Schweitzer Fachinformationen
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Ich nahm mein Jackett vom Haken, schloss die Tür und folgte ihr zu ihrem Wagen. Sie besass einen grünen Range Rover mit weissem Dach; eines dieser kantigen Modelle mit einem Anhängerhaken und Gittern vor den Schlussleuchten. Sie musste auf den Sitz hochklettern, aber hinter dem Lenkrad schien sie um Jahre jünger.
Sie manövrierte den imperialen Wagen geschickt aus dem Parkfeld, steuerte ihn zunächst die Allee-, dann die Fansrütistrasse hinauf und bog zuoberst auf der Kuppe auf einen Fahrweg ein, der als Sackgasse beschildert war und leicht aufwärts durch einen abschüssigen Wald führte.
Wir rauschten dahin, die Frühlingssonne blinkte freundlich durch die Tannen.
Nach einer Kurve wich sie auf eine Ausweichstelle aus, stoppte und wartete. Ein Fahrzeug brauste uns entgegen und wirbelte tüchtig Staub auf. Ein vanillefarbener Mercedes, eines dieser älteren Flaggschiffe mit senkrechtem Kühlergrill und ungetönten Scheiben. Es sass ein Mann am Steuer, auf dem Nebensitz eine Frau mit honigblonden Haaren und einer Sonnenbrille mit Gläsern so gross wie Untertassen. Ich vermochte nicht zu erkennen, wer die beiden waren, weil die Sonne zu sehr blendete.
Der Fahrer hielt auf gleicher Höhe an und kurbelte die Scheibe hinunter. Madame Bernard liess ihre Scheibe ebenfalls nach unten gleiten. Der Mann grüsste mit tiefer Stimme. «Colette.»
Er und Madame Bernard waren ungefähr im selben Alter.
Sie beugte sich vor, schaute zum Fahrer hinüber. «Elvira? Franz?»
Ich blieb ruhig sitzen und schaute geradeaus. Um die beiden zu sehen, hätte ich mich ducken und meinen Kopf vorstrecken müssen.
«Wie geht es dir?», hörte ich ihn fragen.
Madame Bernard liess sich Zeit mit der Antwort. «Es geht.» Ihre Finger krallten sich am Lenkrad fest.
«Können wir etwas für dich tun?»
«Ich muss selbst zurechtkommen.» Sie bewegte fast unmerklich den Kopf hin und her. «Nein, im Moment nicht. Danke.»
«Wirklich?» Er liess nicht locker.
«Géraldine, Simon, Hilde, die Pferde - ihr wisst schon. Das Leben geht weiter.»
«Sonst . Du weisst, wo du uns findest. Komm einfach vorbei.»
«Hm .» Sie nickte seitwärts.
«Also dann, schönen Tag.»
«Gleichfalls.» Madame Bernard hob die Hand, und die Mercedes-Karosse brauste davon. Sie guckte in den Rückspiegel und murmelte: «Tannmatters.»
Den Namen hatte ich schon einmal gehört. «Nachbarn von Ihnen?»
Sie sah wieder nach vorn, kippte die Sonnenblende herunter und fuhr an. «Vor bald zwei Jahren haben wir ihnen den Alpstall verkauft. Sie haben den Wohnteil in ein Ferienhaus umgebaut.» Ihre Hand richtete die Sonnenblende dienlicher ein. «Schön gelegen. Zuoberst. Am Ende dieser Strasse.» Sie gab Gas, und die Räder erzeugten auf der löchrigen, ausgewaschenen und mit losen Kieselsteinen übersäten Fahrbahn ein Rauschen, das sich mit dem Brummen des Motors im Wageninneren zu einem Dröhnen auswuchs. Wir fügten uns dem Lärm, ich ergab mich dem Vibrieren und Schaukeln und schwieg.
Ich nutzte die Zeit und rief mir in Erinnerung, was ich über sie wusste: Sie hiess Colette Bernard, galt als resolute, vermögende Dame und lebte hoch über Langnau auf einem Hof. Alle nannten sie Madame Bernard, weil sie ursprünglich aus einer Westschweizer Adelsfamilie stammte, die Rennpferde züchtete. Sie begann in jungen Jahren mit einer Stute ihres Vaters an Rennen teilzunehmen, feierte Erfolge, sogar in England, machte sich selbstständig und wurde Jockey. Zu Deutsch: Berufsrennreiterin. In St. Moritz lernte sie den Zürcher Tierarzt Dr. Paul Geberal kennen; er unterzog die Pferde einer letzten Prüfung vor dem Rennen. Es war eines dieser spektakulären Flachrennen über den gefrorenen See, dem White Turf, auf tausendachthundert Metern über Meer. Mitten im Winter. Sie gewann mit fünf Längen vor dem Zweitklassierten. Das war eine Sensation.
Bei der Siegerehrung überreichte der junge Tierarzt Dr. Geberal ihr fünf Rosen, legte den Arm um sie, beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie auf die Lippen. Die Tatsache, dass er sie küsste, überzeugte sie mehr als alles andere, denn sie hatte sich vor dem Rennen die Lippen, ja das ganze Gesicht gegen die klirrende Kälte dick eingefettet.
Keine Ahnung, ob die Geschichte stimmte. Es kursierten im Emmental mehrere Versionen mit Unterschieden in den Zeitangaben und gespickt mit albernen und zum Teil widersprüchlichen Einzelheiten. Dass sie das Rennen gewonnen hatte, das konnte man nachlesen. Die Sache mit den Rosen und dem Kuss, da gingen die Versionen auseinander.
Vor schätzungsweise zwanzig Jahren stürzte sie kurz nach dem Start und geriet unter die Hufe des nachfolgenden Pferdes. Seither zog sie ein Bein nach und benötigte zum Gehen einen Stock.
