Schweitzer Fachinformationen
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An einem Freitag im April 2006 verbrachte ich den Nachmittag und den Abend damit, dass ich auf dem Dach des Apartmenthauses in Brooklyn, in dem ich wohne, hin und her tigerte, die Feuertreppe hinunterstieg, mich mit den Händen ans Geländer hängte, dann mit schmerzenden Handflächen wieder hinaufstieg, mich zusammengerollt oder auf dem Rücken oder dem Bauch ausgestreckt aufs Dach legte und dabei vielleicht verstohlen über die Dachkante spähte. Das Dach ist silbern gestrichen. Das Gebäude ist vier Stockwerke hoch. Einige Freunde von mir, mit denen ich der Reihe nach den ganzen Vormittag über telefoniert hatte - ich war allein gewesen und hatte wild drauflosgewählt -, hatten einander umgehend angerufen. Janice besaß ein Auto, und sie und Nicky kamen von Manhattan über die Brücke, aber es herrschte dichter Verkehr, und kein Mensch wusste, wo ich war.
Oben auf dem Dach kam es mir so vor, als würde die Welt schreien. Ich hörte Sirenen - Polizei, Rettungswagen, Feuerwehr. Wer von ihnen würde mich holen kommen? Die Frau, vor der ich gerade weggerannt war, die Frau, die vor allen anderen von der Arbeit herbeigeeilt war, die mit mir unten in meiner Wohnung gewesen war, meine damalige Partnerin Regan, dachte, ich wäre auf die Straße gelaufen. Wir hatten wegen irgendetwas gestritten, was ich getan hatte. Ich hatte sie gekränkt, und wir litten beide. Sie sprach in schroffem Ton, und ich rannte weg, um zu sterben und die Last von ihr zu nehmen. Sie stürzte mir nach, aber in die falsche Richtung, nach unten statt nach oben, zur Haustür hinaus in Richtung Avenue. Die Sonne ging gerade unter, der Himmel über New Jersey färbte sich orange, und ich war in Socken und zitterte. Ich fürchtete um mein Leben. Ich wusste nicht, warum ich vom Dach fallen musste, warum es an mir war, das zu tun.
Wenn ich die Geschichte meiner Krankheit erzähle, versuche ich, nicht von Depression zu sprechen. Ich spreche von Suizid. Der amerikanische Schriftsteller William Styron schreibt in seinen Memoiren Sturz in die Nacht. Geschichte einer Depression, das Wort «Depression» beschreibe die Krankheit nur unzureichend, und ich sehe das genauso. Eine Depression ist eine Senke, in die es hinab- und aus der es wieder hinausgeht. Das ist Suizid meiner Erfahrung nach nicht. Ich bin der Überzeugung, dass Suizid eine Entwicklungsgeschichte ist, ein Krankheitsprozess, keine Handlung oder Entscheidung, kein Entschluss oder Wunsch. Ich verstehe Suizid nicht als Reaktion auf Schmerz oder als Botschaft an die Lebenden - zumindest nicht nur. Ich sehe Suizid nicht als den Akt, den Tod, den Sturz aus großer Höhe oder den betätigten Abzug. Ich sehe ihn als langwierige Krankheit, eine Krankheit, die ihren Ursprung in Trauma und Isolation hat, in Berührungsentzug, in Gewalt und Vernachlässigung, im Verlust von Heim und Zugehörigkeit. Suizid ist eine Krankheit des Körpers und des Gehirns, wenn man diese Unterscheidung treffen will, aber ihre Ätiologie, ihr Beginn, ob früh oder später im Leben, innerhalb der Familie oder außerhalb von ihr, ist ebenso wie ihr Verlauf sozialer Natur. Ich sehe Suizid als Gesellschaftskrankheit. Ich werde von Suizid sprechen, nicht von Depression.
Meine Krankheit zog sich über Jahre hin. Sie ging nach dem Freitag auf dem Dach weiter, dauerte über ein Jahrzehnt, begleitet von Klinikaufenthalten, von über fünfzig Behandlungen mit Elektrokonvulsionstherapie - vormals Schocktherapie genannt. Ein Jahrzehnt geprägt von Genesung, Rückfall und Wiedergenesung. Diese Zeit scheint weit entfernt, auch wenn sie in der Erinnerung ganz frisch wirken kann. Oben auf dem Dach hatte ich das Gefühl, dass ich schon mein Leben lang starb. Ich hatte das Gefühl, dass es begonnen hatte, als ich ein kleines Kind war.
Ich hing am Geländer der Feuertreppe. Ich achtete darauf, dass meine Zehen ein klein wenig Halt hatten. Die Sonne stand tief; die Luft war kalt. Ich trug Socken, aber keine Schuhe, und meine Handflächen waren zerschrammt und bekamen allmählich Blasen, weil ich immer wieder ein bisschen losließ, immer nur mit einer Hand, sodass ich schräg zur Seite oder nach hinten kippte, um dann schnell wieder nach dem Geländer zu greifen und mich festzuklammern. Ich schaute hinunter auf den betonierten Innenhof und den Maschendrahtzaun, der den Garten hinterm Haus umgab. Der Garten war unzugänglich, klein und verwahrlost. Meine Wohnung liegt im zweiten Stock, und die Fenster meiner Küche und meines Schlafzimmers gehen auf den Garten, obwohl man den Kopf hinausstrecken müsste, um etwas zu sehen. Ich habe den Garten nie länger als eine Minute betrachtet oder dort irgendwen gehört.
