Schweitzer Fachinformationen
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1. KAPITEL
London, Januar 1940
Ivy blieb vor der Tür des Wartezimmers stehen und holte tief Luft. Ihr Blick ging zu ihren Arbeitsschuhen auf dem Linoleum des Krankenhauses und den an den Knöcheln Falten werfenden Nylonstrümpfen. Du schaffst das. Sie strich die Jacke ihrer Navy-Uniform glatt und trat ein.
Im Wartezimmer war es still. An einer Eichentür am anderen Ende des Raums hing ein Messingschild mit der Aufschrift DOCTOR MICHAEL GREGORY, MBCHB, MD, CCT, FRCPSYCH. Abgewetzte gepolsterte Stühle standen an zwei der anderen Wände aufgereiht, ein Schreibtisch an der dritten. Ein Empfangsfräulein, etwa so alt wie Ivy - also noch keine Mitte zwanzig -, saß dort. Sie hatte ein zerfleddertes Time Magazine vor sich und eine Zigarette in der Hand.
Sie schaute lächelnd zu Ivy hoch. »Hallo.«
»Hallo. Ivy Harcourt. Ich habe einen Termin bei Doctor Gregory.«
»Ja, natürlich.« Das Empfangsfräulein deutete mit ihrer Zigarette auf die Eichentür. »Es wird nicht mehr lange dauern. Er spricht noch mit einem Matrosen, der gerade vom Mittelmeer zurück ist. Nehmen Sie Platz.«
Ivy setzte sich auf den nächstbesten Stuhl und merkte, wie dessen Federn knarzten. Sie schlug die Beine übereinander und stellte sie gleich danach wieder parallel nebeneinander.
Das Empfangsfräulein musterte sie neugierig. »Eine Tasse Tee?«
»Nein danke«, sagte Ivy.
»Kakao?«
»Nein, sehr freundlich.«
»Dann Kaffee? Wir haben Camp.«
Ivy schüttelte den Kopf. »Vielen Dank.« Sie konnte sich nicht vorstellen, irgendetwas zu trinken.
Die junge Frau taxierte sie weiter. »Geht es Ihnen gut?«, fragte sie schließlich.
»Anscheinend nicht.« Ivy lachte gezwungen. Es klang schrecklich nervös. »Ich schätze, deshalb bin ich hier.«
Das Empfangsfräulein wollte offensichtlich noch mehr sagen, doch da ging die Eichentür auf. Ein blasser Junge in weißer Matrosenuniform schlich gesenkten Hauptes heraus. Ein anderer Mann folgte ihm. Doctor Gregory, schloss Ivy aus seinem Tweedanzug und dem souveränen Auftreten. Er trug eine Brille und ein knallrotes Taschentuch in der Brusttasche. Ivy fragte sich, wie oft er das wohl seinen Patienten anbot.
Er drehte sich zu ihr. Seine Augen blickten freundlich.
»Officer Harcourt«, sagte er, »kommen Sie herein.«
Das Sprechzimmer war klein und wurde von einem Gasofen beheizt. Es gab darin einen Schreibtisch aus Mahagoni, zwei gepolsterte Stühle und ein einziges Fenster, das kreuz und quer mit braunem Klebeband bedeckt war, damit es bei einem Bombenangriff nicht zersplitterte. Auf dem Linoleumboden lag ein Teppich, und eine Vase mit Plastikblumen stand auf dem Schreibtisch. Jemand hatte versucht, den Raum ein wenig gemütlich zu machen.
Doctor Gregory ließ Ivy auf einem der Stühle Platz nehmen und setzte sich selbst auf den anderen. Er streckte den Arm aus und angelte sich eine Akte und auch seine Pfeife vom Tisch. Ob es sie störe, wenn er rauche. (Das tat es nicht.)
»Nun denn«, sagte er. »Sie haben ja einiges hinter sich.«
Ivy räusperte sich. »Mir .« Ihre Stimme versagte. Sie setzte erneut an. »Mir geht es gut.«
»Ihre Rippen bereiten Ihnen keine Schmerzen mehr?«
»Nein.«
»Auch keine Atembeschwerden mehr?« Demonstrativ vertiefte er sich in ihre Akte. Ivy dachte sich, dass er das ihr zuliebe tat, damit es weniger so aussah, als wüsste er ohnehin bereits alles über sie. »Sie hatten eine hässliche Infektion wegen des Staubs«, sagte er. »Ich lese hier, dass Sie neun Stunden lang verschüttet waren.«
»Es geht mir besser.«
Er lächelte besorgt. »Aber Sie wurden an mich überwiesen.«
Sie schluckte und wünschte, sie hätte vorhin um ein Glas Wasser gebeten. »Ja.«
»Weil der Arzt, der Sie seit dem Unfall behandelt hat«, ein weiterer Blick in die Unterlagen, »Doctor Myer, meint, Sie seien noch nicht wiederhergestellt für den Dienst.«
»Halten Sie sich für wiederhergestellt?«
»Ich möchte zurück an die Arbeit.«
»Hm«, machte Doctor Gregory. »Doctor Myer macht sich Sorgen wegen«, er blätterte und rückte seine Brille zurecht, »wegen wiederkehrender und akuter Anfälle von Klaustrophobie zusammen mit schweren Schocksymptomen.« Er sah Ivy an. »Stimmt das?«
Ivy zwang sich, seinem Blick standzuhalten. »Es geht mir gut.«
Mit einem Ausdruck von Mitleid kniff er die Augen ein wenig zu. »Er scheint diese Meinung nicht zu teilen. Und man hat mich darüber informiert, dass Sie um eine Versetzung von Ihrem alten Posten in Camberwell gebeten haben. Dass Sie das Gesuch noch vom Krankenhaus aus eingereicht haben?«
»Das stimmt.«
»Die Bombe hat Sie ganz nah bei dem Bunker, in dem Sie gearbeitet haben, erwischt, nicht wahr?«
»Ja.«
»Und Sie hatten früher an diesem Abend bei der Arbeit bereits einen schweren Schock erlitten?«
»Ja.« Sie presste die Antwort hervor.
