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Während eines Filmabends entdeckt Maryam Aras ihren Vater auf der Kinoleinwand. Bei einer Protestveranstaltung gegen den Shahbesuch 1967 in Berlin sitzt er zwischen anderen Studierenden auf dem Boden. Für sie ist es der Beginn einer Spurensuche - nach ihrer Kindheit in der iranischen Diaspora in Köln, der Gewissheit, dass ihr Vater nicht nach Iran reisen kann, der Geschichte seiner und ihrer Politisierung.
In diesem literarischen Essay schreibt Maryam Aras die politische Biographie ihres Vaters, zieht Erzähllinien zwischen dem Staatsstreich 1953 in Iran, einer transnationalen 1968er-Bewegung, dem Kölner Arbeiterviertel Mülheim und einer Familiengeschichte, in der der Luxus, unpolitisch durchs Leben zu gehen, nie existiert hat.
»Maryam Aras gelingt ein großes Kunststück: Sie verwebt die Biographie ihres Vaters und ihr Aufwachsen an seiner Seite mit der Geschichte Irans und der Diaspora in Deutschland. Zugleich erzählt sie vom Kampf um Selbstbestimmung vieler Länder des sogenannten Globalen Südens. Berührend, gehaltvoll, vielschichtig.« Nava Ebrahimi
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Exile is strangely compelling to think aboutbut terrible to experience.
Edward Said, Reflections on Exile
Mein Vater würde nie von Aktivismus sprechen. Oder denken. Wenn ich das Wort durch seine Augen lese, klingt es nach einem Hobby. Politisch aktiv sein, politisch denken, ein politisch denkender Mensch sein, ja. Im Grunde genommen bedeutet das für ihn Menschsein. Aber diese Sache, der er sein Leben widmet, ist die politische Arbeit. Es gab auch Phasen des Aktivismus, er nennt sie Aktionismus. Über viele Jahre bestand seine politische Arbeit in einer analogen Welt darin, das Ungerechtigkeitsempfinden der sich gerade erst findenden deutschen Linken für Menschen, die in einer Diktatur fünftausend Kilometer entfernt lebten, zu wecken. Flugblätter schreiben, Demos organisieren, offene Briefe aufsetzen, Strategien und Argumentationen dafür diskutieren - die konkrete Arbeit, die in den aktivistischen Lebensphasen meines Vaters anfiel, war sehr viel greifbarer als die der jahrzehntelangen politischen Arbeit des Lesens, Analysierens, Diskutierens, Konferierens, Publizierens. Ich selbst finde nichts Falsches daran, den Begriff Aktivismus positiv zu besetzen, dem Rechtsruck, den wir gerade erleben, entgegen. Aber für ein Leben, das sich seit über sechzig Jahren einem politischen Kampf widmet, ist politische Arbeit, unbezahlte, die realistischere Bezeichnung. Schaffen Sie Ihren Sohn so schnell wie möglich außer Landes, sie werden ihn sonst bald holen, hatte der Chemielehrer meiner Großmutter zugeflüstert, als mein Vater sein Abiturzeugnis bekam. Unter den Lehrern ist er dafür bekannt, verbotene Dinge über den Bistohasht-e Mordad zu erzählen und Mitschüler in Diskussionen zu verwickeln. Das war die Zeit, als seine politische Arbeit ihren Anfang nahm. Der Chemielehrer war der Lieblingslehrer meines Vaters und selbst ein Mossadegh-Anhänger. Unsere ganze Familie ist das, bis heute. Außer einem Onkel meines Vaters und meiner Tante Nasrin, die in der Tudeh-Partei und bei den Fedayan, einer linken Stadtguerilla, waren und in der Erzählung meines Vaters deshalb immer ein Aber brauchen. Aber er war ein herzensguter und intelligenter Mensch, aber sie war sehr jung während der Revolution und hat später im Gefängnis bitter dafür bezahlen müssen.
