, hatte sich niemand groß dafür interessiert, aber Younous hatte das Land urbar gemacht, und mittlerweile lieferte es reiche Erträge. Jetzt stritt man sich über die Frage, an wen das Land gehen sollte.
Tatsächlich wäre Younous’ Tod nur eine Welle im weiten Meer gewesen, wäre da nicht die Plantage gewesen. Schneller noch als die Nachricht von seinem Tod hatte sich die Kunde verbreitet, dass das Grundstück zu vergeben war – wie Samen, die von einem Schwarm Krähen fortgetragen werden. Die Samen waren in den Köpfen von Younous’ Halbbrüdern aus einer früheren Ehe seines Vaters gekeimt. Die vier Halbbrüder hatten seit Langem vergeblich versucht, zu Wohlstand zu kommen. Nun tauchten sie mit ausgestreckter Hand und gefletschten Zähnen bei uns auf, und alle vier hatten es auf die Palmenplantage abgesehen. Aber jeder wollte das gesamte Grundstück! Eine Aufteilung kam nicht infrage, angeblich warf ein Viertel des Landes nicht genug Ertrag ab. Da die vier schon in jungen Jahren mit dem Vorhaben, reich zu werden, losgezogen waren und sich in unterschiedlichen Teilen des Landes niedergelassen hatten, waren sie einander völlig fremd. Sie hatten keinerlei Wohlwollen füreinander. Eine Aufteilung der Plantage war ausgeschlossen! Die Halbbrüder...
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