1.
Donnerstag, 7. Juli
Bei der BLITZ herrschte dickere Luft als in Peking zur Hauptverkehrszeit. Und das, obwohl praktisch jedes Fenster in der Redaktion geöffnet war, um der Julihitze wenigstens einen kleinen Luftzug abzuringen.
»Sie hat WAS getan?«
Sophie war außer sich, wie Maren sie selten erlebt hatte. Die Freundin war von ihrem Stuhl aufgesprungen und brachte gleichzeitig das Kunststück fertig, ihren Chef mit den Augen zu durchbohren und an dem Grund für ihren Zorn komplett vorbeizusehen. Dabei saß Belinda direkt neben ihr. Wie stets in diese makellos blendende Schönheit gehüllt, die nur Frauen unter dreißig beschieden war, die über das nötige Geld verfügten, all ihre Vorzüge perfekt in Szene zu setzen.
»Reg dich ab.« Stein lächelte falsch. Selbst für jemanden, der ihn nur halb so gut kannte wie seine besten Mitarbeiterinnen, war ersichtlich, dass er sich extrem unwohl fühlte.
»Belinda hat einen Fehler gemacht, ja.« Er strich sich über das schüttere Haar und warf der Praktikantin einen bemüht tadelnden Blick zu. Die sah so unbeteiligt drein, als wäre sie sich keiner Schuld bewusst. »Aber schließlich lernt sie das Handwerk ja gerade erst .«
»Und zweitens hat sie einen sehr einflussreichen Daddy«, ranzte Sophie ihn an. »Wer wüsste das nicht?«
»Seine Anwälte werden uns jedenfalls unterstützen, und ich bin sicher, dass es eine gütliche Einigung geben wird.«
»Ja, klar.« Sophie hatte sich jetzt vor Steins Schreibtisch aufgebaut wie die griechische Rachegöttin Nemesis höchstpersönlich, die geballten Fäuste in die Taille gestemmt. »Du musst ihrem Vater ja richtig was schuldig sein, wenn du dafür unser aller Ruf aufs Spiel setzt.«
Der amerikanische Ausnahmekünstler Gordon Ross, den Belinda letzten Monat hatte interviewen dürfen, hatte das Magazin wegen Verleumdung verklagt. Völlig zu Recht, wie Maren insgeheim fand. Immerhin hatte die Neue die sexuellen Vorlieben des Frauenschwarms in ihrem Artikel so unverblümt bloßgelegt, dass jeder annehmen musste, der Mann sei stockschwul oder impotent. Seine zahllosen weiblichen Fans waren entsprechend erschüttert.
Momentan hielt Maren sich mit ihrer Meinung allerdings zurück. Denn wenn Sophie erst einmal so richtig aufdrehte, reichte das locker für sie beide. Und die stampfte Stein gerade in Grund und Boden. Dabei wirkte ihr Chef defensiv wie selten, beinahe so, als seien ihm die Hände gebunden. Aus welchen Gründen auch immer. Fast tat er Maren leid. Was sie aber gleich darauf revidierte, als er weitersprach, ohne auf Sophies Anspielung einzugehen.
»Und mit dem nächsten Auftrag wird sie es wiedergutmachen. Nicht wahr, Belinda?« Er lächelte die Praktikantin Beifall heischend an.
»Was? Für? Ein? Auftrag?«
So, wie Sophie ihn anfunkelte, war Maren froh, jetzt nicht in seiner Haut zu stecken.
»Den in Amsterdam«, sagte der Chef, als hätten sie es schon tausend Male besprochen, was jedoch nicht der Fall war.
Alle drei Frauen lüpften die Brauen.
»Als Hauptartikel für die nächste Ausgabe will ich ein richtig gepfeffertes, absolut tabuloses Porträt von Lilli de Boer.«
Sophie gab ihre Angriffshaltung auf. Sie löste ihre Fäuste und stützte eine Hand locker auf die vorgeschobene Hüfte. Für Maren ein klares Zeichen, dass der Chef sie an der Angel hatte. Sophie war eindeutig scharf auf den Job, von dem Maren noch nicht einmal wusste, was daran der große Knaller sein sollte.
»Und wer ist diese Frau?« Wie stets klang Belinda gelinde gelangweilt.
»War klar, dass so eine wie du das nicht weiß.« Sophie drehte sich um und musterte die Konkurrentin verächtlich. Maren fühlte sich jedoch ebenfalls ertappt.
»Lilli de Boer ist die berühmteste Puffmutter des Kontinents. Mit dem >Golden Rider< hat sie ein einzigartiges Bordell geschaffen. Da dürfen nämlich nur Frauen rein.«
»Und?« Belinda legte die Hände über ihre verschränkten Arme.
»Und die können es sich in diesem Laden von den geilsten Hengsten besorgen lassen, die du je gesehen hast.«
»Aha.« Gänzlich unbeeindruckt betrachtete die Praktikantin jetzt ihre manikürten Fingernägel.
»Genau«, sagte Walter Stein, als gehöre auch er zu den feuchten Träumen aller Frauenzimmer und habe seinen Geschlechtsgenossen im »Golden Rider« durch die Wahl eines anderen Berufes nur großzügig den Vortritt gelassen. »Und das soll die Welt von der BLITZ erfahren!«
»Gute Idee.« Sophie drehte sich wieder zu ihm um. Ihre Stimme klang nun um einige Nuancen milder. »Wann geht's denn los?«
Nur zu gut konnte Maren sich den bezirzenden Gesichtsausdruck vorstellen, mit dem ihre Freundin den Chef in dieser Sekunde für sich einzunehmen versuchte. Wenn Sophie etwas wollte, konnte sie blitzschnell umschalten und sich von der Kratzbürste in ein schnurrendes Kätzchen verwandeln. Das gab Stein allerdings postwendend wieder Oberwasser.
