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Thad war höchst schlecht gelaunt aufgestanden, hatte Kurs gen Osten genommen und Pamela in tiefster Verzweiflung zurückgelassen. Um ihre Demütigung zu ermessen - aber war es denn eine? -, unternahm Pamela eine Kreuzfahrt auf den Bâteaux-Mouches. Heißt es nicht, dass Reisen bildet?
An diesem Montagmorgen alterte Pam um Jahre.
Aus Protest ging sie auf der falschen Seine-Seite. Die Gefährdung war kaum wahrnehmbar, aber durchaus real: Mit kleinen Schritten trippelte sie, entgegen ihrer Gewohnheit, die Kais am rechten Ufer entlang. Als sie den Rollladen des winzigen Geschäfts am Quai Malaquais öffnete, schien ihr, dass die Bonsai merkwürdig dreinschauten, sie hätte schwören können, dass sie sich von ihren zweiundzwanzig Zentimetern tausendjährigem Zen herab über sie lustig machten. Vor allem der ehrwürdige Gaozong Tang, den ihr Madame Pichon, die Hausmeisterin vom Quai Voltaire 26, über den Urlaub anvertraut hatte. Wie hässlich er bei ihrer ersten Begegnung gewesen war, ganz zerknautscht unter seinen winzigen Blättern und in der grotesk verkrümmten Haltung eines Bettlers, der den Gnadenstoß erfleht! Mit großer Geduld hatte Pamela seine Lebensfreude wiedererweckt.
Um ihm die Hoffnung zurückzugeben, hatte sie ihm lange Passagen aus Glück von Matthieu Ricard vorgelesen. Sie war sich ganz sicher gewesen, dass das buddhistische Mitgefühl das Herz des entwurzelten Chinesen berühren würde. Und hatte recht behalten, denn nach und nach hatte Gaozong [ Glossar] wieder Haltung angenommen und zur stattlichen Erscheinung eines Kaisers der dreizehnten Tang-Dynastie zurückgefunden, die hinsichtlich der kulturellen Ausstrahlung des Reichs der Mitte nicht die schlechteste war. Das Ergebnis war so spektakulär, dass Madame Pichon in ihrer Begeisterung ihren Bonsai immer öfter in Pamelas Obhut gab.
In Wahrheit fühlte sich Gaozong einfach nicht wohl in der zugigen Hausmeisterloge am Quai Voltaire, wo er, vom Papageienkäfig bedrängt, auf der Heizung stand und ständig von den Vögeln angekreischt wurde. Also krümmte er sich und warf ein paar Blätter ab, gerade genug, um seine Besitzerin zu beunruhigen, die ihn umgehend in den kleinen Japanladen am Quai Malaquais zurückbrachte.
Pam fiel nicht darauf herein, sie hatte den Trick des Ehrwürdigen schnell durchschaut. Aber sie sagte nichts, und diese Zurückhaltung besiegelte eine Art Pakt zwischen ihnen. Irgendwann gewöhnte sie sich dann an, ihre Gefühle mit Gaozong zu teilen. Prinz Charles sprach schließlich auch mit seinen Rosen.
Die übrigen Bonsai standen in Reih und Glied in den Regalen. Links die Pensionsgäste, rechts, gut sichtbar im Schaufenster, die zum Verkauf bestimmten. Mindestens einmal täglich kam eine elegante Dame, ein älterer Herr oder ein Tourist durch die Tür, um zu fragen, wie teuer der hübsche Bonsai ganz oben in dem linken Regal sei. Pamela antwortete jedes Mal, er sei nicht zu verkaufen, sondern nur auf der Durchreise hier, sie sollten sich einen aus dem Schaufenster auf der anderen Seite aussuchen. Dann betrachteten sie jedes einzelne Bäumchen ausführlich, kniffen enttäuscht die Lippen zusammen und verließen das Geschäft am Ende mit leeren Händen. Pamela hatte schon versucht, den Lauf der Dinge zu ändern, indem sie die Bäume umgekehrt aufstellte, die Pensionsgäste ins Fenster und die verkäuflichen nach hinten. Aber das machte alles nur noch schlimmer: Die Kunden waren nicht mehr nur enttäuscht, sondern wütend und schimpften auch noch, wenn sie mit leeren Händen gingen.
