Schweitzer Fachinformationen
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Das Gesicht in die Sonne gestreckt wie eine Katze, saß Moira Summers auf dem Oberdeck des Dreiundzwanziger-Busses - es war der erste richtig warme Tag im Jahr. Sie spürte, wie der Bus ruckelte, als er sich den Mound hinaufquälte. Den Blick aus dem Dreiundzwanziger hatte sie immer schon besonders gemocht: rechts das Castle, schwarz und aus Stein gehauen, wobei es schien, als würde es aus den ausschlagenden Bäumen in den Princes Street Gardens emporwachsen. Links die New Town mit ihrem klug angelegten Straßennetz. Im Sonnenschein sahen das Kaufhaus Jenners und das Balmoral Hotel aus wie vergoldete Pralinenschachteln, und das Scott Monument wirkte wie aus einem Modellbaukasten zusammengesetzt. Alles unwirklich.
Widerwillig drückte Moira die Klingel, erhob sich von ihrem Sitz, ging den Mittelgang entlang, kletterte im schaukelnden Bus die Treppenstufen hinunter und stieg an der National Library of Scotland aus. Die doppelflügelige Eingangstür des Bibliotheksgebäudes wurde von einer Gruppe Schulkinder belagert. Moira war angespannt. Sie war hergekommen, um in der Bibliothek in Ruhe für ihr Open-University-Examen zu lernen. Doch schon bei dem Gedanken, an einem so schönen Tag im dunklen, bedrückenden Lesesaal zu sitzen, machte sich ein düsteres Gefühl in ihr breit. Und wenn auch noch eine ganze Schulklasse im Lesesaal herumlief, würde sie so gut wie nichts schaffen.
»Stellt euch zu zweit auf!« Die junge blonde Lehrerin stand oben an der Eingangstreppe. »Zu zweit, zu zweit!«, rief sie den Teenagern zu, die sie nicht beachteten. Die Schülerinnen und Schüler waren um die dreizehn Jahre alt; allerdings konnte Moira in letzter Zeit das Alter von Kindern immer schlechter schätzen. Sie hielt sie stets für jünger - ihr eigener Sohn, Ryan, war zwanzig, und obwohl er wie ein Mann aussah, war er in ihren Augen zehn. Höchstens. War die Zeit so schnell vergangen?
»Zu zweit!«, rief die Lehrerin wieder. Auch sie sah jung aus. Moira dachte an ihren Ehemann, Jackie: Er war Lehrer gewesen, als sie sich zum ersten Mal begegneten. Jahrzehntelang hatte er Kinder in diesem Alter in Sport unterrichtet, und sie malte sich aus, dass er dabei ähnlich geklungen hatte wie die Lehrerin. Sie versuchte, ihn sich vorzustellen: den jungen Mann, der er gewesen war, als sie sich kennenlernten - aber vergebens. Es ist noch nicht so lange her, dachte sie. Ich will ihn noch nicht verlieren.
Moira blinzelte die aufsteigenden Tränen weg, und da wurde ihr plötzlich bewusst, dass die junge blonde Lehrerin über sie redete. Sie zeigte - einen schweren türkisfarbenen Ring an einem Finger ihrer Hand - die Treppe hinunter auf Moira. »Kinder, die Frau will in die Bibliothek.«
Moira schrak zusammen. »O nein, nicht doch!«, rief sie über die Köpfe der Kinder hinweg. Dann lachte sie - denn es stimmte ja. Sie wollte nicht. Immerhin stellten die Kids sich auf eine Seite der Treppe.
Moira zauderte. Der Ring an der Hand der Lehrerin sah aus wie diese bunten, zuckersüßen Dauerlutscher, nach denen Ryan im Eckladen gebettelt hatte, damals, als er wirklich zehn gewesen war. Die Kinder vor ihr schienen keine Ähnlichkeit mit ihm zu haben - auch nicht mit den Kindern, mit denen er zur Schule gegangen war. Vor allem die älteren wirkten heutzutage viel tougher, irgendwie schlauer. Die Mädchen, die auf den Stufen vor ihr warteten, trugen alle die gleichen schwarzen, elastischen Leggings, die kurzen Röcke darüber saßen so eng, dass Moira sehen konnte, welches Mädchen Spitzen- und welches Feinrippunterwäsche trug. Sie kam sich gleichzeitig vor wie eine Voyeurin und prinzipienfeste Oma.
»Wir gehen jetzt rein!«, rief die Lehrerin über die Köpfe der durcheinanderredenden Kinder hinweg.
Die Jungen oben auf der Treppe aus falschem Marmor schubsten einander und drängelten. Moira sah, dass einer einen langsamen, kalkulierten Blick über die Schulter warf und dann mit seinem ganzen Gewicht einen kleineren Jungen, der auf der Stufe darunter stand, anrempelte. Der große Junge hielt sich am Geländer fest, damit er nicht fiel - aber sein Opfer verlor die Balance und stürzte auf die Steintreppe.
»Jason!« Die junge Lehrerin rief den Namen offenbar nicht zum ersten Mal. Moira zuckte zusammen und betrachtete den Jungen, der jetzt, alle viere von sich gestreckt, auf den Stufen lag. Noch so ein Jason, dachte sie. Die Schlimmen heißen immer Jason, hatte Jackie oft gesagt.
Moira wandte sich von der Treppe und der Bibliothek ab und ging rasch ein paar Schritte, bis sie das Gekicher der Mädchen mit den engen Röcken hinter sich gelassen hatte. Sie dachte an die Mutter des Jungen - daran, mit welcher Laune ihr Sohn später vermutlich nach Hause kommen würde: missmutig, stumm die Treppe hinaufstapfend, ohne sie anzusehen. Hatte auch diese Mutter aufgegeben, danach zu fragen, was mit ihm los war? Nahm auch sie mittlerweile an, dass dies der Mann war, zu dem ihr Sohn heranwachsen würde? Und vermutete auch sie, in Momenten schamloser Ehrlichkeit, dass ihr eigenes Verhalten daran schuld sein könnte?
