Schweitzer Fachinformationen
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Ich, Herr Aramburu, habe aus den Ihnen bekannten Gründen als Kind neun Jahre bei Verwandten in San Sebastián verbracht. Und das kam so: Meine arme Mutter war von dem Kerl, der ihr Ehemann war und den in diesem Bericht mit Namen zu nennen ich mich strikt weigere, verlassen worden und konnte mich und meine Brüder nicht allein durchbringen. Sie suchte Hilfe im Dorf, fand dort keine, und infolgedessen blieb ihr nichts anderes übrig, als uns ins Armenhaus von Pamplona zu schicken.
Nur für ein paar Monate, sagte sie unter Tränen, doch wir ahnten, dass sie log, um uns die Gefangenschaft erträglicher zu machen. Wegen der Liebe, die wir für sie empfanden, taten wir so, als glaubten wir, dass wir bald wieder zu Hause sein würden. Da dies aber nicht die Geschichte ist, die Sie für Ihren Roman brauchen, kürze ich sie ab und sage bloß, dass meine Mutter eine Schwester hatte, die als junges Mädchen nach San Sebastián gegangen war, um da in einer Baskenmützenfabrik zu arbeiten. Sie hat auch als Hausmädchen bei einer französischen Familie gearbeitet, und ich weiß nicht, was noch alles.
In San Sebastián hat sie meinen Onkel Vicente Barriola kennengelernt, der von dort stammte und unter dem Spitznamen Visentico bekannt war. Sie heirateten und hatten zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Diese leibliche Tante, María del Puy Aranzábal, für uns Tante Maripuy, bot meiner Mutter an, eines ihrer Kinder bei sich aufzunehmen, keinesfalls alle drei, nur eines, wie gesagt, denn für alle hatte sie keinen Platz im Haus.
Ich war der Jüngste, noch ein Kind, galt als artig und kam aus diesen Gründen als Erster in Frage. Meine Brüder entwickelten daraufhin eine Art Seelenverwandtschaft miteinander, die immer noch anhält und von der ich leider ausgeschlossen bin, obwohl ich mich mit beiden gut verstehe, besser allerdings, wenn ich sie einzeln treffe, als wenn wir alle drei zusammen sind.
Mit dieser Erklärung beende ich die Vorrede zur Familie, die Sie für Ihren Roman ja nicht brauchen. Unnötig war sie aber nicht, denn sie gibt dem, was folgt, einen Sinn; und außerdem finde ich es, eingedenk dessen, was Sie mir gesagt haben, auch besser, wenn die Geschichte meiner Erinnerungen einen Anfang hat, als wenn sie keinen hätte. Sie haben mich ermuntert, mich so auszudrücken, wie mir der Schnabel gewachsen ist; präzise zwar, aber um Struktur und Stil muss ich mich nicht kümmern, denn das ist ja Ihre Sache als der Schriftsteller, der Sie sind.
Also, an einem Nachmittag Anfang 1968 kam ich in einem Autobus, der «die Roncalesa» genannt wurde, in San Sebastián an. Ich war gerade acht Jahre alt geworden. Ein Nachbar aus dem Dorf brachte meine Mutter und mich in seinem Auto nach Pamplona. In Pamplona schien die Sonne, und das einzige Wasser, das ich sah, war das, was meiner Mutter aus den Augen lief. In San Sebastián war der Himmel bedeckt. Es fiel dieser feine Regen, von dem man nicht nass zu werden scheint, der aber genauso nass macht wie jeder andere Regen, und der bei uns sirimiri heißt. Da ich an einem einzigen Nachmittag so verschieden aussehende Himmel erlebte, war mir, als wäre ich sehr weit fortgeschickt worden.
Mein Cousin Julen war von seiner Mutter dazu verdonnert worden, mich abzuholen. An seinem Gesicht konnte ich sehen, wie ihm dieser Auftrag gegen den Strich ging. Er kam viel zu spät zur Bushaltestelle und bereitete mir dann einen so feindseligen Empfang, dass ich dachte, meine Brüder müssten sich geirrt haben, als sie mich einen Glückspilz nannten.
Ich wusste nur, dass irgendein Verwandter kommen und mich abholen würde. Das war gut so, denn ohne Hilfe hätte ich mich nie zurechtgefunden in der Stadt, in der ich nur ein Mal, im Alter von zwei, vielleicht drei Jahren anlässlich einer Familienfeier gewesen war und von der ich nicht mehr wusste als ein paar unwesentliche Dinge, die meine Mutter mir erzählt hatte.
Ich stieg aus dem Autobus, holte mein Gepäck, die Reisenden gingen ihrer Wege, und ich blieb allein auf dem Bürgersteig zurück. Ohne zu wissen, auf wen ich wartete, harrte ich über eine halbe Stunde unter einer Schaufenstermarkise aus. In meinem Dorf gab es damals nichts dergleichen. Gut, wir hatten die Metzgerei von Ceferino Arrastia, mit einem niedrigen Fenster, durch das man die Würste sehen konnte, die drinnen hingen.
Ich war schon fast so weit, einen Polizisten um Hilfe zu bitten, als mit aufgespanntem Schirm mein Cousin Julen auftauchte. Er hielt eine Kippe zwischen die Zähne geklemmt und ließ mich gleich seine Verachtung spüren, indem er fünf oder sechs Meter vor mir eine Bar betrat.
Als er wieder herauskam, war das Erste, was er zu mir sagte:
«Was willst denn du Scheißer aus Navarro hier?»
Darauf folgte als Begrüßung ein angedeuteter Boxhieb von diesem Kraftmeier.
