Schweitzer Fachinformationen
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01
Sie zitterte am ganzen Leib. Immer noch. Wie konnte sie es nur so weit kommen lassen? Es war ihre Schuld, ganz eindeutig, einzig und allein ihre Schuld. Sie wuchtete sich vom Bett auf und schlurfte schwer atmend ins Bad. Alles tat ihr weh. Sie verfluchte sich dafür, dass sie ihn immer noch liebte. Sie liebte ihn. Liebte sie ihn? Irgendwie jedenfalls. Sie blieb kurz stehen. Eigentlich hatte sie sich in der letzten Zeit nicht wirklich mit dieser Frage beschäftigt: Liebte sie ihn überhaupt noch?
Sie zog den gelben Nylonvorhang zur Seite und stieg in die Wanne, um sich zu duschen. Als sie den Vorhang zuzog und das Wasser aufdrehte, klebte sich der Vorhang sofort an ihre Beinen und der Hüfte. Sie seufzte und ließ das Wasser an sich herunterprasseln. Sich gegen den anschmiegsamen Vorhang zu wehren, war sinnlos. Auch ohne die Sogwirkung des heißen Dampfs würde der Vorhang an ihr pappen - einfach weil sie so enorm viel Körper hatte.
Fritz schaffte es immer wieder, dass sie in seinem Kosmos lebte, seine Spielchen mitmachte. Aber sie wollte keine Spielchen mehr spielen - raus aus seinem Kosmos.
Als Fritz das erste Mal diesen Namen, als er das erste Mal >Viola< gekeucht hatte, da hatte sie blanke Wut überkommen. Sie hatte sich aufgebäumt wie ein bockendes Pferd, ihn von sich geschubst und sich dann auf ihn gewälzt. Da hatte sie ihn das erste Mal gewürgt. Ganz spontan. Er nannte es später eine >Offenbarung<. Nives war anfangs erschrocken darüber, dass es ihr Spaß gemacht hatte. Herrin über Leben und Tod sein. Seit damals stöhnte er immer wieder >Viola<, wenn er ES brauchte. Er benannte es nie, es war immer ES. Nives hatte allerdings einige Zeit gebraucht, um zu durchschauen, dass er nicht deshalb den Namen ihrer Nebenbuhlerin keuchte, weil er in Wirklichkeit Viola begehrte, während er mit Nives schlief. Für Fritz war es nur ein Spiel, sein Signal für den Wunschorgasmus mit Sauerstoffmangel.
Sie wusch sich die Haare und spülte das Schampoo gründlich aus. Dabei sah sie an sich hinunter. Wie widerlich fett sie war. Wütend drückte sie den klebenden Vorhang weg. Sie hasste diesen Körper. Alles ausschließlich für ihn. Nur weil er sie so üppig wollte. Sie hatte sich für ihn so fett gefressen. Wie schön sie einmal gewesen war . Männer, echte Männer hatten sich nach ihr verzehrt, hatten sich in Unkosten gestürzt, um sie zu beeindrucken . Nun, immerhin stürzte auch er sich immer noch in Unkosten, um sie zu beeindrucken. Das musste sie zugeben.
Nives drehte das Wasser ab und trocknete sich ab. Sie wickelte das große Badetuch um ihren Körper und verknotete es über der Brust. Auf dem Weg zurück ins Zimmer bürstete sie sich die nassen, blondierten Haare. Wie strohig sie waren, Spülung vergessen. Egal.
Ihr Blick fiel zufällig auf den Radiowecker. Ohne Kontaktlinsen konnte sie die Ziffern nicht deutlich erkennen. Mit zusammengekniffenen Augen erahnte sie, dass es kurz vor acht Uhr sein musste. Sie trat auf den Balkon hinaus und genoss die frühmorgendliche Hitze. Zwischen den Palmen und den üppig grünen Bäumen, deren Namen sie nicht kannte, sah sie hinunter auf den Strand. Wenig los in aller Herrgottsfrühe.