Wieder blinzelte sich Moira das salzige Brennen aus den Augen: Hör auf damit. Immerhin war sie drauf und dran, das Lernen zu schwänzen, und es war so ein schöner Tag. Genieß ihn doch.
Auf der anderen Straßenseite sah sie einen Sandwich-Shop mit orangefarbener Fassade, kaum mehr als ein Raum, in dem zwei, drei Personen stehen konnten. Moira ging hinein und bestellte ein Sandwich mit Bacon, Salat, Tomaten und Mayo. Wie altmodisch, dachte sie, während sie in der Auslage die Sandwiches mit Quinoa, Hummus und Granatapfelkernen betrachtete. Den kleinen Imbiss in einer braunen Papiertüte, schlenderte sie dann hinauf zum Greyfriars Kirkyard.
Der Kirchhof war ein beliebter Picknickplatz: Büroangestellte in schicken Klamotten saßen allein oder zu zweit auf dem Rasen, einige hatten ihre Schuhe ausgezogen. Ein Grüppchen schoss Fotos vom Grab von Greyfriars Bobby und fügte Stöckchen zu dem bereits bestehenden kleinen Haufen von Stöckchen hinzu: Geschenke für das Hundegespenst. Moira wandte sich von der Kirche ab und ging auf dem gekiesten Weg weiter. Ihr Atem stockte. Vor ihr leuchtete ein schlanker, kräftiger Goldregen: Die strahlend gelben Blüten hingen so dicht, dass sich die Zweige anmutig hinabbogen. Unfassbar, dass niemand hier war, um dies zu fotografieren. Sie holte ihr Handy hervor und machte selbst ein paar Bilder. Sie wurden dem wirklichen Anblick des Baums nicht gerecht.
Mit ihrem Lunch in der Hand bückte sich Moira, setzte sich unter die Goldregenzweige ins Gras und lehnte sich an den Stamm. Kein sonderlich bequemer Platz, aber im Sonnenlicht, das durch die kanariengelben Blüten fiel, fühlte sie sich geschützt und geborgen. Als ob sie in ihrer eigenen Minikathedrale säße oder - Moira lächelte - in einer dieser Schneekugeln aus Plastik. Sie aß ihr Sandwich und blickte über den Kirchhof. Viele der Grabsteine waren verfallen, nachdem sie jahrhundertelang dem berühmten Edinburgher Horizontalregen getrotzt hatten. Einer war mit der Vorderseite auf das Grab gestürzt. Doch an weniger dem Wetter ausgesetzten Stellen waren immer noch ein paar filigran gemeißelte Wasserspeier, geflügelte und grinsende Totenschädel und Stundengläser zu sehen . und hin und wieder sogar ein Engel. Die reicheren Edinburgher Familien besaßen Mausoleen - halb im Gras versunkene gusseiserne Gitter schützten die unterirdischen Kammern, in die seit Jahren kein Sterblicher mehr einen Fuß gesetzt hatte.
Lautes Gelächter schallte über den Kirchhof. Moira hob den Kopf. Ein Junge, ungefähr in Ryans Alter, saß auf dem Dach eines der Mausoleen und ließ die Beine über dessen Eingang baumeln. Ihm gegenüber balancierte ein Mädchen mit hellen Haaren, den Rücken Moira zugekehrt, auf einem Grabstein. Sie hatte sich dem Jungen entgegengestreckt, um ihm etwas zu reichen, und es war auf den Gehweg gefallen. Die Stimmen der beiden hallten über den Friedhof: das Lachen zweier Menschen, die ziemlich betrunken waren, vielleicht auch high von irgendwelchen Drogen. Moira beobachtete, wie der Junge langsam von seinem Platz herunterkletterte; den vorsichtigen Schritten auf dem Kies nach zu urteilen, trug er keine Schuhe. Das Etwas, das er aufhob, war weiß, und er hielt es in beiden Händen wie ein Kätzchen. Eine Fish-and-Chips-Tüte. Er ging über den Weg, reichte die Tüte seiner Freundin und lehnte offenbar gleichzeitig deren Angebot zu teilen ab. Die beiden strahlten: erhellt vom Sonnenschein, umrahmt von den wehenden gelben Blütenzweigen und jung, so unfassbar jung. Der Junge blieb neben dem Grabstein stehen und massierte dem Mädchen die Füße, während sie aß. Selbst aus dieser Entfernung erkannte Moira, dass der Junge, abgesehen von den nackten Füßen, teuer und schick gekleidet war. Die Sonne spiegelte sich in seiner Brille. Die Flipflops, die das Mädchen abgestreift hatte, lagen im Gras nahe der Stelle, wo ihre Mahlzeit heruntergefallen war. Im Stillen dankte Moira ihren ruhigen Händen, die ihr Sandwich in der sauberen braunen Tüte festhielten.
Sie verließ den Kirchhof wie benommen; außerhalb des Kokons aus Goldregen wirkte alles zu grell. Sie wandte sich nach rechts und kam an Läden vorbei, deren Schaufenster für den Sommer dekoriert waren: Sonnenhüte, Schals aus Gaze, Zehensandalen mit bunten Strasssteinen. Ich gehe zur Arbeit, dachte Moira. Aber es war fast ein Jahr her, dass sie vorzeitig in Rente gegangen war - zwei Jahre, seit Jackie gestorben war und seine Lebensversicherung ihr das erlaubt hatte -, und sehr viel länger, seit sie hier...
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