Schweitzer Fachinformationen
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01 Wenn man sie gefragt hätte, hätte sie klipp und klar »Nein« gesagt. Aber man hatte sie nicht gefragt. Dabei war ihr der junge Mann sofort mehr als komisch vorgekommen - was heißt komisch, gruselig, richtig eklig hatte er auf Nathalie gewirkt, als sie ihn an der Tankstelle das erste Mal wahrgenommen hatte.
Später, sehr viel später, als alles endlich vorbei und nichts mehr wie bisher war, sollte ihr die Szenerie und ihre »wahnsinnig negativen Vibes«, wie sie es dann auszudrücken pflegte, wieder einfallen.
Es war bereits kurz nach halb neun abends. Der Regen hatte nachgelassen, die gelben Neonlichter der Jet-Tankstelle spiegelten sich in den trüben Pfützen. Für einen kurzen Moment sah es so aus, als würde die Sonne es sogar noch einmal durch die Wolkendecke schaffen, bevor sie ganz unterging - sie schaffte es nicht. Der Himmel verdunkelte sich wieder mit schwarzen, tiefhängenden Gewitterwolken. Nathalie blickte durch das regennasse Seitenfenster des Minivans und bekam eine Gänsehaut. »Guck mal, der Typ da«, rief sie und gab Frank, der vor ihr auf dem Beifahrersitz lümmelte und eine Zigarette drehte, einen Schubs, woraufhin Frank mit einer unkoordinierten Bewegung gut die Hälfte der sorgsam auf dem Papier gestapelten Tabakkrümel im Wageninneren verteilte.
»Spinnst du?«, rief er und wischte sich Tabak von der Hose. »Mann, kannst mich doch nicht einfach so schubsen, wenn ich .«
»Sorry«, entgegnete Nathalie. »Aber guck dir doch mal den Typen da an!« Sie deutete auf den Mann, der mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze und triefend vor Nässe an der Ausfahrt der Tankstelle stand. Unter den rechten Arm hatte er eine kleine Reisetasche geklemmt. Er musterte die wenigen Autos, die tankten. Obwohl Nathalie seine Augen nicht sehen konnte, lief ihr eine Gänsehaut den Rücken hinunter. Irgendwas stimmte mit dem Kerl nicht, dessen war sie sich ganz sicher. Intuition - mehr nicht, aber auch nicht weniger.
»Wenn ich einen richtig trashigen Splattermovie über einen durchgeknallten Massenmörder drehen würde, der Nachts mit einem abgehackten Kopf in der Reisetasche per Anhalter durch die Prärie gondelt und so scary-movie-mäßig weitermetzelt, dann würde ich den Typen da nehmen«, sagte sie. Und trashige Splatterfilme hatte sie mehr als genug gesehen, damals, als sie vierzehn war und mit dem unglaublich erwachsen wirkenden Markus gegangen war. Noch mehr als an Schockerfilmen war Markus allerdings an Nathalies Unschuld interessiert gewesen, doch das war dem Mädchen erst nach drei Wochen aufgefallen und sie hatte schnell die Konsequenzen gezogen, weil sie ihre Unschuld vorerst behalten wollte. Zuvor hatten sie sich nachmittagelang die schlechtesten Billigproduktionen reingezogen, hatten unzählige Köpfe in Großaufnahme und Zeitlupe rollen, kilometerweise Eingeweide aus aufgeschlitzten Bäuchen quellen und hektoliterweise Blut in alle Richtungen spritzen sehen. In fast der Hälfte dieser Filme hatte es einen wahnsinnigen Axtmörder gegeben, der dann mit abgetrennten Leichenteilen durch die Lande gezogen war. Und nicht selten waren diese Typen so gestylt gewesen wie der Kerl vorne an der Straße. Dunkle Regenjacke, die Kapuze so tief ins Gesicht gezogen, dass man die Augen nicht sehen und das blasse, unrasierte Kinn nur erahnen konnte.
