Schweitzer Fachinformationen
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1. Berlin, März 1921
Es war viel zu kalt für diese Jahreszeit.
Grau und Schwarz waren die alles beherrschenden Farben: An einem grau-schwarzen Himmel trieben grau-schwarze Wolkenfetzen. Ab und an sah die Sonne hervor, um zu bibbern und sich rasch wieder zu verziehen. Obwohl es schon Mitte März war, hielt der Winter die Stellung. Es regnete und schneite, regnete und schneite, tags wie nachts. Die meisten Berliner hatten einen Schnupfen.
Sein kurzes blondes, hier und dort schon silbern schimmerndes Haupthaar, der schütter sprießende, krause Schnurrbart und das sich nach vorn verjüngende Gesicht verliehen ihm das Aussehen eines überdimensionierten Nagetiers. Dazu kam, dass er einen speckig glänzenden, grauen Anzug sowie einen Binder in derselben Farbe trug und seine Kiefer in unablässiger Kaubewegung seine Unterlippe bearbeiteten. Kriminalbezirkssekretär Gerhard Wagner, ein hagerer Ostpreuße Anfang dreißig, nur wenig größer als die Gassenjungen, die er soeben mit den Worten »Das ist ein Tatort, ihr Mistkruken« vom Bürgersteig scheuchte, hatte schlechte Laune. Er war in eine Pfütze getreten, seine Schuhe sogen sich mit dem Schmutzwasser voll. Er spuckte aus, fluchte, spuckte wieder aus.
Den Leichnam hatte man längst wegschaffen lassen, die Zeugen waren zur Hauptvernehmung auf dem Revier, die Spurensicherung hatte sich verzogen, und die Arbeit am Tatort war so gut wie beendet. Was also wollte Eckart noch hier? Sich die Patronenhülse ansehen? Die Blutlache am Boden? Wollte er wissen, ob der Mörder gegen die Sonne gesehen hatte, als er den Schuss abgab? Oder traute er Wagner einfach mal wieder nicht zu, dass er in der Lage war, den organisatorischen Mist allein zu regeln?
Der Nager herrschte einen Schupo an, besser darauf zu achten, dass die Schaulustigen nicht durch die Spuren trampelten. Dann war er wieder zurück in seiner Gedankenwelt und zerbiss seine Lippe.
Eckart. Manchmal schnupperte dieser verrückte Seelenklempner durch Tatortwohnungen wie ein Bluthund, der seine Witterung aufgenommen hatte. Und Rosenberg, sein Judenbengel, immer um ihn herum, sah ihn dann stets von schräg unten mit seinen großen Augen an, notierte sich jeden Unsinn in den Kladden, die er immer mit sich herumtrug. Sieben Jahre war er, Wagner, älter, außerdem schon viel länger in Berlin, und trotzdem hatten Rosenberg und er denselben Dienstgrad. Das konnte ja nicht mit rechten Dingen zugehen! Höchste Zeit, dass diese Zustände sich änderten! An allem hatten Leute wie dieser Eckart Schuld, kämen die Kaisertreuen wieder ans Ruder, würde es den beiden schlecht ergehen!
Wagner tat einen erregten Schritt zur Seite, als wollte er mit dem linken Bein die ganze Demokratenbrut von der Erdoberfläche wischen. Dabei trat er erneut in eine Pfütze. Sie war tiefer, Wasser und Straßenkot schwappten über das Futterleder ins Innere des Schuhs, beim Anheben des Fußes war ein schmatzender Laut zu hören. Die Kollegen lachten, Wagner ballte die Faust in ihre Richtung. Dann hörte er das vertraute Motorengeräusch.
Kriminaloberkommissar Dr. Andreas Eckart kam im Mordauto des Polizeipräsidiums, einer schwarzen Mercedes-Limousine, in die Hardenbergstraße vorgefahren. Sein Assistent Ephraim Rosenberg spielte wie so oft den Chauffeur.
Eckart war ein groß gewachsener und, obwohl schlank, in seinen Bewegungen ein wenig unbehände wirkender Enddreißiger, der sich regelrecht aus dem Wagen herausschälen musste. Er hatte nachtschwarzes Haar, ein grünes und ein braunes Auge, darunter einen Schmiss auf der linken Wange; eine eigentümlich fahle Gesichtsfarbe trug dazu bei, dass sich die Augenränder, die er auch dann hatte, wenn er einmal ausgeschlafen war, noch dunkler ausnahmen. Selbst wenn er frisch rasiert war, sah man einen blauen Bartschatten in seinem Gesicht.
Rosenberg, der immer mit ihm Schritt zu halten sich bemühte, war Mitte zwanzig. In seiner Kindheit in Potsdam hatte er den künstlerisch dilettierenden Freundinnen seiner Mutter Modell gestanden. Wahrscheinlich als Putte. Er hatte lockiges blondes Haar und ein weiches, fast mädchenhaft wirkendes Gesicht, das ihn um Jahre jünger erscheinen ließ. Nur die Hornbrille, die ihm ein intellektuelles Aussehen verlieh, und der aus England stammende, weiße Trenchcoat verschafften ihm eine gewisse Autorität im Kollegenkreis.
Als Eckart in seinem langen schwarzen Ledermantel und sein Kollege an den Tatort herantraten, schien es Wagner, als näherte sich eine große Krähe, neben der ein weißer Pudel dahinjagte.
Rosenberg nahm seine Brille ab und blinzelte in den Regen. Eckart nickte Wagner zur Begrüßung zu.
»Bringen Sie mich auf den neuesten Stand«, sagte der Kommissar und setzte seinen Hut auf.
»Toter Türke«, schnarrte Wagner. Er war unentwegt damit beschäftigt, seine Schuhe vom Straßenschmutz zu reinigen.
