Kapitel 1
Bretagne
Die Sonne stahl sich heimlich durch die Ritzen der Jalousien, die das kleine Zimmer in dem unscheinbaren Hotel verdunkelten. Der Tag war noch ganz jung und kein Geräusch drang durch das geschlossene Fenster herein. Fast war es, als wäre das kleine Dörfchen in einen tiefen Dornröschenschlaf versunken ohne jemals wieder daraus zu erwachen. Morgane rieb sich die Augen. Mit schweren Lidern ließ sie ihren Blick durch das geschmacklos eingerichtete Zimmer wandern. Die Wände waren mit fliederfarbenen Tapeten beklebt, eine Lampe, deren Schirm mit gelbem Stoff bezogen war, baumelte von der Holzdecke. Außer einem Tisch, einer Kommode und dem Bett, in dem sie gerade lag, war der Raum leer.
Morgane spürte, wie eine unangenehme Übelkeit sich langsam von ihrem Magen nach oben arbeitete. Ein saurer Geschmack schoss ihr in den Mund und sie begann zu würgen. Nur knapp schaffte sie es auf die Toilette und erbrach sich dort. Durch das gekippte Toilettenfenster drang leiser Vogelgesang, als sie ihren Kopf schwer auf die Klobrille sinken ließ. Die Übelkeit war einer tiefen Hoffnungslosigkeit gewichen. Wohin sollte sie nur gehen? Man würde sie überall finden. Die Bretagne war klein. Und für einen Flug nach Übersee reichte ihr knappes Budget nicht. Ihre Kreditkarten hatte sie genauso wie ihren Pass in Saint-Malo zurückgelassen. Sie hatte nur das Bündel Geldscheine, das sie eilig eingesteckt hatte, bevor sie in ihren kleinen, klapprigen Renault gesprungen war, um zu verschwinden. Sie war aus der Stadt gerast, als wäre der Teufel höchstpersönlich hinter ihr her und hatte erst angehalten, als sie sich in sicherer Entfernung zu ihm gewähnt hatte. Aber gab es überhaupt eine sichere Entfernung? Würde sie sich jemals wieder sicher fühlen?
Morgane erhob sich und trat an das Waschbecken? Der Blick in den schmutzigen Spiegel ließ sie zurückfahren. Ihre Augen waren trüb, dunkle Balken liefen darunter entlang. Das bleiche Gesicht, das sie anstarrte, hatte so gar nichts mit der Frau zu tun, die sie einmal gewesen war. Mit zittrigen Fingern drehte sie den Wasserhahn ganz heiß auf und hielt ihre Hände darunter. Dampf stieg auf und legte sich auf das billige Spiegelmosaik. Der Seifenspender war fast leer, doch Morgan hörte nicht auf, den Sprühkopf wieder und wieder zu drücken, die billige nach künstlichen Aromen riechende Seife auf ihre Hände zu reiben und diese erneut unter das siedend heiße Wasser zu halten.
Als sie den Wasserhahn wieder zugedreht und sich die Hände abgetrocknet hatte, atmete sie tief durch. In der Ferne hörte sie Kirchenglocken. Es musste schon sechs Uhr sein. Zeit für sie, aufzubrechen. Hastig warf sie ihr weniges Hab und Gut in ihre zerschlissene Reisetasche. Ein langer anstrengender Tag lag vor ihr.
***
Eigentlich war alles wie immer. Leise vernahm sie das Klackern der Computertastatur, auf die sous-commissaire Lisa Baélec einhämmerte. Samuel Lemarc der neue Kollege, der bei ihrem letzten Fall aus dem Süden zu ihrem Team dazugestoßen war, war in die Mittagspause verschwunden. An der Tür rauschten immer wieder Stimmen vorbei. Ihr Blick wanderte zum Fenster, das leicht geöffnet war. Eine kalte Brise fegte von draußen herein. Es war Dezember und die Kälte hatte Saint-Malo fest im Griff. Die gutgelaunte Stimme der Wetterfee des lokalen Radiosenders hatte ihr eine deprimierende Prognose ins Ohr gezwitschert, als sie am Morgen in die Arbeit gefahren war. Es würde noch kälter werden. Mit dem Ostwind würden die Temperaturen unter Null sinken. Vielleicht könnten sich die Bretonen sogar auf etwas Schnee freuen. Commissaire Julie Roche seufzte. Sie mochte die Kälte nicht und Schnee konnte sie schon gar nicht gebrauchen. In ihrer Wohnung, die an der Strandpromenade lag, waren die Fenster undicht und es war ihr, als drängen Frost und Nebel direkt in ihr Wohnzimmer. Alles wirkte klamm und eiskalt. Zu allem Überfluss funktionierte die marode Heizung nicht und so erfuhr Julie zum ersten Mal in ihrem Leben was es bedeutete richtig zu frieren.
Ganz anders in ihrem Kommissariat. Die Räume in der Mordkommission, der brigade criminelle, deren Chefin sie war, waren überheizt. Es war so warm, dass ihre Mitarbeiterin Lisa das Fenster geöffnet hatte. Julie erhob sich und schloss es. Lisa hob den Kopf und blickte sie fragend an.
"Wirst du krank?"
Julie schüttelte den Kopf. "Mir ist kalt. Friert denn hier sonst keiner außer mir? Samuel ist doch eigentlich die milden südfranzösischen Winter gewohnt. Und dennoch scheint ihm dieses Scheißwetter nichts auszumachen."
"Redet Ihr über mich?"
