Schweitzer Fachinformationen
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Fährt man dreißig Meilen in den Kaingaroa Forest, fragt man sich, ob es auf der Erde überhaupt noch etwas anderes gibt als Bäume. Was man sieht: Monterey-Kiefern, jede einzelne rund dreißig Meter hoch, in ordentlichen Reihen soweit das Auge reicht. Der Wald ist so riesig wie dicht: Baum um Baum, Reihe für Reihe, Meile für Meile. Die Gleichförmigkeit wird nur von zwei Dingen gestört. Erstens die Straße, die die schattenhafte Landschaft durchschneidet, und zweitens die Monterey-Sprösslinge, die hier und da vorwitzig aus dem Boden schießen. Diese kleineren Exemplare der Wildwuchskiefern ähneln den Weihnachtsbäumen meiner Kindheit - fröhlich, aber auch ein bisschen armselig, jeder mit bloß ein paar dürftigen Zweigen, gerade mal genug für eine einzige Lamettagirlande, die den deutlich sichtbaren Stamm nicht mal annähernd versteckt.
Obwohl Kaingaroa von Menschen angelegt wurde - der Wald ist die zweitgrößte Holzplantage auf der Südhalbkugel -, fällt es leicht, sich hier vollkommen abgeschieden zu fühlen.
Der Wald ist dafür bekannt, Jäger und Wanderer regelrecht zu verschlucken, sie zwischen den Bäumen verloren gehen zu lassen. Es gibt häufig dichte Nebel, und dem Licht fällt es schwer durchzudringen, vor allem nachdem die Sonne hinter den grünen Gipfeln des Te-Urewera-Berglands untergegangen ist. Tannennadeln und Zapfen sammeln sich auf dem Waldboden, und die Luft ist vom Duft von Harz und Kiefern erfüllt.
Aber nach einer Stunde, wenn man gerade sicher ist, dass man mitten im Nirgendwo angekommen ist, ist da eine Lücke zwischen den Bäumen, und es gibt Zeichen menschlichen Lebens: ein heruntergekommenes Forstwirtschaftsgebäude mit einem rostigen Schild. Ein Blockhaus-Motel mit kleinen, gepflegten Zimmern. Dann, um die Ecke, eine Tankstelle mit drei Zapfsäulen, die den Anfang einer Stadt namens Murupara markiert.
Als junges Mädchen habe ich die Fahrt durch diesen Wald zahllose Male unternommen.
Schließe ich heute die Augen, kann ich mich sofort in Gedanken dorthin versetzen: die lange, einsame asphaltierte Straße, all die grauen Gebirgsketten, raue, bis in den Himmel ragende Baumstämme.
Als ich zum ersten Mal in Murupara war, war ich vier Jahre alt, hatte eine Erkältung und saß auf dem Rücksitz des beigen 1979er Toyota Corona meiner Eltern. Damals wurde mir im Auto immer schlecht, was ziemlich sicher durch meine Sitzerhöhung aus Cord, die kaum mehr war als ein Keil aus festem Schaumstoff mit einem Stoffüberzug, verschlimmert wurde. Dadurch saß ich zwar höher, aber jede Kurve fühlte sich so noch schlimmer an. Neben mir meine Schwester Louise, die nur anderthalb Jahre älter war als ich. Auch sie saß auf einer Sitzerhöhung, und auch ihr war übel, aber nicht so sehr, dass sie aufhörte, meine Eltern mit Fragen zu löchern: Wie lange noch? Warum können wir nicht anhalten? Was, wenn ich mal muss?
Wir beide hielten unsere Teddybären in den Armen, die uns auf unheimliche Art ähnelten. Meiner hatte ein freundliches rundes Gesicht, einen kompakten Körper mit kurzen Armen und Beinen und wurde schlicht Teddy genannt. Der Bär meiner Schwester, Cookie, war fast doppelt so lang wie meiner, mit schlankem Körper und langen Beinen.
Die Fenster im Auto waren gerade so weit heruntergekurbelt, dass ich die Finger über den Rand hängen und damit in der frischen Luft spielen konnte. Unter meinen baumelnden Füßen befanden sich die Gegenstände, die meine Mum auf jede lange Autofahrt mitnahm: ein altes Handtuch und ein leerer, großer Kunststoffbehälter, in dem früher mal Eiscreme gewesen war, für den Fall, dass wir uns übergeben mussten. Mum warf nie etwas weg, und selbst dieser Behälter würde wahrscheinlich auch später wiederverwendet, um selbst gebackene Blaubeermuffins aufzubewahren. Zwischen Louise und mir, in einer Transportbox mit kleinen Löchern im Deckel, befand sich der Reisepassagier, dem von uns allen am unwohlsten war: unser grauer Kater Norm, den wir aus dem Tierheim hatten. Das Beruhigungsmittel vom Tierarzt ließ langsam nach, denn er drückte sein Gesicht gegen den Deckel der Box, sodass die Schnurrhaare durch die Löcher lugten.
Es war Umzugstag. Wir hatten mehr als zwei Stunden nordwestlich, in der Stadt Hamilton, Freunde und Familie zurückgelassen, weil mein Dad einen neuen Job als Polizei-Sergeant in Murupara hatte, ein Ort, den ich überhaupt nicht kannte.
Mein Vater war in einer großen Familie in Te Aroha aufgewachsen, einer Farmer-Gemeinde im Schatten der Berge entlang des Waihou River. Wie jede neuseeländische Region war auch Te Aroha zunächst von den Maori besiedelt worden, die in Waka (Kanus) von Polynesien, von Sternen, Meeresdünung und Unterwasserwelt geleitet, hinübernavigiert waren. Seit Hunderten von Jahren lebten Maori-Ethnien in diesem Land. Der Legende nach stieg das große Oberhaupt Kahu auf den Gipfel eines Berges, um sich zu orientieren, und war so bewegt, seine Heimat von diesem Aussichtspunkt aus zu sehen, dass er sie Te Muri-aroha-o-Kahu, te aroha-tai, te aroha-uta nannte, was »die Liebe von Kahu für die Menschen an den Küsten und an Land« bedeutet. Heute ist der Gipfel als Mount Te Aroha, der Berg der Liebe, bekannt.