»Erfolg ist eher eine Frage von Begabung und Talenten als eine des finanziellen Ertrags«, pflegte der Eigentümer des kleinen Japanladens zu sagen. Diese Haltung kam Pamela sehr entgegen, denn trotz ihres glücklichen Händchens in der Pflege der Bonsai, wobei sie den ersten Grundsatz der Schnittkunst, nie die Oberfläche der Blätter zu verringern, peinlich genau befolgte, war sie für den Verkauf absolut unbegabt. Die mehrere Hundert Jahre alten Bäumchen fanden nie einen Abnehmer und waren anscheinend dazu verdammt, bis in alle Ewigkeit in dem kleinen Japanladen zu bleiben.
An diesem Tag war alles anders, fast hätte man meinen können, die Bäume wüssten etwas. Aus ihren tausend kleinen grünen Augen blickten Pamela ebenso viele Vorwürfe an, und diese überwältigende vegetabile Missbilligung konnte sie nicht ertragen.
Die Ikebana-Bestellungen mussten noch warten. Pamela trippelte mit kleinen Schritten ins Hinterzimmer und setzte Wasser auf. Sie brauchte jetzt eine Tasse Tee, um angemessen über ihr großes Unglück nachzudenken.
*
Die Teezubereitung ist ein wunderhübsches Ritual, das Konzentration und Genauigkeit verlangt. Einen Suppenlöffel Kirschblütentee in die Kanne geben, das Wasser auf siebzig Grad und nicht ein Grad mehr erhitzen, fünfundvierzig Sekunden und nicht eine Sekunde länger ziehen lassen, abseihen und möglichst heiß trinken.
Pam verbrühte sich jedes Mal. Aber das war wahrscheinlich der Preis, den man für ein Leben als Geisha zahlen musste. Und Pam wollte unbedingt Geisha werden, seit sie alt genug war, etwas werden zu wollen.
In diesem Moment konzentrierte sie sich auf die Geräusche des Wasserkessels, wartete auf das Schrillen vor dem Brodeln, zu dem es nicht kommen durfte, weil der zarte Kirschblütentee kochendes Wasser nicht überstehen würde. Dann würde er schmecken wie im Hals stecken geblieben. Also ungefähr so, wie sie sich heute Morgen fühlte.
Während sie, in ihren meerblauen Kimono gehüllt, kerzengerade auf der äußersten Stuhlkante saß, spürte Pam, wie der schwarze Regen ihres persönlichen Hiroshima in ihr aufstieg. Sie trank ihren Tee in kleinen leisen Schlucken - ihr natürliches Taktgefühl hatte sie seit jeher vom geräuschvollen Schlürfen der Japaner abgehalten.
Der Kirschblütentee war schal geworden. Anstelle der gewohnten zarten Bitterkeit hinterließ er einen Geschmack von Asche und Verbranntem auf ihrer Zunge. Thads unerwartetes, brutales Verschwinden hatte die Wirkung eines Tsunami. Der Kummer, der es sich in ihrer Kehle bequem gemacht hatte, wurde mit glühend heißen kleinen Schlucken in ihre Brust verdrängt. Eine Weile lang glaubte Pam, sie könnte das Schluchzen, das sich in ihrer Herzgegend ansammelte, in literweise Kirschblütentee ertränken. Doch der Schmerz nahm eine andere Richtung, um sich seinen Weg hinaus zu bahnen. Zwei Tränen, erlesene Tauperlen, die der zarte Vorhang ihrer Wimpern nicht länger zurückhalten konnte, kullerten über ihre Wangen und zogen zwei makellos gerade Furchen durch ihr hell gepudertes Gesicht, bevor sie sich schließlich in Höhe ihres Kinns, das bei Pam hübsch zugespitzt war, vereinten. Mit einem Wimpernschlag wurde ihr Gesicht zu einem überfluteten Reisfeld und ihr Kurtisanen-Make-up zu einer ekelhaft schmierigen Brühe, die in dicken Tropfen auf ihre Kimonojacke fiel. Das Geisha-Bild, das sie sich jahrelang geduldig erarbeitet hatte, weichte auf und wurde von einem Sturzbach aus Tränen fortgeschwemmt.