Wir gingen im Regen durch mir gänzlich unbekannte Straßen. Julen war Läufer und Bergwanderer und ließ mich das auch gleich spüren. Er sagte, wir würden zu Fuß gehen, woraus ich naiverweise schloss, dass sich ein öffentliches Verkehrsmittel nicht lohnte, weil es nur eine kurze Entfernung zurückzulegen galt. Den Irrtum spürte ich schon bald in meinen Beinen. Abends erfuhr ich, dass meine Tante ihm Geld für den Trolleybus gegeben hatte. Er sparte sich die Ausgabe, vermutlich weil er sie als Bezahlung dafür ansah, mich abzuholen.
Julen schritt mit seinem schwarzen Regenschirm und einer Hand in der Hosentasche entschlossen voraus; ich hinter ihm her mit einem dieser Koffer von damals, das heißt, ohne Rollen, und der Pappschachtel, in die meine Mutter zwei lebende Hühner als Geschenk für die Verwandtschaft gepackt hatte.
Das war zu schweres Gepäck, um mit meinem Cousin Schritt halten zu können. Aus Angst, zurückzubleiben und mich zu verlaufen, versuchte ich, meinen Nachteil dadurch auszugleichen, dass ich streckenweise rannte, doch mit meinem Gepäck kam ich kaum in seine Nähe und fiel dann auch schon wieder zurück.
So erreichten wir, ich völlig durchnässt vom Schweiß und vom Regen, die herrliche Promenade, hinter der die Bucht beginnt. Es war Flut, und das Wasser stand so hoch, dass nur noch ein schmaler Streifen Sand zu sehen war. An manchen Stellen schlugen die Wellen schon gegen die Mauer. Da und dort spritzte das Wasser gar über die Brüstung.
Julen bemerkte mein staunendes Gesicht. Er wartete, bis ich herangekommen war, und sagte dann verschmitzt:
«Das ist das Meer, das die Navarros uns Basken im Krieg stehlen wollten. Jeder von ihnen kam mit zwei Eimern, und alle zusammen haben sie uns einen Haufen Wasser geklaut.»
Er fragte mich, ob ich wisse, wo meine Landsleute das gestohlene Wasser versteckt hatten. Ich glaubte, er meine es ernst, und versicherte ihm, dass es in meinem Dorf nicht sein konnte, da gäbe es nicht einmal einen Fluss, aber vielleicht hätten sie den Stausee von Alloz damit gefüllt.
Um den Scherz abzurunden, sagte er:
«Du hast hoffentlich daran gedacht, ein paar Liter davon mitzubringen, oder?»
«Nein.»
«Ihr Navarros seid wirklich üble Burschen.»
Auf dem weiteren Weg fand er sogar noch Zeit, mich weiter zu demütigen. Denn als wir durch das Viertel El Antiguo kamen, befahl er mir, unter einer hohen Laterne, die man am Ende der Straße sehen konnte, auf ihn zu warten. Ich tat, wie mir geheißen, brachte mich aber vor dem anhaltenden sirimiri im Eingang einer Apotheke in Sicherheit. Er besuchte unterdessen zwei oder drei Bars, bevor er sich wieder zu mir gesellte.
Wir gingen knapp eine Stunde von der Bushaltestelle bis zum Stadtrand, wo schon die Felder begannen. Dort standen, zusammengedrängt zwischen Hügeln, ein paar weiße Häuser, die größten bis zu drei Stockwerke hoch. Sie gehörten noch zum Viertel von Ibaeta. Es waren Arbeiterwohnungen, die vor Jahren vom gewerkschaftlichen Bauverein «Heim und Architektur» errichtet worden waren. Unter dem Franco-Regime also, wie eine Zementplatte am Eingang des Viertels bestätigte, auf der das Symbol von Joch und Pfeilen prangte, was ich Ihnen, Herr Aramburu, ja wohl nicht erzählen muss, da Sie viele Jahre in der Nummer 4 dieses Fleckens, Vororts oder was immer gewohnt haben. Ich nehme an, dass diese Tatsache es mir erspart, den Ort näher zu beschreiben.
Doch zurück zu meinem Bericht. Julen und ich erreichten das Haus meines Onkels und meiner Tante, als es schon dunkel zu werden begann. Dort angekommen, legte mein Cousin seinen Schirm auf die Erde und forderte mich auf, ihn zu nehmen, wobei er mir den Koffer und den Karton mit den Hühnern abnahm, um damit seiner Familie zu zeigen, dass er mir unterwegs tragen geholfen hatte. Dann stieß er im Treppenhaus einen lauten, recht ungewöhnlichen Pfiff aus, der zur Folge hatte, dass nur seine Mutter im dritten Stock und keiner von den Nachbarn auf den anderen Stockwerken die Tür öffnete, als wir gerade den obersten Treppenabsatz erreicht hatten. Meine Verwandtschaft empfing mich nicht gerade herzlich, mit Ausnahme von Tante Maripuy, die mich an sich drückte, als wolle sie mich mit niemand anderem mehr teilen.
Danach schimpfte sie mit mir wegen meiner durchnässten Kleidung und tadelte meine Mutter wegen der Hühner, die doch nicht nötig gewesen wären. Den Tadel wiederholte sie, als ich ein Paket etwas zerdrückter Feigen sowie ein in Packpapier eingewickeltes Viertel Spanferkel aus dem Koffer holte.
Wir aßen zu fünft in der Küche, saßen alle am Tisch, außer Tante Maripuy, die unentwegt am Herd hantierte und im Stehen aß.
Ich wunderte mich, wie wenig meine Verwandten miteinander sprachen. Jeder starrte auf seinen Teller, als wollte er das, was darauf lag, genau in Augenschein nehmen. Da keine Unterhaltung das Geräusch...
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