Frank sah kurz in die angegebene Richtung, rollte dann mit geübten Fingern das Zigarettenpapier um den Tabak und zuckte mit den Schultern. »Sonst gehts dir aber noch gut?!« Er tippte sich an die Stirn. »Du spinnst echt, Nathalie. Das ist nur irgendein armer Tramper, den es ordentlich geduscht hat beim letzten Gewitter.« Er befeuchtete vorsichtig die Gummierung des Papers mit der Zunge und vollendete seine Selbstgedrehte. Zufrieden sah er die Zigarette an, so zufrieden, als hätte er ein einzigartiges, wertvolles Kunstwerk geschaffen. Er öffnete die Wagentür und stieg aus. »Rauch draußen«, murmelte er überflüssigerweise und ging kurz zu Benni, der immer noch neben der Zapfsäule darauf wartete, dass der Van endlich vollgetankt war.
Die beiden Jungs tauschten ein paar Sätze aus, die Nathalie nicht hören konnte. Benni sah kurz in den Wagen hinein und als er Nathalies Blick bemerkte, warf er ihr einen kleinen Luftkuss zu. Dann grinste er. Das Mädchen musste lächeln, sie revanchierte sich mit einem hingehauchten Kuss. Frank war unterdessen vor zur Straße gegangen, wo er sich die Zigarette anzündete. Die Blicke des nassen Kapuzenmannes folgten ihm, wie Nathalie mit Argwohn bemerkte. Sie musste schließlich über sich selbst lachen. Ein echter wahnsinniger Axtmörder würde im wirklichen Leben sicherlich nicht als wandelndes Splattermovieklischee durch die Nacht reisen.
Frank schlenderte ein wenig an der Straße entlang, inhalierte bei jedem Zug an der Zigarette so tief, als sei es seine letzte. Dabei achtete er darauf, dass jede seiner Bewegungen möglichst lässig aussah. Standbein, Spielbein, Drehung nach rechts, dabei ein klein wenig den Rücken rund machen, gerade so viel, dass er keinen Buckel bekam, damit die mächtigen Brustmuskeln stärker unter dem engen T-Shirt hervortraten. Drehung nach links, dabei den Hintern anspannen, ein wenig recken, damit die Ärmel höher rutschten und die Ausläufer seines großen Tribals, das er sich von Bizepsansatz zu Bizepsansatz quer über die Schulter hatte tätowieren lassen, sichtbar wurden. Seine Eltern hatten angesichts dieser »Verstümmelung« tobend das Geld für den Führerschein gestrichen, doch Frank war lieber ohne Auto als ohne Tätowierung .
Seine sorgsam einstudierten Posen, die seinen Körper in jeder Sekunde optimal zur Geltung bringen sollten, gingen Nathalie auf die Nerven. Auch der Kapuzenmann machte nun ein paar kurze Schritte hin und her, dabei behielt er Frank fest im Visier. Es war nur eine Frage der Zeit, bis Frank den Blick erwiderte und freundlich lächelnd hinübernickte. Sofort kam der Kapuzenmann mit seiner kleinen Reisetasche zu Frank und sie begannen zu plaudern. Nathalie öffnete die Wagentür und beugte sich hinaus.
»Benni«, rief sie ihrem Freund zu, der eben den Zapfhahn zurück in die Halterung der Säule steckte und nach seinem Geldbeutel kramte. »Benni, hör mal bitte. Wenn Frank mit diesem Typen da ankommt . also, ich meine, den nehmen wir bitte nicht mit. Auf keinen Fall. Versprochen? Den finde ich nicht so prickelnd!«
»Hey, Süße.« Benni, der ihr nicht ganz folgen konnte, beugte sich zu ihr herunter und gab ihr einen herzhaften Kuss. Sein Dreitagebart, der ihm etwas so wahnsinnig Verwegenes gab, kitzelte an ihrer Oberlippe. »Wo brennts denn?«
»Frank hat da diesen komischen Tramper an der Backe.« Sie deutete hinter sich zur Straße hin. Benni hob den Kopf und spähte in die Richtung.