Die Tudeh-Partei hat für den Pakt mit Khomeini bitter bezahlen müssen. Tehran hatte gebebt, drei Tage lang um den 8. März 1979. Linke Frauen, bürgerliche Frauen, religiöse Frauen, sie und viele ihrer Männer, Väter und Brüder kamen, um sich gegen den Kopftuchzwang zur Wehr zu setzen, Zehntausende. Aber die Parteiführung verfolgte diese strategische Partnerschaft -
»antiimperialistische Partnerschaft« nannten sie es(in großen Anführungszeichen)
- gegen den Willen ihrer weiblichen Mitglieder und eines großen Teils der Basis weiter. Mein Vater hat ihr das bis heute nicht verziehen. Auf der Straße ließen die Jünger Khomeinis nicht lange auf sich warten. Sie kamen mit ihren Knüppeln, ihren Messern und Fahrradketten.
Ich wünschte, die gütigen grauhaarigen Herren mit ihrem festen Blick könnten die Fehden endlich beilegen. Als wären Iran und vor allem seine Diaspora voll von Progressiven, als gäbe es heute noch zu viele von uns. Für Azzeh Maman war die Warnung des Lehrers keine Überraschung. Sie konnte nicht genau den Finger darauflegen, wann ihr ältester Sohn angefangen hatte, politisch aktiv zu sein. Für sie war sein Erwachsen- und Politischwerden ohnehin kaum zu trennen von den alltäglichen Gesprächen zu Hause, von den blutigen Nasen, mit denen er nach Hause kam, weil er einen ärmeren Schulfreund gegen Hänseleien verteidigt hatte, von den Demonstrationen nach dem Achtundzwanzigsten im Monat Mordad, als Mossadegh aus dem Amt geputscht wurde, und der harten Zeit danach, als zwei ihrer Schwager geflohen waren und sie zusehen musste, wie sie mit Hossein Papa drei Familien durchbrachte.
Meine Großmutter war keine Frau mit umfassender politischer Bildung, sie hat es nur nie anders gekannt, als für ihren Gerechtigkeitssinn oder den ihres Vaters, Mannes oder Sohnes Flucht, Verfolgung und Entbehrungen hinzunehmen.
Das stimmt zwar, aber sie hat sehr gern historische Romane gelesen, iranische oder auch Übersetzungen wie Die Elenden, und hatte durch diese Literatur schon einen gewissen politischen Horizont. Sie hat die Bücher während der Hausarbeit gelesen - ein paar Seiten, dann ist sie aufgestanden und hat etwas gemacht, dann wieder ein paar Seiten. Ich habe diese Romane auch sehr gerngehabt. Es gab einen Übersetzer, er hat übertragen, sagt man im Persischen, nicht übersetzt, er hat aus einem vielleicht hundertseitigen Buch aus dem Englischen eine vierhundertseitige persische »Übersetzung« gemacht. Zabihollah Mansouri hieß er. Von ihm hatten wir viele Bücher zu Hause.
Bei seiner Zeugnisübergabe 1963 wusste meine Großmutter noch nicht, dass die politische Arbeit sie weitgehend um die Anwesenheit des ältesten Sohnes in ihrem Leben bringen würde. Zweimal, in den Wirren der Revolution, als das eine Regime nicht mehr verhaftete und das andere noch nicht, kehrte er aus Köln zurück in seine Stadt, zurück zu ihr, für wenige Wochen. Die Hartnäckigkeit, mit der mein Vater Politik zum Mittelpunkt seines Lebens gemacht hat, ist auch in meiner Familie beispiellos.
Vorwürfe hat Azzeh Maman ihm deshalb nie gemacht. Nur hier und da zeigte sie sich unzufrieden, dass er kein großes Auto fuhr oder seine Wohnung so bescheiden eingerichtet war. Wahrscheinlich hat sie sich insgeheim gefragt, warum er für so ein Leben in Deutschland geblieben ist.
