Schweitzer Fachinformationen
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Meine Zeiten des Zeichnens
Ich stehe in meinem Sonntagsanzug am Rand der Tanzfläche. Auf der anderen Seite sitzt Sabine in gerüschtem Flieder. Ich bin nicht gerade ein Draufgänger, aber heute fasse ich mir ein Herz. Den halben Abend nehme ich nun schon meinen Mut zusammen. Jetzt trete ich entschlossen den Weg über die Tanzfläche an. Ich bin fast da - als wie aus dem Nichts Moritz auftaucht und mir zuvorkommt.
Was war bis dahin passiert? In Kürze: Franz und Nikola hatten sich kichernd aus dem Saal geschlichen. Daniela und Malte hatten den größten Streit ihrer zweiwöchigen Beziehung - und Thorsten war schuld. Und kurz bevor ich den Weg über die Tanzfläche antreten werde, haben sich Sven und Nadine hinter dem kalten Buffet zum ersten Mal geküsst. Mit Zunge. Das erklärt nicht, warum aus mir und Sabine nie etwas geworden ist, aber während ich meine Courage Stück für Stück zusammenkratze, hatte ich all das beobachtet. Ich konnte nicht nicht beobachten. Dafür gab es nie einen Ausschalter. Das mit den Frauen habe ich später auch noch herausbekommen. Aber das Beobachten wurde der Schlüssel zu einer wahrlich großen Liebe: dem Zeichnen.
Beobachten heißt lernen, zeichnen heißt verstehen. Das hat das vorherige Kapitel gezeigt. Wir haben gesehen, wie Menschen auf Basis dieser Fähigkeit ganze Disziplinen vorangetrieben haben. Nun geht es darum, was diese große Geschichte des Zeichnens mit meiner persönlichen, kleinen Geschichte gemein hat. Denn das ist schließlich die Frage, die sich jetzt eurerseits stellen muss. Nun, nach meiner Erfahrung ist die Entwicklung im Kleinen immer ein Echo der großen Ereignisse. Wenn ich meinen eigenen Lebenslauf und das Zeichnen darin anschaue, trifft das ganz bestimmt zu. Deswegen wage ich hier das Experiment, die Struktur des ersten Kapitels als Blaupause auf dieses Kapitel über mein eigenes Leben zu legen: am Anfang ein intuitives, noch unbeholfenes Ausprobieren; eine Explosion; eine Ausbreitung des Zeichnens auf fast alle Lebensbereiche.
Jetzt wird es also persönlich. Nicht nur für mich - ich erzähle schließlich aus meinem Leben -, sondern auch für euch: Denn nun geht es vor allem darum, was einen zum Zeichen motiviert. Und Motivation ist etwas ziemlich Persönliches. Nachdem ich euch im ersten Kapitel gezeigt habe, wie sich das Zeichnen als Alltagsinstrument in der großen Geschichte immer wieder neu erfunden und nützlich gemacht hat, geht es nun um euch und mich. Wie nützt mir das Zeichnen in meinem Leben? Ein paar kleine Motivationsepisoden dazu gab es ja schon in Kapitel 1. Die gehen hier weiter. Ergänzend dazu ist dieses 2. Kapitel im Grunde eine Aufzählung von Momenten, in denen das Zeichnen mir in meinem Leben nützlich war. Mal beschafft es mir den nächsten Job, mal gibt es mir neues Selbstvertrauen. Solche Momente wünsche ich euch auch. Und hoffe, dass ich euch mit meiner kleinen Geschichte inspirieren kann, eure eigene Motivation zu finden, um mit dem Zeichnen anzufangen - befreit vom Mythos des Talents. Einfach nur für euch selbst.
Kurzvita Yadegar Asisi
Geboren 1955 in Wien als Sohn persischer Eltern, Kindheit und Jugend in Halle and Leipzig
1973-1978
Architekturstudium, Technische Universität Dresden (DDR)
1979/80
einjähriger Aufenthalt im Iran
1978-1984
Malereistudium, Hochschule der Künste, Berlin (BRD), Meisterschüler bei Klaus Fußmann
1982-1986
Architekturbüro Brandt-Asisi-Böttcher
1987-1994
Lehrauftrag für perspektivisches Zeichnen an der Hochschule der Künste, Berlin
1991
Gastprofessor im Fachbereich Architektur an der Hochschule der Künste, Berlin
1996-2008
Professor für freie Darstellung und Entwurf im Fachbereich Architektur an der Beuth-Hochschule für Technik, Berlin
Seit Beginn der 1990er Jahre liegt der Schwerpunkt seiner Arbeit auf Panoramadarstellungen
Seit 2003 führt Yadegar Asisi mit seinem Team das Panorama als monumentales Rundbild ins 21. Jahrhundert
Urzeit - Frühe Kindheit
Der Erstkontakt ist in beiden Geschichten unschuldig und voller Staunen. Vor über 10.000 Jahren begegnen die frühen Menschen dem Zeichnen das erste Mal - und ich bin mir sicher, sie waren voller Staunen. Genauso starte ich als Kind in das Universum des Zeichnens. Hier bricht sich ein Urinstinkt Bahn. Denn Zeichnen ist eine unserer ersten Ausdruckformen überhaupt. Kinder erobern sich dieses Medium erst mal ganz unvoreingenommen. Deswegen beginne auch ich wie ein Höhlenmaler mit einfachen Strukturen und Symbolen, die nebeneinander das Blatt erobern. Noch verlasse ich mich ganz auf meine Sinne und verzichte auf Hilfsmittel.*
* Über die Zeichnungen meiner Kindheit
Wir befinden uns hier in der prähistorischen Zeit - sowohl in der großen wie auch in meiner kleinen Geschichte. Die Urzeit-Zeichnungen sind vor allem aus Zufall erhalten. Wir wissen von ihnen nicht aus historischen Aufzeichnungen, sondern sie sind die historischen Aufzeichnungen. Entsprechend heben Eltern unsere Kinderzeichnungen vielleicht aus nostalgischen Gründen auf, oder eben auch nicht. So ist aus meiner frühen Kindheit leider nichts erhalten geblieben. Deswegen bediene ich mich für Beispiele hier an den Kinderzeichnungen meiner Söhne und meiner Enkelin. Ihre Entwicklung bestätigt die dunklen Erinnerungen an meine Anfänge im Zeichnen. Vielleicht habt ihr das auch schon bei (euren) Kindern beobachten dürfen.