»So what?«
»Ich finde den Typen voll daneben! Bitte versprich mir .«
»Ich hab Jo gesagt, dass wir ihn bis Vierkirchen mitnehmen können!«, rief da Frank und näherte sich mit großen Schritten dem Van, den sich Benni von seinem Onkel für diesen Abend geliehen hatte, weil Bennis Golf in der Werkstatt war. »Ist doch kein Problem, oder!«
»Äh .«, Benni stockte und sah zu Nathalie hinunter, die ihm einen kurzen flehenden Blick aus ihren braunen Augen zuwarf. Dann musterte er seinen Kumpel Frank und den Mann mit der tief ins Gesicht gezogenen Kapuze. Der Tramper mochte Anfang zwanzig sein, sein Gesicht lag zwar im Schatten der Kopfbedeckung, doch selbst Nathalie konnte beim näheren Hinsehen keinerlei Spuren von Wahnsinn und Mordlust darin erkennen. Eher erinnerte er sie mit seiner seltsam ausdruckslosen Miene und den müden Augen an einen bedröppelten Hund. Nathalie strich sich eine Strähne ihrer naturblonden wilden Mähne aus dem Gesicht und lehnte sich mit einem Seufzer zurück.
Benni sagte: »Nö, ist kein Problem, oder Nathalie? Vierkirchen liegt ja fast auf der Strecke. Ich zahl nur noch schnell, dann kanns losgehen.«
»Ich möchte vorne sitzen«, sagte der Kapuzenmann, der nach Franks Angaben Jo hieß. Seine Stimme war dunkel und kratzig, aber angenehm. Ihr Klang machte bei Nathalie noch mehr an negativen Eindrücken wett als sein Hundeblick. Doch er sagte »ich möchte«, fordernd, befehlend, nicht »darf ich« oder »kann ich«, schon gar kein »bitte«. Nathalie überlegte, ob es auch den Jungs aufgefallen war. Wohl kaum. Sie war froh, dass Jo nun vorne saß und Frank neben ihr. Es beruhigte sie.
»Willst du deine Tasche nicht lieber hinten in den Kofferraum tun?«, fragte Frank, beugte sich vor und griff nach dem Gepäckstück, das Jo auf seinem Schoß hielt. Mit einem heftigen Ruck seines linken Arms verhinderte Jo, dass Frank die Taschenhenkel fassen konnte.
»Nein«, sagte er barsch und eine Spur zu aggressiv. Seine Stimme überschlug sich fast. »Hände weg von meiner Tasche!« Nach einer kurzen Pause hängte er noch ein halbherziges »Bitte« dran.
»Schon gut, Mann! Keine Folklore.« Frank lehnte sich zurück und grinste. »War ja nur ein Vorschlag. Hast wohl einen Goldschatz dabei?! Könntest aber wenigstens deine Kapuze abnehmen, nur so aus Höflichkeit.«
»Nein«, kam es erneut aggressiv von vorne.
Benni hatte endlich gezahlt und stieg wieder in den Wagen. Bevor er den Motor anließ, fiel sein Blick auf die schmutzige Reisetasche auf Jos Schoß. »Komm, ich tu die noch in den Kofferraum«, sagte Benni und hatte die Griffe schneller in der Hand, als Jo zunächst reagieren konnte.
»Nein!«, zischte Jo und schnappte seine Tasche. Eine kurze, absurde Rangelei um das durchnässte Gepäck entstand, bis Benni, verblüfft von Jos heftiger Reaktion, die Griffe losließ und »Mann, schon gut« sagte. »Anschnallen, es geht los.«
Auf der Fahrt, die sie zunächst auf der Bundesstraße Richtung Dachau führte,...
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