Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
November 1970
In seinen Träumen sind ihre Augen immer grün. Das Grün der Grashüpfer, Blätter, Smaragde. Ein dunkelgeflecktes Grün, das ihn an zersprungene Jade erinnert.
Heute weiß er, dass Honufas Augen eigentlich grau waren. Das Grau der Katzen und sonnenlosen Morgen. Das Grau der sich windenden See.
An diesem brandungsgrollenden Morgen öffnet sie ihre grauen Augen erst spät. Der Lehmboden in ihrer Hütte ist gesprenkelt vom Licht.
Honufa richtet sich auf. Auf dem Fensterbrett sitzt eine kohlschwarze Glanzkrähe mit ausgebreiteten Flügeln. Der krumme Schnabel ist halb geöffnet, wie zum Schrei. Die Onyxaugen starren sie unverwandt an.
Der Vogel rührt sich nicht, während sie vorsichtig das Bett verlässt und mit langsamem, gemessenem Schritt auf ihn zugeht, ohne den Blick von ihm zu wenden.
Erst als sie die Hand ausstreckt, um den Kopf zu berühren, flattert die Krähe davon. Ihr lautes Abschiedsgekrächz erschüttert die enge Hütte.
Wie ein Kind spuckt sich Honufa auf die Brust, um den rasenden Herzschlag zu beruhigen. Eine dunkle Ahnung beschleicht sie wie ein hungriges, lautloses Raubtier.
Die Hartholzpritsche, auf der sie schlafen, hat ihr Vater gebaut, ihr vermacht als widerwillige Abschiedsgabe zu ihrer Heirat mit Jamir, vor vielen Jahren. Im Moment liegt nur ihr dreijähriger Sohn darauf, warm und voller Träume. Die Seite, auf der sich sonst Jamir ausstreckt, ist leer. Es ist das erste Mal, dass er ohne Abschied aufs Meer gefahren ist, mitten hinein in den Golf, für wie lang auch immer.
Sie benetzt ihr Gesicht mit Wasser aus einem Tonkrug und beginnt mit dem Haushalt - wäscht einen Stapel Kleidung, wirft die Gräten der gestrigen Mahlzeiten der verschlafenen Katze zu, die gern am Herd liegt, und geht dann im nahen Wald Feuerholz sammeln, liest verstreute Äste vom Boden auf. Am Ufer eines Weihers, der sie wie die Krähe schwarz anzustarren scheint, rupft sie Löwenzahnblätter für das Mittagessen.
Noch ist die Dämmerung nicht zum Morgen herangewachsen, aber das fahlblaue Leuchten, das die Welt durchtränkt, weicht langsam dem Violett, dem Orange und schließlich der Nichtfarbe des reinen Sonnenlichts.
Im Bett regt sich ihr Sohn, während Honufa die mit Jutestricken verschnürten Güter des Morgens auf ihrem Kopf zur Hütte trägt.
Drei Jahrzehnte harten Lebens haben ihr die Weichheit aus dem Gesicht geschliffen, die Falten um ihre Augen tief eingegraben, die Lippen schmaler werden lassen und dem Kiefer etwas Kantiges verliehen: Schön ist Honufa nicht, doch sie ist stark, und mit fast einem Meter siebzig überragt sie alle anderen Frauen des Küstendorfs, das sie ihr Zuhause nennt. Ihre Schultern sind breit, ihre Hände schwielig von den vielen Tauen und Netzen, die sie gezogen und gefaltet hat über die Jahre, und von den Bergen von Kokosnüssen, die sie geschält hat.
Die Länge der Baumschatten und der Stand der Sonne weisen ihr die Stunde, sagen ihr, dass es nun Zeit ist, den Dorfbrunnen aufzusuchen, um Wasser zu schöpfen, ganz für sich allein, womit sie sich längst abgefunden hat. Lange hatte sie die Hoffnung gehabt, die Last der prüfenden Blicke, den Stachel der Urteile allmählich leichter ertragen zu können, doch sie erfüllte sich nicht.