»Gleich morgen früh. Um zehn geht euer Flug nach Amsterdam.« Der Redaktionsleiter erhob sich und setzte diesen entschlossenen Blick auf, der zeigte, dass er eine unumstößliche Entscheidung getroffen hatte. Er warf drei Flugtickets auf den Tisch und zeigte auf Sophie. »Aber nur für Maren, Mark und Belinda. Du bleibst hier.«
Eine Sekunde war es mucksmäuschenstill. Dann platzte die Französin.
»WIE BITTE???« Sie rang sichtbar um Kontrolle. »Werde ich jetzt etwa auch noch für die Fehler dieser . dieser unfähigen, verzogenen und dummdreisten Göre bestraft, oder was? Du weißt ganz genau, dass du das mit mir nicht machen -«
»Erstens mache ich, was ich für richtig halte, und zweitens diskutiere ich das nicht mit dir.« Stein ließ sich wieder in seinen Chefsessel plumpsen, um deutlich zu machen, dass das Gespräch damit für ihn beendet war. »So, und jetzt raus mit euch. Ich habe dir eine Beschreibung deines nächsten Auftrags gemailt, die du dir jetzt bitte sofort anguckst, Sophie. Und die anderen bereiten sich vernünftig auf ihren Einsatz in Holland vor. Ich erwarte erstklassige Arbeit.« Sein Blick blieb an Belinda hängen.
Die nickte bloß, zog ein Smartphone aus der Innentasche ihres Chanel-Jacketts und verließ telefonierend das Büro.
Maren stand auf und fasste Sophie tröstend am Ellbogen. Die bebte vor Zorn bis in die vorgeschützten Lippen und sah erst so aus, als wolle sie sich nicht von der Stelle rühren. Doch gleich darauf riss sie sich abrupt von Maren los und machte auf dem Absatz kehrt.
»Dann baue ich eben mit sofortiger Wirkung meine 17 Juni-Überstunden ab«, sagte sie, als sie durch die Tür marschierte. »Bis übermorgen, Chef.« Das letzte Wort spie sie aus wie eine Beleidigung.
»Du willst für diese abgezockte Tusse doch wohl nicht deinen Job riskieren!« Maren war Sophie hinterhergeeilt und stand jetzt neben ihrer Freundin am Schreibtisch, während diese wutentbrannt ihr Auffrischungs-Make-up in die Clutch stopfte.
»Quatsch. Das wird Stein niemals wagen. Mich feuern. Pah! Mich! Merde! Warum ist diese Misttasche von Marc Jacobs nur so klein .«
»Er hat immerhin gewagt, dich vom Amsterdam-Trip auszuschließen. Das hätte ich auch nicht für möglich gehalten, wenn ich nicht selbst dabei gewesen wäre.«
»Ja«, knurrte Sophie. »Aber jetzt wird er sehen, was er davon hat. Der Überstunden-Abbau steht mir zu. Deswegen kann er mich gar nicht feuern. Das wird unser Betriebsrat ihm schon beibringen. Und vorerst mach ich nur noch Dienst nach Vorschrift. Oder krank. Bis er mir verrät, was dieser Schwachsinn hier auf einmal soll.«
Sie war fertig mit Zusammenpacken, grabschte sich ihre Sonnenbrille, ein exklusives Einzelstück, das sie sich eigens von der hippen Berliner Manufaktur Mykita hatte anfertigen lassen, und düste mit wehenden Locken aus dem Büro. Nachdenklich sah Maren dem davonpreschenden Rotschopf hinterher.
Normalerweise machte die Arbeit bei der BLITZ richtig Spaß, und außerdem ermöglichte sie den Freundinnen einen angenehmen Lebensstandard. Hoffentlich verlieren wir das nicht irgendwann, dachte sie und wandte sich ab. Sie hatte ein schlechtes Gewissen. Denn auch wenn es sie betrübte, dass Sophie nicht mitkommen durfte, freute sie sich riesig, weil wenigstens Mark sie auf dem Trip nach Amsterdam begleiten würde. Schon immer hatte sie sich gewünscht, eines Tages mit dem Mann ihrer Träume diese weltoffene Stadt zu erobern, die selbst Paris in Sachen Liebe ausstach und mehr Grachten besaß als das romantische Venedig.
Vielleicht war genau das die Umgebung, die sie brauchten, um endlich den Mut aufzubringen, es doch noch einmal miteinander zu versuchen. Blieb bloß noch Belinda als lästiger Klotz am Bein. Aber womöglich war es sogar ganz gut, dass sie dabei war. Schließlich sollte die Praktikantin ihren Fehler mit Gordon Ross wieder ausbügeln. Dann konnte man ja wohl auch von ihr verlangen, dass sie sich ordentlich reinhängte und den Löwenanteil der Arbeit machte, womit Mark und Maren genügend Zeit haben würden, sich in der Metropole an der Amstel umzusehen.
In Gedanken streifte Maren schon durch die urigen Gassen und zuckte unwillkürlich zusammen, weil ihr plötzlich bewusst wurde, dass der Mann, von dem sie gerade träumte, neben ihr stand. Da sie so versunken gewesen war, hatte sie nicht bemerkt, wie er sich genähert hatte. Sofort breitete sich ein Lächeln über ihre Wangen aus.
»Hallo, Mark. Hast du's schon vom Chef gehört? Wir fliegen morgen Vormittag nach Amsterdam.« Sie konnte und wollte die Freude in ihrer Stimme nicht unterdrücken. »Belinda kommt auch mit, aber .«
»Ja. Ich weiß es seit anderthalb Stunden.«
»Okay.« Maren irritierte, dass er sie so ernst ansah, während er sprach. »Und du bist nicht gerade...