Schweitzer Fachinformationen
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Es fühlt sich so an, als hätte ich mich mein ganzes Leben darauf vorbereitet, dieses Buch zu schreiben. Genauer noch: Es fühlt sich so an, als hätte mein ganzes Leben mich darauf vorbereitet, dieses Buch zu schreiben. Manche Themen, manche Kämpfe, manche Hoffnungen suchen wir uns nicht freiwillig aus. Sie kommen zu uns. Werden uns buchstäblich in die Wiege gelegt. Eine meiner frühesten so gelernten Wahrnehmungen war es, dass es einen erheblichen Unterschied ausmache, ein Junge* oder ein Mädchen* zu sein - und dass ich so sehr daran verzweifelte. (Zur Verwendung des Asterisks siehe S. 56.)
Ich habe nur sehr wenige Erinnerungen an meinen Großvater. Am eindrücklichsten erinnere ich mich an Folgendes: Mein Cousin und ich, sieben- und achtjährig, saßen auf dem großväterlichen Sofa. Mein Opa saß auf dem Sessel links neben uns. Wir schauten das (in der DDR unerwünschte) ZDF-Werbefernsehen. Unvermittelt fragte unser Opa uns nach den Namen der Mainzelmännchen. Sein bohrender Blick, der bereits wusste, wie der Test ausgehen würde, lastet noch heute auf mir: Mein Cousin kannte sie alle, ich keinen. Mein Opa lachte und sagte etwas wie, dass Jungen eben klüger seien als Mädchen. Das war weder das erste noch das letzte Mal, dass er so etwas sagte. Ich fand das ungerecht. Meine kindliche Empörung beschränkte sich auf den Gedanken, dass mein Cousin (anders als ich) alle diese possierlichen Figuren kannte, weil er sie (dank Westverwandter, die ich nicht hatte) als Spielzeugfiguren besaß. Das zu sagen, traute ich mich nicht. Stattdessen lernte ich noch am selben Tag die Namen der Mainzelmännchen auswendig, mit Hilfe meines Cousins. Was mir als Kind nicht aufgefallen war, ist, dass mein Opa als Mann* natürlich ein grundlegendes Selbstinteresse an der vermeintlichen Wahrheit des Satzes hatte, dass «Jungen klüger seien als Mädchen». Diese Weltsicht zementierte ihm seine Thronrolle innerhalb der Familie - etwa gegenüber seiner Frau*, die ganz klassisch nach der Hochzeit zur Hausfrau geworden war, um für die gemeinsame Familie zu sorgen und in seinem mittelständischen Betrieb mitzuarbeiten. Anerkennung erfuhr sie dafür nicht. Alles lief unter dem Stichwort «helfen», obwohl sie kochte und die Buchführung machte. Auch ich rang vergeblich um die Anerkennung meines Großvaters. Ich arbeitete etwa hart daran, ein besseres Zeugnis als mein Cousin zu bekommen. Doch das blieb Sisyphusarbeit. Denn obwohl ich (anders als er) in der Schule überwiegend Einsen bekam, blieb mein Großvater dabei, dass ich weniger klug sei, mir weniger zutrauen dürfe und mir weniger zugetraut und gestattet werden könne. Ich wurde also ebenso wenig von meinem Opa respektiert, wie ich von seinem Wertesystem (und den Mainzelmännchen; allesamt Männer*) repräsentiert wurde. Solche Zusammenhänge verstand ich allerdings damals noch nicht. Heute scheint es mir folgerichtig, dass ich als Kind davon träumte, ein Junge* zu sein. Nicht Freuds «Penisneid» löste das in mir aus, sondern der Wunsch, anerkannt und repräsentiert zu werden. Ich kam nicht auf die Idee, Erzählungen über unterlegene Mädchen* oder die fehlende Repräsentation mutiger, starker Mädchen* zu ändern; ich wollte mich ändern. Meine Tochter ist da weitaus smarter. Schon mit sechs Jahren stellte sie erzürnt fest, dass viele der Geschichten, die sie liebt, nur von Jungen* erzählen (und Mädchen* kaum das Fantasieland von Prinzessinnen oder Pferdeflüsterinnen verlassen). Gäbe es auch mal eine Drachin? Wir beschlossen, die Charaktere einfach nach Belieben zu ändern. Aus Adeus wurde Adea. Und das Lied, das ich als Kind beim Eintauchen in kaltes Seewasser sang («Adam und Eva saßen auf dem Sofa, Sofa krachte, Adam lachte, Eva schrie, Kikeriki»), wurde bei ihr kurzerhand zu: «Eva und Adam saßen auf dem Sofa, Sofa krachte, Eva lachte, Adam schrie, Kikeriki.» Eva wird zuerst genannt, und sie ist es, die lacht, statt wegen der Kälte des Wassers aufzujaulen. So wie ich mich damit eingerichtet hatte, mich mit Jungen* als Helden zu identifizieren, hatte ich die mich als Mädchen* angeblich repräsentierende Eva immer ängstlich sein lassen. Bei meiner Tochter läuft das entgegengesetzt. Die Umkehrung der Codes ist keine Lösung, aber sie ist ein Schritt, die bestehende Ordnung herauszufordern. Zum Glück für mich gab es Pippi Langstrumpf, und ich liebte sie, weil sie kein stereotypes Mädchen war wie ihre Freundin Annika. Den Rassismus im Roman übersah ich damals allerdings.