Unterwegs bleibt sie stehen. Zu einer Stunde, an der der Strand sonst wie ausgestorben ist, brodelt er jetzt vor Betriebsamkeit. Das ganze Dorf ist hier versammelt, der graue Sand von über hundert Füßen zu Gipfeln und Tälern zerwühlt. Männer und Frauen, sehnig, von der Sonne gebräunt, ziehen Boote an Land und knoten sie fest an die Bäume, holen Netze ein und falten sie. Kinder schleppen in röhrenförmigen Fallen gefangene Fische fort. Jeder packt an, wo es nötig ist, der Anlass tilgt die Grenzen des Alters, Geschlechts und Körperbaus.
Ein Sturm zieht auf.
Sie wendet den Kopf von Ost nach West nach Süd, den Hauptrichtungen, aus denen ein Sturm zu nahen pflegt, doch noch nichts ist zu erkennen: Ruhig hängt das Stroh von den Dächern der Hütten, die Sonne brennt hell vom wolkenlosen Himmel, aber im Dorf herrscht lautes Gewimmel.
Honufas Blick sucht die Menge nach einem freundlichen Gesicht ab oder wenigstens einem Augenpaar, das sich nicht abwendet.
Sie entdeckt Rina, wie sie Netze faltet inmitten einer größeren Gruppe von Frauen und gerade ein besonders Großes mit der selbstverständlichen Leichtigkeit aufrollt, die jahrelange Übung mit sich bringt. Honufa ergreift das andere Ende des Netzes und tut es der Älteren nach, bis sich beide in der Mitte begegnen.
»Ein Sturm?«
Rina nickt. Neben Honufa wirkt sie winzig und drahtig, wie ein Streifen Fleisch, den man in die Sonne gelegt hat.
»Woher wissen sie das?«
»Sie haben heute Morgen den Schiffer gesehen.«
Das Netz fällt Honufa aus den Händen.
Sie eilt nach Hause. Dieser Sturm ist nicht der erste, für den sie sich rüsten muss. Während ihr Sohn, nun erwacht, damit beschäftigt ist, die Hühner im Hof zu jagen und zu necken, wickelt Honufa die losen Enden ihres Saris fester und geht ans Werk.
Die Zahl ihrer Besitztümer ist überschaubar, sie hat alles binnen Minuten zusammengesucht. Auf eine der beiden großen bestickten Kantha-Bettdecken, die sie über den Boden breitet, stellt sie die Kochutensilien - ein Boti (die Klinge umwickelt) zum Schneiden, ein Nora zum Mahlen, Töpfe und Pfannen, die schon Unmengen von Reis, Linsen, Fisch und Spinat gekocht haben. Auf der zweiten Kantha häuft sie ihr Bettzeug und ihre Kleidung, noch feucht von der morgendlichen Wäsche. In einen groben Jutesack kommen die trockenen Esswaren.
Sie tritt ins Freie. Die Hühner, eins schwarz-weiß gepunktet, das andere ockerfarben, sind von besonderer Schönheit. Doch sie kennen auch ihre Pflicht, legen täglich ein Ei in irgendeinem Winkel des Hauses und bereiten so ihrem Sohn den Spaß einer Schatzsuche, bei der er am Ende einen Preis - die Schale noch weich und warm vom Körper der Henne - in seinen Händen hält.
Sie blickt auf die Tiere und seufzt. Dass ihr Sohn sie so liebt, macht das, was jetzt kommen muss, schwer.
Sie ergreift ein Messer und beginnt es am Stein zu wetzen.
Als Rina eintrifft, gräbt sie gerade im Hof ein Loch, das bereits mehr als einen halben Meter tief ist. Die Ältere holt einen zweiten Spaten aus dem Kuhstall und beginnt mitzuschaufeln, verfällt dabei in den wortlosen Rhythmus der Arbeit. So wächst das Loch rasch.