Zu der Zeit wurde im Emmental ein Tierarzt gesucht. Geberal bewarb sich um die Stelle, und sie kauften gemeinsam den Bauernhof auf der Sonnenseite des Tales hoch über Langnau. Die beiden zogen mit ihren zwei schulpflichtigen Töchtern ein, verkauften die Kühe, bauten den Stall um, errichteten eine Halle und schafften Pferde an. Geberal und Bernard lebten ohne Trauschein wie Mann und Frau, etwas, das im Dorf und weniger unter den Bauern, deren Viehbestand er als Tierarzt betreute, anfangs für reichlich Gesprächsstoff sorgte.
Madame Bernard fuhr meistens allein ins Dorf hinunter, stellte den Wagen im Zentrum ab, humpelte durch die Gassen, suchte zuerst die Bank oder die Post auf, wohl um Geld abzuheben oder finanziellen Verpflichtungen nachzukommen, und danach das eine oder andere Fachgeschäft, um Besorgungen zu erledigen.
Ich erinnerte mich an eine Begegnung mit ihr. Es war an einem Samstag Ende August oder Anfang September gewesen, circa zwanzig Minuten vor zwölf. Sie stand vor der Postfiliale und blickte verloren um sich. Sie trug ein dunkelgoldfarbenes Leinenkostüm und einen Strohhut mit roter Schleife und fragte mich nach der Uhrzeit. Samstags schliesse die Post um halb zwölf, bemerkte ich, denn sie war offensichtlich angerannt.
Heute trug sie einen eleganten anthrazitgrauen Wollmantel, einen olivgrünen Filzhut und olivgrüne Stiefeletten. Obschon ihr Körper den Mantel nicht mehr auszufüllen vermochte, war ihre Ausstrahlung nach wie vor magisch. Hornbrille, kühner Blick, die Lippen weinrot geschminkt, die Schultern leicht vorgezogen, in der linken Armbeuge eine schwarze Henkeltasche und mit der rechten Hand auf ihren Gehstock gestützt, so war sie vor einer halben Stunde in meine Agentur getreten.
Ich sass bequem im ledernen Sitz des Range Rovers, beobachtete sie von der Seite und dachte, die Person möchte ich sehen, die sich von ihr nicht hätte in den Bann schlagen und zum Mitgehen verpflichten lassen.
Sie war und blieb eine Aussenseiterin im Dorf, wenn nicht im ganzen Emmental. Sie war eine Fremde und unternahm nichts, um ihr Ansehen und ihren Ruf als mannhafte, unnahbare Madame zu entschärfen. Im Gegenteil: Den Stock oder besser seinen Griff aus Sterlingsilber schwang sie mitunter mit beiden Händen gegen Personen, die sie ärgerten. Dafür war sie weitherum bekannt. So wie neulich gegen die drei Schuljungen, die sie auf der Treppe zur Unterführung unter dem Bahnhof erschreckt hatten. Oder gegen den Taxifahrer, der sie auf dem Fussgängerstreifen vor dem Hotel Emmental im Gegenlicht der Morgensonne um ein Haar übersehen hätte. Und gegen die Reiterin, die ihr bei Wind und Regen auf dem Ilfisdamm trabend entgegengeritten kam und derentwegen sie den Pfad verlassen und sich im steilen Bord an den Stamm einer Tanne klammern musste. Sie, die ehemalige Berufsreiterin, verzieh der Freizeitreiterin diese Rücksichtslosigkeit nie.
Nach dem Tod von Geberal zog sich Madame Bernard zurück, um ihre Trauer nicht der Gefahr von geheuchelten, anbiedernden und damit herabwürdigenden Beileidsbekundungen auszusetzen, wie sie dem Pfarrer gesagt haben sollte. Heute war sie vermutlich das erste Mal wieder ins Dorf heruntergekommen.
Wir gelangten zur Hofeinfahrt.
Sie liess den Range Rover über den Vorplatz rollen und nach einem flotten Bogen in die Garage eintauchen.
Wir stiegen aus.
Ich roch die Pferde, unmittelbar und eindeutig, ihren Schweiss und auch den nach Pisse riechenden Mist. Gleichzeitig war ich hingerissen von der Aussicht auf die schneebedeckte Berner Alpenkette. Eis und Schnee schillerten in allen Farben, und die Spitzen, Kanten und Kronen der Berge zeichneten sich scharf gegen den tiefblauen Himmel ab. Der Anblick war atemberaubend. Die drei Berggiganten, Eiger, Mönch und Jungfrau, boten einen herausragenden, ja majestätischen Auftritt. Davor erhob sich der Hohgant, der Berg, der das Emmental gegen Süden abgrenzte. Links davon die auffällige Gebirgskette mit dem markanten Höcker zum Abschluss: die Schrattenfluh mit dem Schibengütsch. Sie bildeten die Ostgrenze.
Hinter dem Hohgant entsprang die Emme. Sie zwängte sich zwischen Schibengütsch und Hohgant hindurch, floss Richtung Norden und mündete nach achtzig Kilometern in die Aare.
Ich riss mich los, schaute hinunter ins Dorf und liess den Blick über ein Teilstück der Ilfis - ein Seitenfluss der Emme - und über die vielen Dächer, Strassen, Plätze und blühenden Sträucher schweifen. Zuletzt blieb ich am Kirchturm hängen, die Uhr zeigte drei Minuten nach halb eins.
Madame Bernard hatte sich die Handtasche und den Stock vom Rücksitz geangelt und stand an meiner Seite. «Kommen Sie, Hilde wartet nicht gern mit dem Essen.»
Sie mühte sich die drei Steintritte hoch, öffnete die Haustür, trat in den schmalen Flur und rief: «C'est moi!»
Die Tasche...
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