Schweitzer Fachinformationen
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Anna joggte entlang der East 54th Street nach Westen, vorbei am Museum of Modern Art. Sie überquerte die 6th Avenue und bog dann nach rechts auf die 7th Avenue. Auf die vertrauten Wahrzeichen - die massive LOVE-Skulptur, die die Ecke an der East 55th Street dominierte, sowie die Carnegie Hall - verschwendete sie keinen Blick, als sie die 57th Street überquerte. Ein Großteil ihrer Energie und ihrer Konzentration floss in den Versuch, den frühmorgendlichen Pendlern auszuweichen. Anna hielt den Lauf zum Central Park nur für eine Aufwärmübung und setzte die Stoppuhr an ihrem linken Handgelenk erst in Gang, als sie durch das Artisan Gate in den Central Park einlief.
Sobald Anna einen gleichmäßigen Rhythmus gefunden hatte, versuchte sie, sich auf das Treffen mit dem Vorsitzenden zu konzentrieren, das für acht Uhr an diesem Morgen angesetzt war.
Anna war sowohl überrascht als auch irgendwie erleichtert gewesen, als Bryce Fenston ihr nur wenige Tage, nachdem sie als stellvertretende Leiterin der impressionistischen Abteilung bei Sotheby's gekündigt hatte, eine Stelle bei Fenston Finance anbot.
Ihr unmittelbarer Vorgesetzter bei Sotheby's hatte deutlich durchblicken lassen, dass ihr berufliches Fortkommen noch geraume Zeit auf Eis gelegt würde, nachdem sie zugegeben hatte, für den Verlust einer bedeutenden Sammlung an den Hauptkonkurrenten Christie's verantwortlich gewesen zu sein. Anna hatte den betreffenden Kunden monatelang gehätschelt, umschmeichelt und ihm gut zugeredet, sich bei der Versteigerung des Familienbesitzes für Sotheby's zu entscheiden, und sie hatte naiverweise angenommen, wenn sie dieses Geheimnis ihrem Geliebten erzählte, würde der es diskret behandeln. Schließlich war er ja Anwalt.
Als der Name des Kunden prompt im Kunstteil der New York Times auftauchte, verlor Anna sowohl ihren Liebhaber als auch ihre Stelle. Da half es auch nicht, dass dieselbe Zeitung einige Tage später berichtete, Dr. Anna Petrescu habe Sotheby's in »beiderseitigem Einvernehmen« verlassen - ein Euphemismus für den Rauswurf -, und der Kolumnist noch hilfreich anmerkte, dass Anna sich gar nicht erst die Mühe machen solle, sich bei Christie's um eine Stelle zu bewerben.
Bryce Fenston wohnte regelmäßig allen großen impressionistischen Auktionen bei und hatte Anna dabei nicht übersehen können, die stets neben dem Podium des Auktionators stand und sich Notizen machte. Ihr hatte stets jedwede Andeutung widerstrebt, dass ihr verblüffend gutes Aussehen und ihre durchtrainierte Figur der Grund waren, warum Sotheby's sie regelmäßig an einer so augenfälligen Position platzierte und sie nicht einfach neben die anderen Deuter an der Seite des Auktionssaales aufstellte.
Anna sah auf ihre Uhr, als sie unter dem Playmates Arch hindurchlief: zwei Minuten 18 Sekunden. Sie hatte immer das Ziel, die Schleife in zwölf Minuten zu laufen. Das war nicht besonders schnell, aber es ärgerte sie dennoch, wenn sie überholt wurde, und das machte sie vor allem dann rasend, wenn eine Frau sie überholte. Anna war beim letztjährigen New York Marathon allerdings als 97. ins Ziel eingelaufen, darum wurde sie bei ihrer morgendlichen Runde im Central Park nur selten von etwas auf zwei Beinen überrundet.
Ihre Gedanken kehrten zu Bryce Fenston zurück. Die Insider der Kunstwelt - Auktionshäuser, die führenden Galerien und private Händler - hatten schon seit einiger Zeit gewusst, dass Fenston eine der größten impressionistischen Sammlungen anhäufte. Neben Steve Wynn, Leonard Lauder, Anne Dias und Takashi Nakamura gehörte er regelmäßig zu den letzten Bietern bei großen Auktionen. Bei solchen Sammlern verwandelte sich ein unschuldiges Hobby rasch in eine Sucht und wurde so intensiv wie ein Drogenrausch. Für Fenston, der von allen großen Impressionisten außer van Gogh mindestens ein Werk besaß, war allein der Gedanke, eine Arbeit des holländischen Meisters zu erwerben, wie ein Schuss pures Heroin, und sobald er einen Kauf getätigt hatte, sehnte er sich bereits nach dem nächsten Schuss, begab sich wie ein zittriger Süchtiger auf die Suche nach einem Dealer. Und dieser Dealer war Anna Petrescu.
Als Fenston in der New York Times las, dass Anna Sotheby's verlassen hatte, bot er ihr sofort eine Stelle in seinem Vorstand an, mit einem Gehalt, das widerspiegelte, wie ernst es ihm mit dem weiteren Ausbau seiner Sammlung war. Den Ausschlag gab für Anna, dass Fenston ebenfalls aus Rumänien stammte. Er rief Anna immer wieder ins Gedächtnis, dass er ebenso wie sie dem tyrannischen Regime Ceauce?cus entronnen war und in Amerika eine Zuflucht gefunden hatte.
