Schweitzer Fachinformationen
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KAPITEL 1
Bombay, 31. Dezember 1913
Maddy fand es seltsam, dass sich das Leben innerhalb weniger Augenblicke vollständig wandeln konnte - ohne dass eine Andeutung oder ein ungutes Vorgefühl die bevorstehende Veränderung ankündigte. Vor allem nach jenem Silvesterabend 1913 hatte sie oftmals innegehalten, bestürzt, wie arglos sie in den Stunden vor Mitternacht gewesen war, gepackt von der Euphorie der Party im Royal Yacht Club, ohne die geringste Ahnung, was ihr unmittelbar bevorstand. Aber in jener Nacht, während die Uhrzeiger auf das Jahr 1914 vorrückten, hatte sie nichts anderes im Sinn als die Hitze und die Musik. Die Ragtime-Band stimmte fröhlich ein neues Set an, flutete den heißen, von Kerzen erleuchteten Ballsaal mit Scott Joplins Klängen, und die vibrierende Tanzfläche füllte sich mit Paaren - ein Gewimmel von paillettenbesetzten Kleidern und Abendanzügen, die in einem weiteren schweißtreibenden Quickstepp über die Bretter rasten.
Sie hatte nicht den Hauch einer Ahnung, was ihr das Leben sehr bald bescheren würde.
Sie hielt sich am Rand der Tanzfläche auf. Nachdem sie die letzten fünf Stücke durchgetanzt hatte, war sie froh, vorerst zuzusehen, wieder Atem zu schöpfen und die lindernde Kälte des Gin Tonic auf Eis zu spüren, den sie sich an die Wange drückte. Sie rollte das Glas auf ihrer brennenden Haut hin und her und ließ den Blick über die Opulenz um sich herum schweifen. Die Party war verschwenderisch, selbst für Bombayer Verhältnisse, und sie, die gerade erst aus der ruhigen, gemütlichen Welt ihrer Tante und ihres Onkels in Oxfordshire hierhergekommen war, musste sich immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass sie nicht unerlaubt die Bühne eines Theaters betreten hatte, sondern nun tatsächlich in dieses feuchtheiße Land gehörte. Mit weißen Tüchern bedeckte Tische säumten die Tanzfläche und ächzten unter Servierplatten voller Curry-Puffs, Naanbrot und exotischer Früchte. An der langen Holztheke drängten sich auf engstem Raum Punschterrinen und Champagnereimer. Auf Tischen und an Wänden brannten bunte Laternen und tauchten den getäfelten Saal in farbiges Licht. Ihr wachsartiger Duft vermischte sich mit Parfüms und Haarpomade und der drückenden Hitze, die zu den halb offenstehenden Verandatüren hereindrang. Es gab keinen Weihnachtsbaum - offensichtlich war in Indien keiner zu bekommen -, stattdessen hatte man Mango- und Bananenbaumäste mit Weihnachtskugeln geschmückt, ein Arrangement, das nun über dem Haupteingang des Ballsaals unsicher das Gleichgewicht hielt. Die Konstruktion sah recht merkwürdig aus, ganz anders als die Tannen, die Maddy bisher als Weihnachtsbaum kannte, und irgendwie ließ es die Szenerie nicht feierlicher, sondern im Gegenteil noch weniger weihnachtlich wirken - genau wie die von der schwülen Luft klammen Hüte, die sie auf Geheiß von Maddys Vater Richard am ersten Weihnachtsfeiertag alle tragen mussten. Es war ihr sehr unpassend vorgekommen, auf der von der Sonne ausgedörrten Veranda der Villa Truthahn zu Mittag zu essen, während Pfauen vorbeistolzierten.
Richard trug nun einen anderen Hut als üblich. Es war unmöglich, bei seinem Anblick auf der anderen Seite des Saals nicht zu lachen - der Verwaltungschef von Bombay, die Verkörperung des angesehenen Kolonialbeamten mit makellos weißem Halstuch, trug eine violette Krone mit Punkten, die ihm kess und schief auf dem ergrauenden Haar saß. Gerade versuchte er, Maddys Mutter Alice zum Tanzen zu überreden. Alice, die im Gegensatz zu allen anderen im Saal immer noch so kühl wirkte wie die Gurke im Pimm's, mit tadellos liegenden Locken und keiner Spur von Glanz auf ihrem Porzellanteint, hob abwehrend die behandschuhten Hände. Maddy fragte sich, ob vielleicht ein winzig kleiner Teil ihrer Mutter versucht war, das Gegenteil zu tun und zu sagen: »Oh ja, ja bitte. Ach verdammt, was soll's?« Maddy wünschte sich, Alice würde es tun. Es wäre schön gewesen, hätte sie sich ausnahmsweise einmal gehenlassen und mit Richard ins Getümmel gestürzt, ebenso glücklich und gelöst wie alle anderen.
Aber Richard wandte sich bereits ab, das von der Sonne gegerbte Gesicht resigniert in Falten gelegt. Maddy verspürte einen Anflug von Mitleid mit ihm und dann noch einmal, als er sich mit gerecktem Kinn auf den Weg zur Theke machte. Warum konnte Alice nicht einfach mit ihm tanzen? Maddy zupfte am feuchten Ausschnitt ihres Kleides und versuchte gar nicht erst, sich diese Frage zu beantworten. Sie war seit zwei Monaten in Indien, wo sie nach über zehn Jahren in England wieder bei ihren Eltern lebte (sie war in der Heimat zur Schule gegangen wie fast alle Kinder der herrschenden britischen Klasse, auch, um den tropischen Fieberkrankheiten zu entkommen, für die sie als Kind so anfällig gewesen war. »Du warst hier ständig krank«, hatte ihr Vater häufig mit trauriger Miene gesagt. »Es war schrecklich .«). Trotzdem hatte sie häufig das Gefühl, ihre kühle, verschlossene Mutter kein bisschen besser zu verstehen als an jenem glühend heißen Oktobertag, an dem sie in Bombay an Land gegangen war und sie wiedergesehen hatte.
