Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
1
Das Dunkel reißt auf. Aus dem Riss quillt ein sanftes Dämmerlicht.
Der Kasi blinzelt.
Der Übergang ins bewusste Denken vollzieht sich derart schnell, dass er zuerst nicht weiß, wo er ist. Überhaupt, wer er ist. Der Kasi, ja! Aber wie weiter?
Das erste, wieder klare Bild ist ein überraschend gefährliches. Ungefähr einen halben Meter über dem Kasi hängt ein dicker und fetter Brocken aus Stein - ein Stück von einem Felsen. Oder schwebt es? Oder ist es dort festgemacht, angeklebt mit unsichtbarem Uhu?
Er betrachtet das Teil, den Stein, der grau ist und von dunkleren Linien durchzogen wird, die an Adern erinnern. Dazwischen glitzert es, als wären im Gestein Silberstückchen eingepresst. Katzensilber, ein Mineral, das glimmert, aber keinen Wert hat. Glück soll es trotzdem bringen. In Kasis Fall wohl eher nicht.
Uneben und zackig ist die Oberfläche des Gesteinsbrockens. Hart sieht er aus. Wenn er gleich niedersausen wird, wird er Brei aus Stirn, Nase und Mund machen. Das Gesicht, den Kopf darunter zerquetschen. Keine Überlebenschance.
Der Kasi mit dem Breigesicht.
Brei oder Grießsuppe. Keine flüssige, sondern die dick eingekochte von der Oma. So dick, dass der Löffel darin stecken bleibt und man auf ihr kauen kann, bevor man sie hinunterschluckt.
Die Oma, das Omilein, und ihre Suppe werden dem Kasi fehlen. Er sieht die alte Frau vor sich mit Kittelschürze und Gesundheitsschuhen.
Dann muss er wieder mit den Augenlidern klimpern, nein, es ist mehr ein unkontrolliertes Zucken. Sein Zustand und der Felsbrocken in seinem Gesichtsfeld machen ihm mehr und mehr zu schaffen. Dazu kommt, dass er sich zwar an die Grießsuppe vom Omilein erinnert, aber nicht an seinen ganzen Namen. Der Kasi ist zu wenig, der Kasi ist nur ein Bruchstück seiner Existenz, ähnlich dem Felsstück.
Noch hat sich der Stein nicht bewegt. Noch befindet er sich über ihm, wie ein Planet im Weltall. Wobei diese Aussage nicht richtig ist. Jetzt erst bemerkt der Kasi, dass der Brocken gehalten wird, fest, von zwei Händen. Von Fingern, die ihn von beiden Seiten umschließen. Fingern, die bleich und leblos aussehen. Wie von einem durchsichtigen Kokon umhüllt. Die Kuppen, die sich gegen die Ränder des Felsbrockens pressen, wirken darunter rötlich, als ob die Fingernägel gefärbt wären.
Also, noch einmal von vorn. Ein Felsbrocken, grau mit dunklen Adern, mit Katzensilber bestückt, von bleichen Kokon-Händen gehalten, direkt über dem Kasi seinem Kopf. So ist seine Ausgangslage. Noch ist der Kasi nicht Brei, aber augenscheinlich in großer Gefahr.
Immer schön korrekt bleiben, wie die Mama stets sagt. Die ist in der kleinen Familie, in der er seit Langem der einzige Mann ist, Spezialistin für Knödel aller Art. In all den Jahren sind ihr nie welche beim Kochen zerfallen.
Auch Mama wird ihm schrecklich fehlen. So fesch war sie beim Abschied vor seiner Abreise, in ihren Lieblingsjeans und der hellen Bluse, die die gleiche Farbe hat wie ihre Ohrringe. Die Mama und ihre tollen Knödel. Selbst damals, als Mama außer sich war, weil ihr Sohn vor seiner ersten Verhaftung gestanden ist, und ihr beim Knödelformen die Tränen über das Kinn getropft sind, sind die Knödel im kochenden Wasser ganz geblieben. Und haben geschmeckt. Seine Henkersmahlzeit, wie seine Lieben es damals ausgedrückt haben. Mit Galgenhumor. Den braucht er jetzt auch.