Pamelas Japanbegeisterung reichte weit zurück. Kaum der Kindheit entronnen, hatte sie eine Leidenschaft für Yoko Tsuno entwickelt, die bezaubernde Weltraummechanikerin mit dem schwarzen Aikido-, Judo- und Kendo-Gürtel, deren in Spirou veröffentlichte Abenteuer sie faszinierten. Ungeduldig erwartete Pamela jedes Wochenende die Heimkehr ihres Vaters, um das ersehnte Heft, das gefaltet in seinem Aktenkoffer lag, in die Finger zu bekommen. Und allmählich färbte die unerschrockene Japanerin mit dem Haarschnitt von Mireille Mathieu (Nummer eins in Japan), die so harmlos aussah, es aber faustdick hinter den Ohren hatte, auf sie ab. Irgendwann gab ihre Mutter nach und meldete sie für einen Jiu-Jitsu-Kurs im Haus der Jugend und Kultur von Melun an. Jedes Mal, wenn sie ihren weißen Kimono anlegte, fühlte sich Pamela in ihrem Element. Leider blieb der Gürtel auch weiß, denn trotz aller Bemühungen machte Pam keinerlei Fortschritte. Irgendwann bekam sie dann doch noch ihren gelben Gürtel, nach fünf Jahren schwerster Depressionen aufseiten ihres Lehrers, den sein Verbandsdiplom nicht darauf vorbereitet hatte, mit einer so vollkommen erfolglosen Beharrlichkeit konfrontiert zu werden.
Als Pam später auf der letzten Umschlagseite von Das andere Geschlecht las: »Man wird nicht als Frau geboren, man wird es«, dachte sie, das Gleiche müsse doch auch für Geishas gelten. Ihr war durchaus bewusst, dass das nicht so einfach werden würde, zumal sie aus Melun-Sénart stammte. Trotzdem hatte sie sich über die Jahre eine Identität als Geisha zusammengebastelt. Es war ein kühnes Unterfangen gewesen, gegen den Strich von allem und allen um sie herum. Stoisch ertrug sie die Verachtung ihrer Mitschüler und das überhebliche Desinteresse ihrer Lehrer auf dem technischen Gymnasium, das Unverständnis ihrer Mutter und die wohlwollende Neugier ihres Vaters, der ihr allerdings irgendwann etwas zu aufmerksam unter den Kimono schaute.
Pam blieb ihrem Vorhaben treu, obwohl Yoko Tsuno mehr einer Manga-Puppe made in Belgium glich als einer traditionellen Kurtisane, obwohl ihre innere Geisha unbeständig war und aus lauter Versatzstücken bestand und obwohl ihr Verlobter Yvon sie deswegen verlassen hatte. Man wird eben nicht als Geisha geboren, sondern man wird es. Aber niemand kann einem sagen, wie lange das dauert.
In diesem Moment jedoch, an diesem Montagmorgen, hatte sie das Gefühl, dass ihr Kopf vor Schmerz explodiert und all ihre Gedanken in die Luft geflogen waren. Nun musste sie diese verstreuten Sinnsplitter erst wieder aufsammeln und zusammenfügen. Aufmerksam...
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