Bild 89
Warum zeichnen Kinder so? Das fragt sich der Psychologe Rudolf Arnheim bereits in den 1950ern. Er kommt zu einer erstaunlichen Antwort. Er stellt mitunter fest: . mangelndes Interesse oder nachlässiges Beobachten sind keine stichhaltigen Gründe. Kinder beobachten mit einem Scharfsinn, der vielen Erwachsenen fehlt . Es stimmt zwar, dass das Kind, das ein Bild von seinem Vater zeichnen soll, bis zu einem gewissen Alter den vor ihm stehenden Mann kaum als Modell benützt. Dieses Verhalten beweist jedoch nicht, dass das Kind nicht bereit oder nicht fähig ist, seine Umwelt zu beobachten; das Kind verschmäht das Modell einfach deshalb, weil es für die seiner Ansicht nach richtige Zeichnung von einem Mann neue Informationen weder benötigt noch überhaupt verwenden kann. (Arnheim, S. 159) Beobachten heißt lernen, Zeichnen heißt verstehen. Das habe ich wenige Seiten zuvor behauptet. Wenn Kinder also so genau beobachten und trotzdem nicht richtig zeichnen können, widerspricht Arnheims Aussage dem dann? Nein - denn der Schlüsselbegriff bei Arnheim ist seiner Ansicht nach. Ich will euch zeigen, dass das Zeichnen eine Verbindung zu unseren Sinnen sein kann. Für Kinder ist diese Verbindung ganz unmittelbar. Sie nehmen ohne Filter wahr, verarbeiten das Wahrgenommene ebenso - und kommen dabei zu einem anderen Ergebnis als wir. Kategorien wie ähnlich und nicht ähnlich, richtig oder falsch brauchen sie noch nicht.
Dieser direkte Draht fehlt uns. Wenn wir älter werden und in die Schule kommen, lernen wir, in abstrakten Kategorien wie richtig und falsch zu bewerten. Und das ist völlig in Ordnung. Allerdings wird dabei oft gleichzeitig die Verbindung zu unseren sinnlichen Fähigkeiten vernachlässigt. Vielleicht werden uns sogar Dinge verboten. Der Himmel ist immer blau. Wasser ist nicht rot. Irgendwann haben wir nicht mehr die Wahl, einen Filter einzuschalten oder nicht - und damit geht uns etwas verloren. Natürlich geht es mir in diesem Buch vor allem um die Grundlage des räumlichen Zeichnens als Handwerk. Aber am Ende gibt es auch dabei keine allgemeingültigen Dogmen. Wie wir in der großen Geschichte gesehen haben, geht es nicht immer um exakte Nachahmung. Wie ein annehmbares Abbild eines Objektes aussieht, hängt von den Ansprüchen des Zeichners und vom Zweck seines Bildes ab, stellt Arnheim fest. (Arnheim, S. 164) Das gilt auch für die kleine Geschichte von jeder und jedem von uns. Wenn wir die Verbindung zu unserem Sehsinn pflegen und Regeln als ein KANN und nicht als ein MUSS verstehen, erhalten wir uns auch die Freiheit und das Bedürfnis, etwas Visuelles ohne Mühe zu kommunizieren. Und dann sagt ein Bild tatsächlich "mehr als tausend Worte".
Motivation: Warum ich zeichne?
Zeichnen, was ich nicht sagen kann - Ausdrucksmittel
"Ich konnte schon früh zeichnen wie Raffael, aber ich habe ein Leben lang dazu gebraucht, wieder zeichnen zu lernen wie ein Kind." Pablo Picasso
Wenn man sich wiederholt, wird man mechanisch. Wer Bob Ross in der 29. Staffel von The Joy of Painting einen "perfekten Wintertag" malen sieht, wird wissen, was ich meine (oder spätestens fünf Folgen später). Aber habe ich nicht vorhin gesagt, dass man immer dranbleiben muss? Ja, habe ich. Und ich bin der Überzeugung, dass das Handwerk - im Besonderen die Perspektive - elementar für jede Zeichnerin und jeden Zeichner sind. Und nun kommt das Aber: So wichtig diese Dinge sind, so sehr dürft ihr nicht vergessen, warum ihr all das eigentlich lernt. Mir geht es beim Zeichnen nicht primär um Korrektheit, sondern darum, dass ich mich visuell ausdrücken kann. Ausdruck ist das, was schließlich jenseits von Abbildung meine Persönlichkeit in eine Zeichnung bringt. Es kann auch das sein, was sie schließlich zu Kunst macht - aber das ist nicht Teil dieses Buches. Picasso beschreibt oben, dass Gelerntes durchaus auch...
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