Er hat eine Strafe abgesessen. Weswegen noch mal? Der Kasi weiß im Moment auch das nicht, aber er kann sich erinnern, dass Oma und Mama ihn im Gefängnis in Krems wöchentlich besucht haben. Seine Schwester nur ein einziges Mal. Weil sie schreckliche Angst vor den Gitterstäben gehabt und sich dahinter gefährliche Tiere vorgestellt hat, Tiger und Löwen.
Die Lisbeth.
Gott, die Lissi wird er am meisten vermissen. Ihr kulinarisches Spezialgebiet ist der Heidelbeerstrudel. Keine kann den so wie sie backen. Sie macht den Blätterteig selbst, er zerreißt ihr nie. Die Füllung ist ein Traum aus Heidelbeeren, Zucker, Butter, Bröseln und was sie sonst so alles dazumischt. Noch eine Zutat gehört mit hinein und obendrüber. Welche ist das, Kruzifix noch mal? Dem Kasi seine große Schwester ist eine so liebe Person, sie hat ihn als Bruder gar nicht verdient.
Was hat er seiner Familie nur angetan?
Er erinnert sich an ein Buch, das er gelesen hat. Vor gar nicht langer Zeit. Eines der wenigen Bücher, die er bis zum Ende durchgehalten hat. Es ging um Reinkarnation, ein schweres Wort. Aber der Schreibstil war leicht und lustig. Da ist einer gestorben und als Ameise wiedergeboren worden. Immer und immer wieder. Bis er seine Sünden abgebüßt hatte.
Der Kasi selbst wäre lieber eine Hummel, wenn er zurückkommt. Die mag er. Sie sind so schön mollig und brummen laut. Egal. Hauptsache, er kommt zurück und kann die Seinen wiedersehen. Ob als Ameise, Schabe oder eben Hummel.
Warum, zum Teufel, weiß er all diese Dinge, aber hat keine Ahnung, warum er hier ist? Wo ist denn hier überhaupt?
»Ich zähl bis drei, und dann sagst du mir, wo.«
Eine Stimme hinter den Händen und dem Stein. Leise, mehr ein Zischen.
Wo? Was denn bitte? Er weiß doch nichts. Er hat nichts gesehen und nichts gehört. Er hat auch nichts verbrochen, zumindest diesmal nicht. Noch nicht. Oder? Wer redet da? Ein Mann oder doch eine Frau?
»Mit eingeschlagenem Schädel gefunden zu werden is kein schöner Anblick, mein Freunderl.«
Ich bin nicht das Freunderl dieser Stimme, denkt er. Dieses Zischen klingt feindselig und kalt. Giftig, wie das einer gefährlichen Schlange. Er kann sich kein Gesicht dahinter vorstellen. Kein Geschlecht, kein Aussehen. Nur diese Kälte.
Der Kasi versucht, den Kopf zu drehen, um den Menschen hinter der Stimme erkennen zu können. Aber es geht nicht. Als ob er in einem Schraubstock eingeklemmt wäre. Mit einem Mal nimmt er auch Geräusche um sich herum wahr. Ein Rauschen. Es steigt an, ebbt ab. Dann wieder von vorn. Und heller ist es geworden, ein klein wenig.
Er friert. Komisch, wo es doch einer der nächsten richtig heißen Tage werden soll. Die Wettervorhersage für heute fällt ihm ein. Badewetter im schönen Mai, dem Monat der Liebe. Doch ihm wäre jetzt zu kühl für einen Sprung ins Wasser.
Vom Zehn-Meter-Brett ist er letzte Saison im Freibad gesprungen. Wie klein die Badegäste von dort oben ausgesehen haben. Wie sich die Welt gedreht hat, als er kopfüber nach unten gesaust ist. Auch wie herrlich das Wasser auf seiner Haut geprickelt hat, als er nach dem Sprung aufgetaucht ist.