Einen Moment lang stehen die beiden Frauen schwitzend, schwer atmend beieinander und bewundern ihr Werk.
»Glaubst du wirklich, dass ein Sturm aufzieht?«
»Der Schiffer hat sich noch nie geirrt.«
Dreimal im Laufe eines Vierteljahrhunderts hat man den einsamen Schiffer gesehen, wie er unter schwarzen Segeln in der Bucht gekreuzt ist, stets Richtung Süden, und dabei den Menschen am Strand oder auf den schroffen grünen Hügeln den Rücken zugekehrt hat.
Jedes Mal wenn er erschien, folgte ein gewaltiger Sturm.
»Wer, glaubst du, ist er?«
Rina sieht sie bedeutungsvoll an. »Jeder denkt sich das Seine. Ich weiß nur, dass es kein Mensch ist, der unter diesen schwarzen Segeln steht.«
Dieses Bild lässt Honufa erschaudern.
»Wo steckt dein Sohn?«, fragt Rina.
»Drinnen. Er hat einen Wutanfall gehabt. Er hat das, was getan werden musste, nicht gut verkraftet.«
»Dann ist er auf dem besten Wege, ein Mann zu werden.«
Honufa lächelt. In ihrem kleinen Sohn sieht sie mehr von der ruhigen Kraft und dem weichen Herzen ihres Manns als von ihrem eigenen Temperament, ihrem unbezähmbaren Willen. Vielleicht ist das gut so.
Ihr Sohn trägt einen großen Namen, gewählt aus einem Buch, das ihr der Zamindar des Dorfes vorlas, als sie selbst noch ein Kind war. In diesem Buch steckt eine Geschichte in der anderen, wie einander zugewandte Spiegel, endlos vervielfältigt, sodass man sich in ihnen heillos verirrt.
Die Frauen senken die Säcke ins Loch (mitsamt den Hühnern, geschlachtet, gerupft und in tönerne Töpfe gestopft) und setzen zur Markierung einen langen Pfahl in die Mitte, bevor sie die Erde zurückschaufeln. Mit den Rückseiten der Schaufeln klopfen sie dann das Erdreich flach.
Sie bittet Rina in ihr nun kahles Haus. Ihr Sohn sitzt auf der Liege mit Spuren von Tränen im staubigen Gesicht. Er rennt zu Rina, die ihn in die offenen Arme schließt und dann auf die Hüfte hebt.
Sie kitzelt ihn. »Hat da jemand geweint?«
Er richtet einen anklagenden Finger auf die Mutter. »Sie hat die Hühner getötet.«
»Waren sie deine Freunde?«
»Ja.«
»Wenn sie das nicht getan hätte, hätte der Sturm sie sich geschnappt, und du hättest sie so auch nie wiedergesehen.«
Während Rina mit dem Kind beschäftigt ist, geht Honufa zur hinteren Wand ihrer Hütte, verwünscht sich dafür, an dieses Entscheidende nicht eher gedacht zu haben. Sie langt nach oben, auf Zehenspitzen, und betastet mit blinder Hand die Stelle, wo ein Brief liegen muss. Doch sie findet nichts. Mit rasendem Herzen wühlt sie jetzt in Staub und Lehm, schiebt das Bett an die Wand und steigt darauf, um genau nachzusehen. Aber der Brief, den sie vor über zwei Monaten sorgsam und heimlich dort untergebracht hat und den sie mit zwanghafter Hingabe jedes Mal wieder befühlt hat, kaum dass ihr Ehemann aus dem Haus war, ist verschwunden.
Sie klettert vom Bett und merkt, dass Rina sie anstarrt.
»Was ist los mit dir?«
Trotz ihres aschfahlen Gesichts, der dünnen, dürren Stimme gelingt es ihrer Kehle, eine Lüge hervorzubringen. »Ein Paar goldene Ohrringe. Ein Geschenk von...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: ohne DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet – also für „glatten” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Ein Kopierschutz bzw. Digital Rights Management wird bei diesem E-Book nicht eingesetzt.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.