Schweitzer Fachinformationen
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»Mama, können Steine denken?«
»Na ja, meine Süße, ich weiß nicht. Jedenfalls liegen sie den ganzen Tag nur herum und .«
». und dabei denken sie soviel, dass sie keine Zeit mehr haben sich zu bewegen.«
»Ja . das könnte sein.«
»Mama? Fressen fleischfressende Pflanzen auch kleine Kinder?«
»Nein, meine Süße!«
»Aber Paul hat gesagt, dass es im Dschungel so große davon gibt, dass wenn .«
»Paul war sicher noch nie im Dschungel.«
»Aber Paul hat gesagt, er hat Bilder davon gesehen. Können wir auch Bilder gucken, Mama? Im Internet? Da gibt es sicher tausende davon und dann wissen wir, ob Paul ein doofer Lügewicht ist oder nicht.«
»Süße, ich habe aber etwas anderes auf meinem Laptop zu tun als .«
»Bitte, Mama. Lass uns nach fleischfressenden Pflanzen gogelen. Ja? Nur eine Minute? Mama! Bitte!«
»Googeln heißt das, Süße, aber .«
»Dafür kriegst du auch ein Küsschen, ja?«
Tessas runder Kindermund kommt näher. Sie spitzt ihre Lippen und presst ihre Augen zusammen. Sie sieht ein wenig aus wie eine Zitrone, die man gerade ausquetscht. Barbara wird ihr das nach dem Küsschen genauso sagen. Dann wird Tessa lachen und ihrer Mama gleich noch weitere Küsschen geben, weil Zitronenküsse doch die besten sind. Tessa ist fünf und noch nicht in der Schule, was Barbara überrascht. Irgendetwas an diesem Ablauf stimmt nicht.
Der Kuss ist feucht und weich.
Der Kuss ist so voll mit Flüssigkeit, dass Barbaras Lippen davon überschwemmt werden. Tessa hat sicher vor ihrem Küsschen einen großen Schluck von ihrer Limonade genommen und presst ihrer Mama das süß-saure Getränk auf die Lippen. Aus Spaß. Aus Übermut. Weil sie aber auch so eine freche süße Maus ist mit einem kleinen Kopf voller Flausen.
Gerade mal fünf, aber das stimmt immer noch nicht.
Barbara spürt, wie die Flüssigkeit sich über ihr ganzes Gesicht ausbreitet. Ihre Augen, ihre Nase, ihre Wangen, ihr Kinn, alles wird feucht und nass. Es rinnt ihren Hals hinunter, Tropfen sammeln sich in der Kuhle an ihrem linken Schlüsselbein. Barbara streckt die Zunge heraus und schmeckt in die Nässe hinein. Es ist weder süß noch sauer, der Geschmack ist salzig, also doch keine Limonade. Was .?
»Süße, was ist das denn .?«
Die Nässe verklebt Barbaras Augen, verstopft ihre Nase, brennt auf ihrer Haut. Sie muss sich umdrehen, weg vom Laptop, damit die Nässe nicht auf die Tasten kommt und sie schon wieder einen neuen braucht, das gibt der Haushaltsplan in diesem Jahr nicht mehr her, Tessas Zahnspange und der Hagelschaden am Wagen waren genug Ausgaben und dann .
Tessa hat ihre Spange mit zwölf bekommen, erst letztes Jahr, da liegt der Gedankenfehler.
Barbara versucht ihren Oberkörper zu drehen, gleichzeitig ihre Hände zu heben. Alles ist so ungeheuer schwer, so niederdrückend langsam. Ihre Finger sind zu Fäusten geballt, ihr Oberkörper wie aus Beton gegossen, ihren Unterleib kann sie für Momente überhaupt nicht mehr spüren.
Was ist passiert?
Hat sie einen Herzinfarkt oder eine plötzliche Lähmung?
Sie braucht Hilfe.
Barbara versucht die nassen Lippen weiter zu öffnen, sodass neben ihrer Zungenspitze auch ein Schrei Platz hat und herausschießen kann.
»Ahhh!«
Es ist mehr ein Krächzen. Ein kratziger Ton, der nicht zu ihr zu gehören scheint, der Laut eines verwundeten Tieres, welches nur? Soll sie im Internet nachsehen, »gogelen« nach Bildern von tausenden Tieren, die krächzen und gurgeln statt zu schreien?
»Mama, was bist du nur komisch heute!«, sagt Tessa.
Klar und deutlich.
Barbaras Körper entspannt sich. Ihre Finger entkrampfen sich, sie kann einmal tief Luft holen, ihren Oberkörper drehen und ihre Handflächen an ihr Gesicht bringen. Das ist tatsächlich nass, weil sie im Schlaf geweint hat.
Barbara wischt das Salzige und Klebrige fort und kann endlich ihre Augen öffnen.
Sie liegt völlig verdreht auf der Couch im Wohnzimmer.
Der untere Teil ihres Körpers, Hüfte und Füße, sind nach unten gerutscht und hängen am Rand des Couchtisches fest, sie hat kein Gefühl in ihren Beinen. Barbara konzentriert ihre Gedanken auf ihre Zehen und tatsächlich bewegen sie sich auf und ab, dann dreht sich der linke Knöchel. Das Kribbeln fängt an. Wie eine Horde Ameisen kriecht das Gefühl des Erwachens durch Barbaras Körper. Es knackt laut in ihrer Hüfte, als sie sich aufrichtet. Ihr rechtes Bein bleibt auf dem Couchtisch zurück, die Ameisenhorde bewegt sich dort mit leichter Verspätung nach oben.
Es ist angenehm kühl im Wohnzimmer.