Die Pubertät erlebte ich als Dauerschock. Und zwar nicht nur, weil es nicht mehr ausreichte, mit Matchbox, Fußball oder Hass auf Puppen als Junge* zu posieren. Ich erschrak, als ich zum ersten Mal eine Schattensilhouette von mir sah, auf der sich Brüste abzeichneten. Ich drehte und wendete mich, dachte, es wäre ein Schattenfehler. Aber es war ein Fehler meines Körpers, so nahm ich es zumindest wahr. Auch die erste Menstruation kam mir so vor. Ich fühlte mich unvorbereitet, hatte keine Vokabeln für meine Körperteile und die neuen körperlichen Entwicklungen. Ich hatte zwar Denkst du schon an Liebe?, die Aufklärungs-Bibel der DDR, aus der Bibliothek entliehen, doch ich war sogar zu «prüde» gemacht worden, um sie gründlich zu lesen.[1] Von Verstehen oder Einprägen konnte gar keine Rede sein. Am Tag, als die Menstruation begann, versuchte ich von zu Hause abzuhauen. Ich schämte mich. Es ging schief, weil ein Nachbar mich sah und fragte, was ich so spätabends noch draußen machte. Als ich nach Hause kam, suchte meine Mutter (die es selbst nie besser kannte) riesige Einlagen und Gummihosen heraus, und das Einzige, was sie zu mir sagte, war: «Lass es nie Vati sehen!» Das passte dazu, dass er sich immer darüber empörte, wenn während seines Abendessens Werbung für Monatsbinden im Fernsehen lief. Ich war also dreckig, was mich nicht gerade motivierte, mich in meinem neuen Körper wohlzufühlen. Doch es kam noch schlimmer. Mit dem Wachsen meiner Brüste begann die ewige Tortur, dass irgendwelche Jungen*, Männer* oder Frauen* sich berechtigt fühlten, meine Brüste zu kommentieren oder zu berühren. Ich liebte es zu joggen, lief jeden Tag denselben Weg, zur selben Zeit. Nun tauchten auf der mir wohlbekannten Route plötzlich lachende Männer* an den Toren ihrer Schrebergärten auf. Schleichend gestand ich mir ein, dass sie sich miteinander derb amüsierten, weil sie meine wackelnden Brüste kommentierten. Ich hörte auf zu joggen. Doch zur Schule musste ich gehen, und da wartete nicht nur der ewige Sportlehrer, der beim Bockspringen grapschte. Dem Biolehrer, der während des Abiturs den Mädchen* an die Brüste fasste, dem entkam ich zum Glück. Sein Handeln hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet, und ich gehörte zu den Glücklichen, die sich rechtzeitig für eine andere (viel schwerere) Wahlaufgabe entscheiden konnten, um ihm zu entgehen. Ihm passierte nichts, weil er SED-Parteisekretär der DDR-Schule war. Jahre zuvor sperrten mich Jungen* ein. Sie forderten mich auf, sie zu küssen. Viel härter aber hatte es meine beste Freundin getroffen. In einer Baracke der Schule zogen sie drei Jungen* aus, banden sie halbnackt an einen Stuhl und begrapschten sie. Die Täter kamen mit einer lächerlich harmlosen Schulstrafe glimpflich davon, weil der Anführende der Sohn eines Magdeburger Fußballstars war. Meine Freundin aber musste umziehen. So entschieden das ihre Eltern in weiser Voraussicht. Das war der Beginn meines Lebens in Angst vor Jungen* und Männern* und des Versuchs, mit Vermeidungsstrategien Vergewaltigung und sexueller Nötigung zu entgehen. Doch dieser systematischen Gewalt konnte ich nicht entgehen. Bis heute nicht.
Die #MeToo-Debatte (2017) und noch mehr #aufschrei (2013) haben mich verwundert. Die eigentliche Nachricht wäre doch gewesen herauszufinden, ob überhaupt eine Frau* an einem Hashtag #MeeNot, mir ist es nicht passiert, oder #no_aufschrei, ich muss nicht aufschreien, hätte teilnehmen können. Ich glaube, dass es davon nur sehr wenige Frauen* auf diesem Planeten und der Geschichte seiner Welten gibt. Ich wurde zwar rein formell gesehen in eine Zeit und Gesellschaft hineingeboren, in der ich durch Gesetze geschützt werden sollte; doch wer schützte mich vor den Gesetzeshüter*innen? Als 14-Jährige wurde ich sexuell belästigt, auf dem Weg zum Gitarrenunterricht. Meine Mutter ging mit mir zur zuständigen Polizeistation, und dort geschah die nächste sexuelle Nötigung. Zwei Polizisten, Männer*, saßen vor einem Nacktbild einer Frau* und forderten mich wieder und wieder auf, den Tathergang zu beschreiben. Das ging sogar so weit, dass ich wiederholt die Größe und Form des Penis beschreiben sollte, der mir hingehalten worden war. Ich ging nie wieder zur Polizei,...
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