Die Familie meines Dads hatte in Te Aroha eine Firma für Rohrverlegung, und Ardern and Sons hatte in der Gegend die meisten Abflüsse gegraben. Als Junge hatte mein Dad in der Firma ausgeholfen, aber als seine Familie zur Church of Jesus Christ of Latter-day Saints konvertierte, vielen als Glaubensgemeinschaft der Mormonen bekannt, verließ Dad sein Zuhause, um auf das Mormonen-Internat in Temple View zu gehen. Nach einer kurzen Tätigkeit in einer Blei- und Zinkmine trat er im Alter von neunzehn Jahren in den Dienst der neuseeländischen Polizei und war zunächst uniformierter Polizist in Auckland und dann bei der Kriminalpolizei in Hamilton.
Dad ist ungefähr einen Meter achtzig groß und sah immer jünger aus, als er war, mit dichtem, dunklem Haar, das er damals zottelig nach hinten gekämmt trug, und mit einer Tolle an der Stirn, sodass er Fonzie aus der Fernsehserie Happy Days ähnelte. Dad ist extrovertiert, aber nachdenklich, mit einer ruhigen Stimme, die ich so gut wie nie laut erhöht hörte.
Sogar wenn Neuseelands geliebtes Rugbyteam, die All-Blacks, im Fernsehen zu sehen war, schaute Dad mit stiller Intensität zu, und sprang bloß auf, wenn er entweder seine Euphorie oder seine Enttäuschung nicht mehr zurückhalten konnte.
In meiner Kindheit nahm er an Zehn-Kilometer-Läufen teil. Wenn er nach Hause kam, tauschte er die Laufschuhe gegen abgetragene Schaffellpantoffeln und machte es sich in seinem La-Z-Boy-Sessel bequem, um Zeitung zu lesen. Dad ist am glücklichsten, wenn er liest, am liebsten über Weltgeschichte, die Erkundung der Antarktis und den großen Forschungsreisenden Ernest Shackleton.
Vor allem aber interessierte sich Dad für Menschen - er wollte immer etwas über deren Leben erfahren. Als Polizist wollte er nicht nur wissen, welche Verbrechen begangen worden waren, sondern auch, warum. Ich hörte ihn oft sagen, dass die Polizei nicht einfach nur alle festnehmen kann. Wenn man Kriminalität bekämpfen will, so meinte er, musste man verstehen, was zuvor passiert war. Er stellte gute Fragen, und die Leute redeten mit ihm. In Verhören meines Vaters war es nicht ungewöhnlich, innezuhalten und festzustellen: »Zumindest hören Sie mir zu.« Das soll nicht heißen, dass er weichherzig war. Ich bezweifle, dass man das von jemandem behaupten kann, der bei Verbrechen wie Morden, Vergewaltigungen, Raubüberfällen und Gang-Aktivitäten ermittelt hat. Er betrachtete Probleme bloß anders.
Die Polizeiarbeit Neuseelands unterscheidet sich von der in vielen anderen Ländern. Zum einen tragen Polizisten nicht immer Waffen. Und obwohl sie die Befugnis haben, Verhaftungen vorzunehmen, wenden sie ein Prinzip des britischen Rechtssystems an, das als »Policing by Consent« bekannt ist. Das heißt die Grundvorstellung, dass Polizisten Bürger in Uniform sind und ihre Autorität aus der Zustimmung und Zusammenarbeit der gesamten Gesellschaft stammt. Auch wenn es in der neuseeländischen Polizei Beispiele für Machtmissbrauch gab, ist »Policing by Consent« der Maßstab, das Vorbild, dem die Beamten folgen sollen, und an dieses Prinzip glaubte auch mein Vater.
1980, vier Jahre vor unserer ersten Fahrt nach Murupara als Familie, begann mein Vater sich auf die Prüfung zum Detective Constable vorzubereiten. Damals war er bereits seit mehreren Jahren verheiratet und meine Mum - eine zierliche, energiegeladene Frau mit der pragmatischen Veranlagung eines Menschen, der auf einer Milchfarm aufgewachsen war - war im neunten Monat ihrer zweiten Schwangerschaft. Mum erbrach sich tagein, tagaus. In der Nähe von Nahrungsmitteln zu sein, wurde so mühsam, dass sie eine Plastikmatte auf den Küchenboden legte, den Hochstuhl meiner Schwester daraufrollte, das Essen auf das Tablett des Stuhls stellte und meine Schwester selbst essen ließ. Mum spähte bloß vom Türrahmen aus und beobachtete Louise aus einer Entfernung, die groß genug war, dass sie das Essen nicht riechen konnte, aber immer noch in Reichweite, falls Louise sie brauchte.
An einem kalten, sonnigen Wintertag, am Morgen von Dads dreistündiger Prüfung zum Detective Constable, wünschte ihm Mum viel Glück, als er das Haus verließ.
Es dauerte nicht lange, und schon überkam Mum der Brechreiz. Sie eilte durch den Flur ihres kleinen, holzverkleideten Hauses zum Badezimmer. Und dann passierte es: Die Fruchtblase platzte. Damals gab es noch keine Handys und damit keine Möglichkeit, Dad schnell zu kontaktieren. Und selbst wenn es Handys gegeben hätte, bezweifle ich,...
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