Das Hotel, das er für sie ausgesucht hatte, um dem Weihnachtstrubel zu entgehen, gefiel ihr. Es war ein tropisches Paradies, eine luxuriöse Anlage aus Pfahlhütten auf einer kleinen Halbinsel. Die Hütten erreichte man über Holzstege, die hoch über dem Boden liefen. Unten samtiges Grün, dichte Vegetation. Dazwischen Palmen und riesige Bäume, die angenehm Schatten spendeten. Ständig wuselten Gärtner durch die Anlage und sorgten für wohlgeordneten Wildwuchs. Nachts, wenn Tausende von Lichterketten in den Bäumen die Anlage in einen glitzernden Märchenwald verwandelten, wollte sie am liebsten die ganze Zeit nur über die Holzstege laufen und Atmosphäre tanken. Sie freute sich auch an diesem Morgen, dass sie noch eine der wenigen Hütten in Strandnähe mit direktem Meerblick bekommen hatten. Ihr Bungalow lag hoch über dem Erdboden, etliche Meter von den Felsen und dem Meer entfernt, und war vom Wasser durch einen üppigen Grüngürtel getrennt.
Nives atmete tief ein. Ihr Blick fiel auf den Mann, der unten am Strand stand und in die Ferne starrte. Das musste er sein. Er wollte vor dem Frühstück ein wenig schwimmen gehen. Sie erkannte zwar, dass der Mann wie Fritz eine blaue Badehose trug, auch die Statur stimmte - klein, untersetzt. Doch sie war sich nicht sicher. Nives ging zurück ins Zimmer und holte die Digitalvideokamera. Nicht ihr Weihnachtsgeschenk, sein jüngstes und liebstes Spielzeug, geballte Hightech sogar für Profiansprüche - nein, das Luxusgerät war für sie tabu. Sie hatte ihm hoch und heilig schwören müssen, dass sie die neue Kamera nicht anfassen würde. Sie nahm also die alte, die mit der niedrigen Auflösung und den seiner Meinung nach lächerlichen Pixeln. Auf dem Balkon klappte sie das Display zur Seite, hielt auf den Mann am Strand, der nun in Richtung Meer blickte. Nives kannte die wichtigsten Funktionen und zoomte so stark heran, wie es die Kamera zuließ. Ihre Hand zitterte, das Bild wackelte. Wo war noch mal der Knopf, der das Wackeln ausgleichen konnte?
Der Zoom half nicht wirklich. Vielleicht stand da Fritz, vielleicht auch nicht. Sie rief seinen Namen, obwohl sie wusste, dass er zu weit weg war, um sie zu hören. Sie rief und winkte. Keine Reaktion.
Dann ließ sie etwas aufhorchen. Sie konnte es nicht benennen und sah sich suchend um. Ein Tier? Ein Vogel?
Es war kein Geräusch, wie ihr plötzlich klar wurde. Es war das Fehlen von Geräuschen. Kein Tier, kein Vogel. Nichts. Absolute, fast greifbare Stille, sogar die Wellen schwiegen. Die Wellen!
Sie sah hinunter auf den Strand. Das war ihr so seltsam vorgekommen. Es gab keine Wellen. Es gab kein Wasser, es gab überhaupt kein Meer. Nur Sand, vom Strand bis zum Ende der Halbinsel, auf der ihr Hotel sich befand. Nives rieb sich ungläubig die Augen. Kein Zweifel, das Meer war weg, die komplette Bucht war leergelaufen. Sie drehte sich um und versuchte, durch die Bäume zu spähen, die den Blick auf den weiten Horizont gegenüber der Bucht verdeckten. Ganz weit hinten vermeinte sie das Glitzern des Wassers zu erkennen. Erneut richtete sie die Kamera auf den Mann, der vermutlich Fritz war, und drückte auf den »Record«-Knopf. Sie wollte es festhalten: Er am endlosen Strand ohne Wasser. Wie bizarr. Es würde ihm gefallen, wenn er später den Film sah.