»Und wo ist er?«
»In der Wohnung der Witwe.«
»Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?«
Eckart funkelte seinen Untergebenen von oben herab an. Er war mehr als einen Kopf größer als Wagner.
»Wer hat das veranlasst?«
»Da hat irgendein hohes Tier angerufen.«
»Ein hohes Tier? Was denn für ein hohes Tier?«
»Vom Auswärtigen Amt.«
»Soso, vom Auswärtigen Amt. Fabelhaft, Wagner, jetzt fehlt uns die Leiche. – Rosenberg, Sie kümmern sich darum, dass der Tote so schnell wie möglich in die Rechtsmedizin gebracht wird.«
Eckart überlegte. Auswärtiges Amt. Das ließ auf nichts Gutes schließen. Immer wenn sich Wichtigtuer aus der Regierung einmischten, war ein »nasser Fisch« zu befürchten, ein Fall, der wohl nie gelöst werden würde. Er verscheuchte den Gedanken wieder.
»Raubmord?«, fragte er.
»Deutet nichts darauf hin, Herr Kommissar. Wir haben Papiere und Geld bei ihm gefunden.«
Wagner reichte seinem Vorgesetzten einen Ausweis.
»Ali Sai Bey. Geschäftsmann.«
Eckart öffnete den Pass mit dem grün-goldenen Wappen des Osmanischen Reichs und hielt ihn etwas über Augenhöhe ins Licht, um zu erkennen, ob die Stempel echt waren.
»Geht’s etwas genauer?«
»Obsthändler.«
»Obsthändler?«
Eckart fasste Wagner scharf ins Auge. Dann sagte er sehr langsam: »Na, unser Obsthändler muss ein ganz schönes Früchtchen gewesen sein, wenn sich das Auswärtige Amt so um seine Leiche sorgt.«
Der Ermittler sah sich um. Der Tote musste vor Nummer 17 gelegen haben, zwischen Fasanen- und Joachimsthalerstraße. Keine hundert Meter bis zum Bahnhof Zoo. Eine der belebtesten Gegenden Charlottenburgs – wer hier jemanden umbrachte, kam nicht weit. Er begann einen Halbkreis um den Tatort zu beschreiten. Es war, als wollte er den fehlenden Leichnam an den ihm zugehörigen Platz zurückstarren. Dann ging er schnellen Schritts die Straße hinauf Richtung Hochschule der Bildenden Künste, anschließend hinab, der Gedächtniskirche entgegen, begleitet von den missbilligenden Blicken Wagners. Nachdem er Orientierung gewonnen zu haben schien, kehrte er zu seinen jüngeren Kollegen zurück.
»Gut. Was wissen wir, Rosenberg?«
Der Angesprochene zog ein schon reichlich zerfleddertes Notizbuch aus seinem Jackett und begann zu lesen.
»Erste Zeugenaussagen, durch die Schupo vorgenommen: Ein orientalisch aussehender junger Mann begegnet einem orientalisch aussehenden älteren Mann. Sie gehen aneinander vorbei. Plötzlich dreht sich der Jüngere, er …«
»Halt, Rosenberg«, rief Eckart, »kommen Sie!«
Er zog seinen jungen Kollegen mit sich.
»Sie sind das Opfer, ich der Täter. Woher komme ich?«
Rosenberg orientierte sich neu in seinen Aufzeichnungen.
»Sie gehen eine Zeit lang auf der anderen Straßenseite Richtung Fasanenstraße. Dann wechseln Sie auf meinen Bürgersteig und gehen an mir vorbei.«
Eckart überquerte rasch die Straße, die Augen fest auf den Boden geheftet, sodass er zwar dem Grünzeug ausweichen konnte, das sich zwischen den Fahrbahnen befand, aber beinahe von einem Wagen überfahren wurde. Erst dessen lautes Hupen ließ ihn wieder den Kopf heben.
»Gehen Sie los!«, rief er Rosenberg vom anderen Bürgersteig zu. Beide Männer setzten sich in Bewegung. Auf halber Höhe querte Eckart die Straße, blickte dabei zu den offenen Fenstern hinauf, aus denen Neugierige herabstarrten, er sah zu Rosenberg, wieder zu den Fenstern. Schließlich fixierte er seinen Assistenten mit solcher Vehemenz, dass seine Augenlider zu zittern begannen. Kaum war er an ihm vorüber, rief der:
»Jetzt ziehen Sie eine Pistole. Sie schießen mir aus nächster Nähe in den Hinterkopf. Ich falle um, ein Zeuge sagt aus, meine Schädeldecke sei regelrecht aufgeklappt, ich …«
»Fallen Sie um, Rosenberg!«
»Ich? Aber … hier ist alles nass, Herr Kommissar …«
Rosenbergs Augen flehten, auch wenn er wusste, dass Einspruch zwecklos war.
»Sie tragen doch einen Regenmantel! Außerdem haben Sie eben einen Schuss in den Kopf erhalten.«
Rosenberg brachte sich zögerlich in kauernde Stellung, schlang den Mantel um seine Beine, dann setzte er sich und versuchte dabei so wenig Fläche wie möglich einzunehmen. Seine Stimme bekam einen weinerlichen Ton. Wagner lachte still in sich hinein: Es gab Momente, da war es herrlich, nicht der Liebling vom Chef zu sein.
»Weiter, was mache ich?«
»Sie werfen die Pistole hin und flüchten Richtung Fasanenstraße.«
Eckart setzte sich in Bewegung, blieb dabei aber in Rufweite.
»Auf dem Bürgersteig gegenüber hat sich inzwischen eine Menschentraube gebildet. Einige beginnen mit...
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