»Guck nicht so ernst«, schreckte Maddy eine Stimme von links auf, »nicht an Silvester.«
Sie drehte sich um und begegnete dem scherzhaft tadelnden Blick ihrer Freundin Della Wilson. Die beiden hatten die Anreise aus Tilbury gemeinsam unternommen, in derselben Reihe von Kabinen wie alle anderen alleinstehenden Frauen auf dem Weg zu ihren Familien in Indien - in Dellas Fall war das ihr Bruder Peter, bei dem sie wohnen würde. Die beiden hatten sich bei den unvermeidlichen frühen Abendessen an Bord angefreundet. Es einte sie das Unbehagen angesichts der Tatsache, dass die anderen Passagiere sie als Mitglieder der »Fischfangflotte« betrachteten, als Frauen, die sich in Indien auf die Suche nach einem Ehemann machten. Obwohl meine Mutter natürlich hofft, dass ich genau das tun werde, hatte Della gesagt, den Mund voller Schokoladen-Éclair. Nur darum lässt sie mich herkommen. Nicht dass ich was dagegen hätte, sagte sie, nachdem sie den Bissen hinuntergeschluckt hatte. Nur dass ich stattdessen viel lieber auf Tigerjagd gehen würde.
»Wo kommst du denn plötzlich her?«, fragte Maddy sie nun. »Ich habe dich den ganzen Abend noch nicht gesehen.«
»Ich bin gerade erst gekommen«, sagte Della. »Du kannst Peter die Schuld dafür in die Schuhe schieben, falls er beschließt, doch noch zu kommen.«
»Wo ist er?«
»Weiß der Himmel. Er hat sich vorhin mit einem Freund im Taj Mahal Hotel getroffen, wollte aber eigentlich wieder nach Hause kommen und mich abholen. Wahrscheinlich haben sie sich in die Taj Bar verzogen.« Sie fächelte sich Luft in ihr leicht gerötetes Gesicht. »Ich hatte schon befürchtet, ich würde Mitternacht verpassen, darum habe ich mir eine Rikscha gerufen. Sag Peter nichts davon. Er schimpft immer mit mir, wenn ich allein in einer fahre.«
Maddy, die Peter oft hatte klagen hören, wie viel einfacher das Leben gewesen war, ehe seine unbändige Schwester ihm ins Haus geschneit war, lachte und sagte: »Armer Peter.«
»Von wegen armer Peter«, sagte Della. »Himmel«, sie schob die Unterlippe vor und blies sich Luft ins Gesicht, »hier drin ist es so heiß wie in einem Backofen. Kommst du mit raus? Wir können rasch eine rauchen, eher er kommt und mich auch dafür tadelt.«
Maddy beschloss, dass sie eine Zigarette gut gebrauchen konnte - und zwar ohne dass ihre Mutter erneut eine Braue hochzog. Sie nickte.
»Und, mit wem hast du schon getanzt?«, fragte Della, als sie sich gemeinsam einen Weg durch die wogende Menschenmenge bahnten.
»Mit den üblichen Verdächtigen«, sagte Maddy und zählte einige Hauptmänner der Armee auf, einen ständig sonnenverbrannten Marineoffizier und eine Handvoll Beamter, die wie Peter für ihren Vater in den Amtsstuben von Bombay arbeiteten.
»Nicht mit Guy Bowen?«, fragte Della betont unschuldig und deutete mit einem Kopfnicken auf die Stelle, an der Guy mit einigen anderen Chirurgen des Militärkrankenhauses ins Gespräch vertieft war.
Maddy verdrehte die Augen. »Kannst du damit bitte aufhören?«, sagte sie. »Er ist ein Freund meiner Eltern.«
»Aber auch dein Freund. Er schaut ziemlich oft bei dir vorbei.«
Maddy stieß die Verandatür weit auf. »Er könnte mein Vater sein.«
»Nein, eigentlich nicht«, sagte Della. »Er kann nicht viel älter als vierzig sein, und du bist fast dreiundzwanzig.«
»Ich bin mir ziemlich sicher«, sagte Maddy, »dass er mich als kleines Mädchen auf den Knien geschaukelt hat.«
»Und, war es gut?«, sagte Della auf eine Art, die sie beide in Gelächter ausbrechen ließ.
Sie gingen weiter in die schwüle, warme Nacht hinaus. Als sie die Terrasse mit Meeresblick betraten, spielte die Band noch immer, und die Uhr in dem pulsierenden Ballsaal hinter ihnen schlug elf: Die allerletzte Stunde des Jahres 1913 hatte begonnen.
Draußen war es leiser, die schwüle Luft wirkte wie ein Schalldämpfer für die Musik und die Stimmen der Leute, die umherliefen oder es sich an den Tischen in der Dunkelheit bequem gemacht hatten. Fackeln knisterten und leuchteten Maddy und Della den Weg zur Ufermauer. Nicht dass sie darauf angewiesen waren. Schließlich verschwanden sie nicht zum ersten Mal, um gemeinsam eine Zigarette zu rauchen. Sie hatten die verborgene Stelle auf der Treppe zum Strand bei einer Feier kurz nach ihrer Ankunft entdeckt und benutzten sie seitdem, um den wachsamen Blicken ihrer Verwandten und dem Tratsch der Memsahibs zu entkommen - auf dieselbe...
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