Dann hörte sie es. Die Stille fand urplötzlich ein Ende. Ein dumpfes Grollen rollte aus der Ferne heran. Es steigerte sich von Sekunde zu Sekunde, eskalierte zu einem tosenden Crescendo. Nives sah vom Kameradisplay auf und blickte sich um. Für einen Moment fürchtete sie ein Erdbeben, doch der Hüttenbungalow stand still. Sie drehte den Kopf, als zwei dünnere Bäume krachend gegen die Brüstung ihrer Terrasse geschleudert wurden. Die Palmen und die größeren Bäume bogen sich bedrohlich, Zweige berührten den Holzboden der Terrasse.
Das Meer kam zurück.
Die Gischt spritzte zwischen den Holzbohlen des Terrassenbodens zu ihr hinauf, als sich das Wasser an den Felsen unter der Hütte rieb. Die Pfahlkonstruktion erhielt einen Stoß, der Nives schwanken ließ.
Eine gigantische Welle schob sich in die Bucht. Nives starrte in das Display der Videokamera und sah den Mann, der wohl Fritz war, in schäumendem Wasser verschwinden. Die Monsterwelle peitschte über den Strand, fraß sich in die beiden benachbarten Strandhotels und spülte über die Straße, bis sie an dem Hügel dahinter brach. Für einen kurzen Moment stoppte die Bewegung, die Oberfläche schien stillzustehen. Dann begann die Gegenbewegung. Das Wasser strömte zurück und riss alles mit sich, was nicht fest verankert war.
Nives stand breitbeinig da, hielt sich mit der Linken am Geländer fest und blieb mit dem rechten Zeigefinger wie festbetoniert auf dem Auslöser. Autos, Möbel, Bäume, Menschen - der Wassersog in ihrem Display nahm sich alles. Sie sah nur das Geschehen im kleinen Monitor, es hätte ein Film sein können, die Realität um sie herum schien so unendlich weit entfernt.
Erst als das Wasser komplett zurückgegangen war, hörte sie auf zu filmen. Sie ließ die Kamera sinken und stand da, unfähig zu begreifen, was eben passiert war. Langsam gaben ihre Knie nach. Sie sackte zusammen und stierte zwischen die Bohlen unter ihr. Sie erkannte die Fundamente der Bentonsäulen, auf denen der Bungalow ruhte. Sie erkannte das Bootswrack, das sich um einen der Pfeiler gewickelt hatte, sie erkannte die Plastik-und Stoffplanen, die sich zwischen dem abgerissenen Bäumen verfangen hatten, die zertrümmerten Strandliegen aus Holz oder Metall, und sie erkannte den leblosen Körper eines kleinen blonden Mädchens, die mit weit aufgerissenen Augen und seltsam verdrehten Kopf direkt unter ihren Füßen auf dem Felsen lag.
Nives öffnete den Mund, um zu schreien. Doch ihr Schrei blieb tonlos.
Das erneute Krachen, das Splittern von Holz riss sie aus ihrer Starre. Gerade noch rechtzeitig, um mühsam ihren Leib hochzustemmen und einer Palme auszuweichen, die von der zweiten gewaltigen Welle gegen die Terrassenbrüstung gedrückt wurde. Die Hütte erbebte, die Holzbrüstung splitterte.
Was, wenn die ganze Terrassenkonstruktion nachgab? Was, wenn der ganze Bungalow nachgab? Schließlich waren die Hütten nur Pfahlbauten, die sich an den Steilhang der Halbinsel kuschelten. Nives versuchte zur Tür zu hechten, doch ihr ungeheures Körpergewicht sorgte dafür, dass es ein Versuch blieb. Sie fiel der Länge nach hin. So schnell sie konnte, rappelte sie sich auf und krabbelte zur Tür. Sie erreichte die Tür in dem Moment, als das Tosen auch schon wieder aufhörte....
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