Einmal, als sie bei Bita zu Hause war und mich gefragt hat, wohin ich denn gehen wolle, und ich gesagt habe, ich hätte eine Sitzung, sagte Mama: Manche Leute besudeln sich mit Drogen, andere mit Alkohol, du besudelst dich mit Politik. Das hat sie wirklich schön ausgedrückt.
Heute fragt er sich das selbst. Nur seine Gründe dafür sind andere. Als ich den Satz das erste Mal aus seinem Mund hörte, es war letzten Sommer im hinteren Speiseraum von King Wah auf der Maastrichter, mein Vater aß wie immer in chinesischen Restaurants Gemüse-Chop-Suey, ich hatte Hühnchen Kung Pao, da habe ich mich so deutsch gefühlt wie sonst nur außerhalb von Europa. Das Fleisch war viel zu viel für mich allein, aber mein Vater wollte nicht mitessen, die Soße sei zu scharf. Wenn er all das gewusst hätte, wie viele Menschen heute die Rechten wählten, die wahrscheinlich in zwei Jahren in der Regierung säßen, dann hätte er sich damals für ein anderes Land entschieden. Der Satz traf mich unerwartet. Tausendmal hatte ich mir vorgestellt, er wäre in seiner Stadt geblieben und hätte gekämpft. Wer wäre er dann geworden, wer ich? Gleichzeitig zog es ein bisschen in meiner Brust, denn mit diesem Satz meinte er auch Köln. Das war neu.
Als ich für eine Veranstaltung, die ich moderieren soll, Maryam Zarees autobiographischen Dokumentarfilm Born in Evin sehe, muss ich ständig auf Pause klicken.1 Vor diesem Film habe ich mich lange gedrückt. So ging es mir meistens mit Kunst, in der ich vermutete, Vertrautes zu finden, das dann aber auf eine für mich unerträgliche Weise dargestellt sein könnte. Bevor ich Nava Ebrahimis Debütroman Sechzehn Wörter schließlich las, hatte ich diese Angst, genauso wie bei Shida Bazyars Nachts ist es leise in Teheran. Beide Romane gehören heute zu der Textwelt, in der ich denke - meine Angst war unbegründet. Es gab allerdings Jahre, in denen schienen Gefängnisse, Gräber und Geistliche fünftausend Kilometer weit weg, und wahrscheinlich war ich froh darum. Arthouse-Filme zu analysieren, in denen der schwarze Tschador zum Zitat wurde, das subvertiert und dekonstruiert werden konnte, kam mir übersichtlicher, einfacher vor, hier von meinem Küchentisch in Köln aus. Und doch hat die Realität meines Vaters immer an mir gezerrt. Seit über vierzig Jahren ist er mittwoch- und sonntagabends in seinen Sitzungen. Diese unumstößliche Tatsache ist mir manchmal Mahnung, manchmal Hoffnung. Und eigentlich immer Halt.
In Zarees Film bleibe ich an so vielen Details hängen: Sowohl die Solidarität als auch das Schweigen der ehemaligen Insassinnen des Foltergefängnisses Evin, die die Regisseurin trifft, um ihrer eigenen Geburt an diesem Unort nachzuspüren, bleiben länger als neunzig Minuten. Die Ergriffenheit ihrer Mutter, die sie dort zur Welt bringen musste, als sie ihr den Trailer des Films zeigt, um ein Gespräch zu beginnen, dann aber nur in die alte Verstockung führt - zu groß der Schmerz. »Das Schweigen ist Teil unserer Geschichte«, sagt die Soziologin Chahla Shafiq, die Maryam Zaree in Paris trifft, und ermutigt die Regisseurin, weiterzufragen. Ich bin dankbar, dass die Hürden, die ich überwinden musste, um meinen Vater zum Sprechen über seine Geschichte zu bewegen, nicht in den Traumata und dem Schmerz von Gefängnisjahren bestanden. Auch Zarees Vater spricht bereitwilliger. Zusammen schauen sie sich Briefe an, die ihr Vater aus Evin geschrieben hat.
Wenig beschäftigt mich jedoch so...
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