All diese Gefühle und Bilder kommen in ihm hoch. Trotzdem beginnt er zu zittern.
Denn plötzlich weiß der Kasi mit absoluter Sicherheit, dass er sterben wird. Ob er nun dieses Wo beantworten kann oder nicht. Die Person hinter dem Stein könnte zu einem Mord fähig sein. Könnte? Nein, ist. Dem Kasi sein Herz schlägt schneller. In seinem Blickfeld verschwimmt der Felsbrocken, zieht sich das Grau wie Gummi auseinander. Schwarze Punkte entspringen aus der Mitte und verbinden sich zu Schlieren. Er keucht, seine Lungen brennen.
Er beginnt zu beten. Seinen ganzen Namen muss er endlich wissen. Nichts Schlimmeres, als wenn der Sensenmann käme und ihn namenlos mitnehmen würde.
Das Wort Sensenmann lässt eine weitere Frauenfigur aus seinem Unterbewusstsein emporsteigen. Darauf konzentriert sich der Kasi jetzt. Blond, süß, mit grünen Augen. Sie hat ihm das Buch geschenkt, in dem es um Ameisen und Wiedergeburt ging. Sie ist aber nicht mit ihm verwandt, im Gegenteil, er ist verliebt in sie. Sie redet gern viel und weist ihn immer zurecht, aber mit ihr könnte er glücklich werden. Den Pfad des Kleinkriminellen verlassen.
Jessas! Der Kasi stöhnt. Ein Strizzi ist er, ein saudummer Bub, der wegen Betrugs im Häfn gesessen hat. Den Enkeltrick hat er probiert an einer alten Dame, erwischt ist er worden. Bis heute hat er viel verkehrt gemacht, trotz all seiner Bemühungen. Wegen einer nächsten Fehlentscheidung liegt er hier und stiert auf einen Felsbrocken. Weil er sich mit den falschen Leuten zusammengetan hat, wieder einmal. Auch in der Hoffnung, etwas Geld zu machen. Nix hat er gelernt aus der Vergangenheit.
Dummer, saublöder Kasi, du!
Ganz nah ist er dran, sich vollständig an sich selbst zu erinnern.
»Na, wird's endlich was? Mach deinen Mund auf und red.« Das Zischen wird eine Spur lauter. »Ich hau dich wirklich tot.«
Luft entweicht aus dem Kasi seinen Lungen, schiebt sich über seine Lippen und erzeugt einen singenden Ton. Ein Pfeifen. Der Kasi beginnt tatsächlich zu pfeifen.
»Willst du mich verarschen?« Die Stimme wird doch lauter. Höher zugleich und ein wenig aus der Fassung gebracht. Gut so. Der winzige Triumph hilft dem Kasi, seinen Herzschlag zu beruhigen, die schwarzen Punkte platzen, und sein Blick wird wieder klar.
»Bei drei bist du tot!« Der Person mit dem Stein zwischen den Kokon-Fingern ist es tatsächlich todernst. »Rede endlich.«
Worüber soll er bloß auspacken, der Kasi?
Omilein, Mama, Lissi, denkt er.
Und dann noch: Mitzi.
So heißt seine Auserwählte.
Ein Ruck geht durch seinen Körper und auch durch sein Hirn. Er ist der Kasimir. Kasimir Wollatschek. Ein junger Mann, der auf die schiefe Bahn geraten war, aber nun willens ist, sich zu rehabilitieren. Der »Kasi«, so nennt die Mitzi ihn immer.
Dem Himmel sei Dank, er wird nicht mit halber Erinnerung abtreten. Das macht es leichter.
»Eins«, sagt die Stimme.
Grießsuppe, denkt der Kasi.
»Zwei.«
Knödel, denkt er als Nächstes. Bleibt aber stumm.
»Letzte Chance.« Zischen, wie von tausend Schlangen. »Sag es...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: ohne DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet – also für „glatten” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Ein Kopierschutz bzw. Digital Rights Management wird bei diesem E-Book nicht eingesetzt.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.