»Und nun wollen Sie nicht mehr dorthin zurück?«
»Würden Sie das wollen?«
»Wir sind nicht hier, um über mich zu sprechen.«
Ivy rutschte auf ihrem Stuhl herum. Es war so heiß in diesem Zimmer.
»Ivy«, sagte Gregory, »ich möchte, dass Sie mir mit Ihren eigenen Worten erklären, warum Sie sich nicht vorstellen können, nach Camberwell zurückzukehren.«
Sie schwitzte in ihrer Uniform aus Wollstoff und deutete auf den Heizofen. »Macht es Ihnen etwas aus, den etwas runterzudrehen?«
Er legte die Pfeife auf die Armlehne, stand auf und ging durchs Zimmer. Als er vor dem Ofen in die Hocke ging, um an dem Einstellungsrad zu drehen, schaute er zu Ivy zurück. »Ich weiß, wie schwer das für Sie sein muss«, sagte er. »Sie möchten nicht hier sein. Das möchte niemand. Ich versuche, es nicht persönlich zu nehmen.« Er lächelte. Es war ein Scherz. Ivy bemühte sich, ebenfalls ein Lächeln zustande zu bringen. »Aber damit ich Ihnen helfen kann, gesund zu werden«, sagte er, »muss ich Ihnen diese Fragen stellen. Ich möchte, dass Sie mir vertrauen und über alles sprechen, was passiert ist. Es wird viel leichter werden, wenn Sie das tun. Klingt das nachvollziehbar?«
»Ja«, sagte Ivy, obwohl sie sich nicht sicher war.
»Gut.« Er setzte sich wieder und blätterte weiter in der Akte. »Beginnen wir mit etwas, das ein bisschen einfacher ist. Wann sind Sie in den Dienst der Navy getreten?«
»Zu Beginn des Krieges.«
»Warum die Navy?«
»Mein ehemaliger Dozent hat das vorgeschlagen.«
»Wegen Ihrer Sprachkenntnisse?«
»Ja. Er wusste, dass sie dort Leute brauchten, die Deutsch sprechen. Er schlug mich vor.«
»Und Sie sind Lauscherin.« Gregory lächelte sie fragend an. »Was genau ist das eigentlich?«
Ivy schaute auf seine Unterlagen. »Haben Sie das da nicht drinstehen?«
»Tun Sie mir doch den Gefallen und erklären Sie es mir.«
Ihr Rücken kribbelte. Sie hatte Gregorys Worte von vorhin noch im Ohr. Sie hatten früher an diesem Abend bei der Arbeit bereits einen schweren Schock erlitten. Sie wusste, wohin er sie lotsen wollte. »Ich darf nicht über meine Tätigkeit sprechen«, sagte sie. »Die Wände haben Ohren.«
Er verzog den Mund. »Ein netter Versuch, Ivy. Aber die einzigen Ohren hier sind meine, und ich habe eine offizielle Verpflichtung zur Geheimhaltung unterschrieben. Also .« Er nickte ihr zu, damit sie fortfuhr.
»Wir hören Funksprüche ab«, sagte sie zurückhaltend.
»Wer ist 'wir'?«
»Frauen und Männer des Navy-Geheimdienstes. Und ein paar von der Air Force.«
»In Camberwell?«
»Und wen hören Sie ab?«
»Schiffe, Funksprüche aus Deutschland .«
»Aber hauptsächlich Piloten, oder?«
»Ja«, sagte Ivy zögernd. »An unserem Posten.«
»Britische Piloten?«
»Manchmal. Aber hauptsächlich interessiert uns, was die von der Luftwaffe sagen.«
»Warum?«
»Sie verraten Dinge, wenn sie sich unterhalten«, sagte sie. »Darüber, wo ihre Schiffe unten gerade sind. Wir schicken das an die Admiralität. Dazu deren Kurs und die Flughöhe. Es hilft dem Oberkommando zu wissen, wo sie ihre Spits hinschicken sollen, um sie abzufangen.«
»Sehr clever.« Der Doctor zog an seiner Pfeife. »Ist das alles, was Sie hören? Die Koordinaten und die Ziele?«
»Nein«, sagte sie zurückhaltend.
»Nein?«
»Nein....
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