Die Vorhänge wehen sanft vor dem offenen Fenster und lassen die Helligkeit nur in kleinen Portionen herein. Barbaras Laptop liegt geschlossen auf dem Couchtisch neben ihrer leicht gebräunten Wade, die kurz vor dem Knie anfängt bleich zu werden, Dreiviertel-Hosen sei Dank. Ein leeres Glas steht daneben. Eines der kleinen Kissen ist während ihres Schlafes zu Boden gerutscht, sie hebt es automatisch auf und drückt es sich an die Brust. Ihre Bluse ist am oberen Rand nass von Tränen, die sich ihren Weg weiter nach unten gebahnt haben.
Barbaras linker Oberarm schmerzt. »Es pikt unheimlich«, wie Tessa sagen würde. Die Beruhigungsspritze. Sie wischt mehrmals über den Einstich, aber das unheimliche Piken bleibt.
Aus der Küche kann sie leise Männerstimmen hören. Einen dunklen Bass, einen helleren Tenor. Sie flüstern. Hell und tief, tief und hell. Jetzt eine mittlere Stimmlage, aber diesmal von einer Frau.
Die Uhr über dem dunklen Bildschirm des Fernsehers gegenüber der Couch zeigt drei nach sieben. Der kleine Zeiger hängt über der Uhrzeit dieses frühen Abends wie ein Schwert, das bereit ist zurückzufallen, bereit, die Sieben doch noch zu köpfen. Der große Zeiger zieht sich über die zwölf und vollendet eine weitere Minute, es ist vier nach.
Es ist der 8. August 2008, fällt es Barbara ein.
08.08.08. Die perfekte Schnapszahl.
Die olympischen Spiele in Peking sind eröffnet. Der Lufthansa-Streik ist beendet und es gab naturgemäß einen Ansturm auf die Standesämter. Die Beamten haben Überstunden eingeschoben und in diesem Moment sind sicher immer noch einige Heiratswillige dort und warten auf ihren großen Augenblick. Der große Torwart Jens Lehmann hat seinen Rücktritt erklärt und die dreizehnjährige Tessa Hellmann gilt seit heute Mittag als vermisst.
Die Tochter von Robert und Barbara Hellmann war unterwegs zu ihrem Schulfreund Paul Partuski und ist dort nicht angekommen.
Die zwei Straßen, die die Reihenhäuser der Familien im Kölner Stadtteil Neuehrenfeld trennen, hat Tessa in den letzten Jahren sicher schon tausend Mal überquert. Es hatte an diesem Mittag keinen Grund gegeben, warum sie es auch nicht noch zum eintausend und ersten Mal hätte tun sollen.
Zum Mittagessen war Tessa eingeladen gewesen, sollte den Nachmittag mit Paul verbringen, noch mal abhängen, bevor montags die Schule wieder losging. Die beiden wollten auf der Terrasse Monopoly spielen, die neueste Version dieses Spiels hatte Paul erst letzte Woche zu seinem Geburtstag bekommen, dann in den Blücherpark hinüber, später hätten sie sich noch einen Film im Internet ansehen dürfen. Paul wollte Madagaskar sehen, aber Tessa hatte sich schon auf Verwünscht eingeschossen und würde Paul zu diesem »Mädchenfilm« noch überreden müssen.
Es hätte im Haus Partuski Fischstäbchen und Bratkartoffeln zu Mittag gegeben, der Nachtisch wäre flach gefallen, weil Herr Partuski in die Firma zurück und Frau Partuski noch ins Nagelstudio musste, ihre langen Krallen auffrischen. Die Kinder hätten Geld für ein Eis bekommen. Wären abends zurück ins Haus der Hellmanns geschlendert.
Es gab also keinen Grund, warum Tessa nicht bei den Partuskis hätte klingeln sollen, nachdem sie ihrer Mama einen Kuss auf die Wange gegeben hatte und in den schwülen Augusttag hinausgelaufen war. Geradeaus, rechts, einmal über die Anwohnerstraße, wieder ein kurzes Stück geradeaus und dann wäre das Reihenhaus von Pauls Eltern in Sicht gewesen. Es gab kaum Autos in den verkehrsberuhigten Straßen der Reihenhaussiedlung. Dreißiger-Zone. Blau, gelb und weiß gestrichene Häuser, mit Blumen überladene Vorgärten. Nette Nachbarschaft, familienfreundlich, Mittelstand. Kein Platz, an dem man je so etwas erwartet hätte.
Hätte, wäre, sollte.
»Noch gibt es doch Hoffnung«, hatte der Notarzt gesagt.
Kinder machen oft Dummheiten. Kinder am Rand zur Pubertät. Da war Tessa sicher keine Ausnahme. Die Fahndung läuft. Wenn Barbara den Laptop anmachen würde, könnte sie in den Schlagzeilen des heutigen Tages schon die Vermisstenmeldung sehen.
Nach einem Foto ihrer Tochter »gogelen«.
»Mit etwas Glück ist Ihr Mädchen in ein paar Stunden wieder da«, hatte der Notarzt weiter gesagt und Barbaras Oberarm getätschelt, bevor er ihr die Spritze gegeben hatte. Die uniformierten Polizisten und Robert hatten dem Notarzt zugestimmt, nur die Kriminalkommissarin hatte ihren Kopf nicht bewegt. Das war Barbara aufgefallen. Die anderen hatten genickt, die Kommissarin nicht. In ihren Augen hatte Barbara eine unerwartete Tiefe gesehen, ein Loch, in das man stürzen könnte, doch die Stimme des Arztes war im Hintergrund weitergelaufen und hatte...
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