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[5|6]Doren Wohlleben
Anders als der Sammelbegriff >Kunst im öffentlichen Raum< (engl. >Public Art<), der seit einem halben Jahrhundert kontroverse gesellschaftspolitische wie wissenschaftliche Diskussionen auslöst,1 hatte sich die Bezeichnung >Literatur im öffentlichen Raum< lange Zeit kaum etabliert. Erst in den letzten Jahren kam es zur Gründung von Institutionen und Projekten, die sich dem Thema zuwenden: die Stabsstelle »Literatur im öffentlichen Raum« am Deutschen Literaturarchiv Marbach2 (vgl. den Beitrag von Heike Gfrereis), das Erlanger Graduiertenkolleg »Literatur und Öffentlichkeit«, europäische Forschungsprojekte und soziologisch-philologische Publikationen, die den Fokus auf das Verhältnis von Literatur, Öffentlichkeit und (digitalem) Raum legen.3 Ähnlich wie Kunst kann Literatur nämlich am >Place-Making< mitwirken, also Räume selbst konstituieren, sei es durch institutionell veranlasste Installationen, durch Ausstellungsobjekte von Künstlerpersönlichkeiten, durch kollektive Bürgerinitiativen oder anonymisierte, wenn nicht gar illegale Einzelaktionen.
Literatur im öffentlichen Raum greift in die räumliche Praxis, in das gesellschaftliche Leben von Menschen ein, die auf deren Rezeption, im Gegensatz zu einer Buchlektüre oder zu dem Besuch einer Lesung, zunächst nicht eingestellt sind. Sie widerfährt unerwartet Passanten:innen, meist in alltäglichen Situationen - bewegt und erregt (vgl. den Beitrag von Claudia Benthien und Norbert Gestring). Oft wird sie ignoriert oder erst auf den zweiten Blick registriert: Die Mundartpoesie auf einer Bäckertüte ähnelt in ihrer Literarizität einem Werbeslogan; sie wird als Lifestyle-Produkt täglich einverleibt wie das noch warme Brot (vgl. den Beitrag von Dirk Niefanger). Sogar ein Tattoo kehrt auf der Schreibfläche Haut ein inneres Leben nach außen, macht es öffentlich - Nora Gomringer erzählt eindrücklich von ihrer Tätowierung eines Gedichts ihres Vaters Eugen Gomringer.
Graffiti-Sprüche werden von manchen als Public Poetry wahrgenommen, von anderen als störende Schmierereien (vgl. den Beitrag von Stefan Wartenberg und Joachim Spurloser). Nicht immer lässt sich sofort erkennen, ob sie Teil des öffentlichen Gebäudes sind, das sie beschriften, oder dieses lediglich als Materialträger usurpieren: Im Frühjahr 2022 zierten große weiße Graffiti-Lettern in Majuskeln den Marburger Kunstverein und schrieben sich so in den Gesamttext Graffiti der Universitätsstadt ein: »Why can't [6|7]we live together«. Hierbei handelte es sich um keine nächtliche Untergrundaktion, sondern um den Titel der Ausstellung, eine Sammlung Florian Peters-Messers, der bekannte Positionen zeitgenössischer Kunst mit Werken junger Künstler:innen kombinierte und dabei »den Fokus [richtete] auf das Verhältnis zwischen Staat und dem Einzelnen, das Driften im öffentlichen Raum, zwischenmenschliche Begegnungen und Selbstbefragung«.4 Dieser Ausstellungstitel war zugleich der Titel eines dort präsentierten Bildes von Murat Önens und reflektierte das Verhältnis von Individuum, Beziehungen und Gesellschaft. Bei dem Bildtitel wiederum handelt es sich um ein intermediales Zitat: »Why Can't We Live Together« lautete ein pazifistischer Soul-Song sowie das gleichnamige erste Album von Timmy Thomas aus dem Jahr 1972, das im Folgejahr viele Chart-Listen anführte und durch den Einsatz einer frühen Rhythmusmaschine Musikgeschichte schrieb. Dass die Marburger Ausstellungseröffnung mit dem zum Frieden mahnenden Song-Zitat just einen Tag nach Beginn des russischen Angriffskriegs am 24. März 2022 stattfand, rückt künstlerische Öffentlichkeit und Tagespolitik auf unheimliche Weise zusammen. Zugleich wirkte die Frage nach dem Warum in Graffiti-Lettern wie ein Klageruf des Kunstgebäudes selbst, das in den Hochzeiten der Pandemie, wie alle Museen, geschlossen war. Ein soziales, kunst- oder literaturinteressiertes Zusammenleben in öffentlichen Räumen war lange Zeit nicht möglich.