Samuel steckte den Kopf zur Tür herein und musterte seine beiden Kolleginnen. Er war ein hübscher Kerl, dunkelhaarig mit großen, braunen Augen und einem verschmitzten Lächeln, das seine Lippen stets umspielte. Im Präsidium war er beliebt, aber bei Julie, seiner direkten Vorgesetzten, hatte er noch nicht punkten können. Zu tief saß bei ihr der Stachel, dass er Yanick Le Guel, ihren ehemaligen Kollegen und besten Freund, ersetzt hatte. Die beiden Männer hatten einfach ihre Posten getauscht und Yanick saß nun im lauen Süden und trank wahrscheinlich gerade einen Ricard in der Bar, während seine bretonischen Kollegen im fernen Saint-Malo froren. Das war aber nicht der einzige Grund, warum Julie mit einem gewissen Unbehagen an ihn dachte. Die beiden waren sich im vergangenen Jahr nähergekommen und Yanicks Entschluss, die Bretagne Hals über Kopf zu verlassen, hatte sicherlich mit ihrem Verhalten ihm gegenüber zu tun gehabt. Sie wischte diese unangenehmen Gedanken bei Seite und wandte sich Samuel zu. Anfangs hatte sie ihn schlicht ignoriert. Sie hatte keinen Grund gesehen, diesen provenzalischen Schönling in ihr Team aufzunehmen. Sie kamen hier gut alleine zurecht. Aber ihre obersten Chefs in Paris hatten das so entschieden. Und mit der Zeit hatte sie ihn akzeptiert. Was noch lange nicht hieß, dass sie ihn mochte. Irgendetwas an ihm machte sie misstrauisch. Aber vielleicht war sie inzwischen einfach nur paranoid. Wundern würde es sie nicht, nach allem, was in den letzten Jahren vorgefallen war.
Mit einem lauten Seufzer tauchte Julie wieder aus ihren Gedanken auf und zuckte mit den Schultern.
"So ein spannendes Gesprächsthema bist du nicht, Samuel. Aber wenn du es unbedingt wissen willst: Wir sprachen über das Wetter!" Mit diesen Worten ließ sie ihn links liegen und verschanzte sich hinter ihrem Schreibtisch, der mit Aktenbergen beladen war. In den vergangenen Monaten war kein interessanter Fall bei Ihnen gelandet. Saint-Malo schien in einen tiefen Winterschlaf verfallen zu sein und selbst die Gauner und Ganoven wagten sich bei der Eiseskälte wohl nicht vor die Tür. Ihr sollte es nur recht sein, hatte sie doch immer noch gewaltig an ihrem letzten großen Fall zu nagen, der ihr auch persönlich kräftig an die Substanz gegangen war. Tempi passati. Momentan beschäftige sich ihr Team nur mit Kavaliersdelikten, kleineren Bagatellfällen, die in Windeseile aufgeklärt und ad acta gelegt werden konnten. Um nicht untätig herumzusitzen, hatte es sich die eifrige Lisa zur Aufgabe gemacht, alte, ungeklärte Mordfälle aus dem Keller nach oben ans Tageslicht zu befördern, um sie nochmals zu überprüfen. So verbrachten sie ihre Tage im warmen Büro, tranken starken Kaffee und ackerten sich durch Papierberge. Lisa, eine etwas forsche, aber liebenswerte Deutsch-Französin, hatte auf einem großen Whiteboard alle alten Fälle, die sie bereits gesichtet hatte, aufgelistet. Ihre Genauigkeit und ihr Fleiß hielten das kleine Team zusammen und brachten eine Struktur hinein, die Julie nicht zu geben vermochte. Obwohl sie die Abteilung leitete, galt sie als chaotisch und so manch ein Kollege verstand nicht, wie sie sich auf ihrer Position halten konnte. Julie war das egal. Sie wusste, dass sie das Gesprächsthema Nummer 1 im Präsidium war. Sollten sich doch die alten Spießer das Maul über sie zerreißen.
Entgegen ihrer Gewohnheit erwischte sich Julie in letzter Zeit immer öfter dabei, dass sie schon am frühen Nachmittag den Laptop abschaltete, sich von ihren Kollegen mit einem Kopfnicken verabschiedete und in einen frühen Feierabend startete. Das hatte einerseits damit zu tun, dass sie sich immer noch nicht an die Anwesenheit Samuels gewöhnt hatte. Zum anderen hing es mit ihrer neuen Dienstagnachmittagsbeschäftigung zusammen. Eigentlich konnte sie es immer noch nicht fassen, was sie da tat. Was hatte sie nur geritten, als sie sich vor einigen Monaten von Yanick dazu hatte überreden lassen, einen ersten Termin zu vereinbaren? Mit einer gehörigen Portion Widerwillen war sie damals zu dem schlichten Ärztehaus in der Innenstadt gefahren, der festen Überzeugung, sich das ganze nur einmal unverbindlich anzuschauen. Diesem ersten Mal waren viele weitere Male gefolgt, und inzwischen konnte sie sich gar nicht mehr vorstellen, auf diesen wöchentlichen Pflichttermin zu verzichten.
Sie warf einen Blick auf die Uhr. Sie musste los, wenn sie nicht zu spät kommen wollte.
***
"Wie fühlen Sie sich heute?"
Der ältere Herr, der ihr gegenübersaß, musterte sie freundlich. Er trug einen etwas altmodischen Cordanzug. Ein leichter Dreitagebart zeichnete Schatten auf seine Wangen. Das Haar war grau und in Wellen zurückgekämmt, was die ausgeprägten Geheimratsecken noch zusätzlich betonte. Am Anfang war er Julie nicht sympathisch gewesen. Sie hatte sich völlig fehl am Platz gefühlt, als sie das erste Mal docteur Coups Praxis betreten hatte. Aber irgendetwas hatte er in ihr berührt, das ihre ganze mühsam aufgebaute innere Schutzmauer zum Einsturz gebracht hatte. Sie hatte dem Psychiater alles erzählt, die ganze dunkle...