Innerhalb weniger Tage nach ihrem Eintritt in die Bank unterzog Fenston Annas Fachwissen einer Prüfung. Die meisten Fragen, die er ihr bei ihrem ersten Mittagessen stellte, betrafen Annas Kenntnisse hinsichtlich der großen Sammlungen, die sich in zweiter oder dritter Generation immer noch in Familienbesitz befanden. Nach sechs Jahren bei Sotheby's kam kaum eine bedeutende impressionistische Arbeit unter den Hammer, die nicht durch Annas Hände gelaufen oder zumindest von ihr begutachtet und dann ihrer Datenbank hinzugefügt worden war.
Eine der Lektionen, die Anna schon kurz nach ihrer Einstellung bei Sotheby's gelernt hatte, war, dass es sich bei altem Geld eher um den Verkäufer und bei neuem Geld eher um den Käufer handelte, und so war sie ursprünglich auch in Kontakt mit Lady Victoria Wentworth gekommen, der ältesten Tochter des siebten Earl of Wentworth - altes, altes Geld - und zwar im Auftrag von Bryce Fenston - nouveau, nouveau riche.
Anna staunte über Fenstons Besessenheit in Hinblick auf die Sammlungen anderer Leute, bis sie herausfand, dass es seine Firmenpolitik war, Kunstwerke als Sicherheit für die Vergabe riesiger Kredite zu nehmen. Nur wenige Banken waren bereit, »Kunst« als Sicherheit in Betracht zu ziehen, gleichgültig in welcher Form. Grundbesitz, Wertpapiere, Häuser, sogar Schmuck, aber nur selten Kunst. Banker verstanden den Markt oft nicht und zögerten, den Kunstbesitz ihrer Kunden einzuziehen, nicht zuletzt deshalb, weil das Lagern der Kunstwerke, ihre Versicherung und schließlich der Verkauf häufig nicht nur zeitaufwendig waren, sondern auch unpraktisch. Fenston Finance bildete die große Ausnahme. Anna brauchte nicht lange, um den Grund dafür herauszufinden. Fenston liebte die Kunst nicht wirklich und kannte sich nicht einmal besonders gut aus. Aber es dauerte lange, bis Anna seine wahren Absichten durchschaute.
Einer der ersten Aufträge führte Anna nach England. Sie sollte den Wert des Besitzes von Lady Victoria Wentworth schätzen, einer potenziellen Kundin, die bei Fenston Finance ein beträchtliches Darlehen beantragt hatte. Die Wentworth-Sammlung erwies sich als typisch englisch. Der zweite Earl, ein exzentrischer Aristokrat mit viel Geld, beachtlichem Geschmack und einem guten Auge, hatte sie aufgebaut und war von späteren Generationen als begabter Amateur eingestuft worden. Von seinen Landsleuten hatte er Romney, West, Constable, Stubbs und Morland erworben, außerdem einen herrlichen Turner: Sonnenuntergang in Plymouth.
Der dritte Earl zeigte keinerlei Interesse an künstlerischen Dingen, darum setzte die Sammlung Staub an, bis der vierte Earl den Besitz erbte. Und der besaß den scharfen Kennerblick seines Großvaters.
Jamie Wentworth verbrachte fast ein Jahr fern seiner Heimat im Exil, währenddessen er sich dem unterzog, was man seinerzeit die »Große Bildungsreise« nannte. Er besuchte Paris, Amsterdam, Rom, Florenz, Venedig und Sankt Petersburg, dann kehrte er mit einem Raphael, einem Tintoretto, einem Tizian, einem Rubens, einem Holbein und einem van Dyck nach Wentworth Hall zurück - ganz zu schweigen von seiner italienischen Ehefrau. Charles, der fünfte Earl, war ebenfalls Sammler: nicht von Gemälden, sondern von Mätressen. Nach einem intensiven Wochenende in Paris - hauptsächlich auf der Rennbahn von Longchamp und später in einem Schlafzimmer im Crillon - überzeugte ihn seine damalige Gespielin, ihrem Arzt ein Gemälde von einem unbekannten Künstler abzukaufen. Charlie Wentworth kehrte nach England zurück, nachdem er die Geliebte abgelegt hatte, aber das Gemälde war ihm geblieben. Er verbannte es in ein Gästezimmer, obwohl mittlerweile viele Kunstliebhaber das Selbstporträt mit abgeschnittenem Ohr zu van Goghs besten Arbeiten zählten.
Anna hatte Fenston bereits gewarnt, vorsichtig zu sein, wenn es darum ging, einen van Gogh zu erstehen, denn die Zuschreibungen waren häufig dubioser als Wall Street Banker - ein Vergleich, den Fenston so gar nicht schätzte. Sie erklärte ihm, dass in privaten Sammlungen mehrere Fälschungen hingen, selbst in ein oder zwei großen Museen, einschließlich dem Nationalmuseum von Oslo. Aber nachdem Anna die Papiere geprüft hatte, die zum Selbstporträt von Vincent van Gogh gehörten und unter denen sich ein Brief von Dr. Gachet befand, in dem er Charles Wentworth namentlich nannte, dazu eine Quittung über 800 Francs aus dem Originalverkauf und ein Echtheitszertifikat, ausgestellt von Madame Telleband vom Van Gogh Museum in Amsterdam, war sie sich sicher genug, um dem Vorsitzenden zu bestätigen, dass dieses herrliche Porträt tatsächlich aus der Hand des Meisters stammte.
Für Van-Gogh-Süchtige stellte das Selbstporträt mit abgeschnittenem Ohr den ultimativen Kick dar. Obwohl der Meister in seinem Leben 35 Selbstporträts gemalt hatte, versuchte er sich nur noch zwei Mal daran, nachdem er sich nach einem Streit mit seinem Freund Paul Gauguin das linke...
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