Aktionen, die mit dem städtischen Raum interagieren, ästhetisch irritieren, wenn nicht sogar politisch intervenieren, Öffentlichkeit also nicht nur suchen, sondern selbst erzeugen, womöglich auch gesellschaftskritisch hinterfragen, gibt es in der Literatur seit jeher, genauso wie in den Bildenden und Darstellenden Künsten:5 vom anonymen Gedichtanschlag an Ampeln6 über internationale Plakataktionen der Literaturhäuser,7 umstrittene Fassadenlyrik,8 Ausstellungsinstallationen außerhalb der Museen bis hin zum gesellschaftlichen Event eines Festivals, das verschiedenartige urbane oder institutionelle Räume in die Choreografie mit einbezieht (vgl. den Beitrag von Julia Schöll).
Dass ein politisches Großereignis durch Literatur gerahmt wird, ist in Deutschland allerdings unüblich. In den USA hingegen hat das »Inaugural Poem« bei der Amtseinführung neuer Präsidenten seit den 1960er Jahren Tradition: eine Live-Lesung, die von US-amerikanischen Fernsehanstalten aufgenommen, weltweit ausgestrahlt und durch den Chronotopos des Augenblicks sowie die stark politische, aber auch ästhetische Performanz berühmt wird (vgl. den Beitrag von Reinhart Meyer-Kalkus). Auch in Deutschland wurde jüngst der Ruf nach einer Parlamentspoetin oder einem Parlamentspoeten laut: Als Vorbild diente das Amt des Poet Laureate im Vereinigten Königreich und in den USA sowie das Amt des Canadian Parli[7|8]amentary Poet Laureate. Auf Anregung der Autor:innen Simone Buchholz, Mithu Sanyal und Dmitrij Kapitelman setzte sich die Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt Anfang 2022 für die Schaffung eines solchen, von Schriftstellern bereits in den frühen 1990er Jahren vorgeschlagenen Amts ein: Es sollte Brücken bauen zwischen dem Parlament, einer Öffentlichkeit und einer kritischen, durchaus auch irritierenden Stimme zeitgenössischer Poesie. Die feuilletonistische Aufregung, die sich daraus entspann, war groß und wiederholte alle Vorzüge für und Vorbehalte gegen politische Lyrik. Potenzielle Peinlichkeiten eines solchen Amts aus Poetinnen-Perspektive fingiert Mara Genschel in ihren literarischen »SKIZZEN ZU EINER GROSSEN REDE«.
Doch nicht nur der städtische, auch der ländliche Raum erkennt zunehmend das politische Potenzial literaturtouristischer Attraktionen und gemeinschaftsbildender Aktionen, wie die Gründung der Deutschen Sebald Gesellschaft im Allgäu zeigt, die sich immer auch die deutsche Erinnerungsarbeit zur Aufgabe macht - und dies an Orten, die sich lange Zeit nicht mit der eigenen dunklen Vergangenheit auseinandersetzten (vgl. den Beitrag von Kay Wolfinger).
Innovative Konzepte einer Partizipation oder einer Poetik des Publikums prägen neue, ungewöhnliche Orte: Die Burg Hülshoff, Center for Literature9 im Umland von Münster ist geöffnet für alle, die Lust an Live-Literatur haben und zugleich experimentierfreudig sind, analoge und digitale Räume in Dialog miteinander zu bringen. Kunst und Literatur werden hier ausgehend vom Werk Annette von Droste-Hülshoff zum Anstoß für gesellschaftliche Debatten in vielfältigen Medienformaten (vgl. den Beitrag von Jörg Albrecht, Jenny Bohn und Dominik Renneke).
Graduelle Abstufungen der Öffentlichkeit lassen sich bei all diesen literarischen Stätten beobachten: So handelt es sich beim Literaturmuseum nach wie vor häufig um einen »>simulierten< öffentlichen Raum«,10 der traditionellen Regeln der Ausstellungspraxis folgt. Die jüngere kuratorische Praxis versucht jedoch zunehmend, den weniger institutionell abgesicherten, im engeren Sinne öffentlichen und offenen Raum zu nutzen: Nach dem Vorbild skandinavischer Museen wird immer mehr Platz für den Bereich Outreach/Vermittlung vorgesehen, für sogenannte dritte, autonom nutzbare Räume mit Angeboten für alltägliche Bedürfnisse, aber auch Spiel-, Erlebnis- und Experimentierräume (vgl. das Gespräch von Jan Sauerwald und Doren Wohlleben).
Bei einer Lesung, Poetik-Vorlesung oder Literaturpreis-Rede an Schulen, Universitäten sowie Akademien wird von Autor:innen gerne von einem >kuratierten< öffentlichen Raum gesprochen, der überwiegend akademischen Diskussionsprinzipien und Diskurspraktiken folgt.11 Werden diese (bewusst) verletzt, sind feuilletonistische Debatten genauso garantiert wie [8|9]die Aufmerksamkeit einer breiteren auch digitalen Öffentlichkeit, sodass institutionelle, mediale und performative Räume12 auf komplexe Weise zusammenwirken. Die sozialen Medien ermöglichen mit Webvideos partizipatorische Formen des Lesens. Diese bilden eine weltweite Community auch in Ländern und Regionen, in denen mangels Infrastruktur die Teilhabe am...
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