Unter mir befand sich der kleine, mit Abfall übersäte Innenhof und eine Außentreppe, die in den abgeschlossenen Keller mit dem Heizungskessel führt. Der Rest war harter Boden. Seit jener Zeit, seit 2006, sind neue Mieter, eine Familie, in die Erdgeschosswohnung eingezogen, und sie haben den alten Maschendrahtzaun durch einen aus Holz ersetzt und einen Grill und einen Picknicktisch aufgestellt; wenn es draußen warm ist, kann ich ihre Kinder hören, und an Schultagen, auch in den kalten Wintermonaten, ältere Kinder, Kinder aus der Nachbarschaft, die auf dem Dachspielplatz der Privatschule ein paar Häuser weiter spielen und kreischen.
Die Pause war vorbei; die Schule war aus; die Nacht brach herein. Ich hatte keine Kinder. Ich hielt mich am Geländer fest. Hinunterzuschauen war weniger schwindelerregend als hinauf. Wolken wehten über den Himmel. Hier und da sah ich Leute auf den umliegenden Dachterrassen Feierabend-Cocktails trinken - es war der Beginn eines Frühlingswochenendes. Wenn ich mich heute an diesen Tag erinnere, frage ich mich, was diese Leute wohl von dem Mann hielten, der von der Feuertreppe aufs Dach und wieder zurück kraxelte, mit einer Hand losließ, sich auf den Bauch plumpsen ließ, um den Kopf über die Dachkante zu strecken. Nahmen sie an, er erledige dort irgendwelche Wartungs- oder Reparaturarbeiten, irgendetwas, was sie nicht deutlich ausmachen konnten? Wenn sie die Nöte des Mannes gekannt, wenn sie den Mann gekannt hätten, hätten sie dann begriffen, dass er kurz davor war zu sterben? Oder hätten sie angenommen, dass er versuchte, am Leben zu bleiben?
Es wurde dunkler, und ich hörte den Verkehr unten auf der Straße, Leute, die nach der Arbeit durch Brooklyn nach Hause fuhren. Es war kalt; ich war schon lange da oben. Dass es fünf Stunden waren, wusste ich nicht. Es hätte jede beliebige Zeitspanne sein können. Ich trug Hosen, ein Hemd und Socken. Meine Hände und meine Kleidung waren schmutzig vom Dach. Meine Hosen saßen locker und rutschten. Über den Winter war ich dünn geworden. Wo war mein Gürtel? Ich schob die Hände in die Taschen und presste Wärme suchend die Arme an den Körper.
Ich hatte über meine Mutter geschrieben, über ihr Leben als Alkoholikerin und wie sie sich in den Tod schickte, über meine Rolle als ihr Sohn, der sie retten sollte und im Stich ließ. Ich begann in dem Jahr nach ihrem Tod zu schreiben, zu früh, um gefahrlos schreiben zu können. Das Buch war ein Bericht über den Tod meiner Familie. Es zu schreiben war aufregend gewesen, doch es zu veröffentlichen war eine Tortur. Das Buch vollzog eine Bewegung von der Exposition zur Szene, von der Abwehr zur Akzeptanz, von der Demütigung zur Liebe. Doch meine alten Welten - Charlottesville, Gainesville, Miami, Sarasota; sämtliche Orte meiner Kindheit - wiederaufzubauen war kostspielig. Ich bearbeitete den Verrat, meinen an meiner Mutter, ihren an mir, meinen an mir selbst.
Ich bin an einem Septemberabend 1958 in Sarasota, Florida, geboren. Laut der Geschichte, die meine Mutter über meine Geburt erzählt, wurde ich ihr gewaltsam weggenommen. Ihre Mutter, meine Großmutter, entriss mich den Armen meiner Mutter und behielt mich. Meine Mutter durfte mich nicht in den Armen halten. Mein Vater, der im Sommer davor mit einem R.O.T.C.-Stipendium das College abgeschlossen hatte, war fort, auf einer Schulung für Panzerkommandeure in Ft. Bragg, North Carolina, wo elf Monate später meine Schwester Terry zur Welt kommen sollte. Meine Mutter erzählte mir, sie und ich seien völlig aufgelöst gewesen; ich hätte geweint und geweint, aber ihre Mutter habe mich nicht zurückgeben wollen. Sie sei in Panik geraten, erzählte sie mir, es habe noch mehr Streit und Tränen gegeben, und mein Vater habe einen Tag und eine Nacht gebraucht, um dorthin zu kommen.
Wo war mein Großvater gewesen? Ich kannte den Vater meiner Mutter als sanftmütigen, leidenden Mann. Als ich noch sehr klein gewesen war, hatte er auf dem Dach des Hauses Ziegel ausgetauscht, war abgestürzt und hatte sich das Rückgrat gebrochen. Das Haus war ein zweistöckiger, weiß verputzter Bau mit rotem Ziegeldach, Jalousien vor den Fenstern, einem gemähten Rasen, einer gepflasterten Einfahrt, einem Carport, einer Haustür, die nie benutzt wurde, einem Gästezimmer im Erdgeschoss und drei Zimmern im Obergeschoss. Meine Schwester und ich wohnten bei unseren Großeltern, als unsere Eltern sich das erste Mal scheiden ließen. Terry war fünf, und ich war sechs. In der Hitze lagen wir in getrennten Zimmern wach. Ventilatoren bliesen. Unten ging eine Glasveranda mit Orchideen und Sträuchern in Kübeln auf einen kleinen, viereckigen Garten, der mit Orangen- und Mandarinenbäumen bepflanzt war. Es gab Glyzinien und Hibiskus. Die Luft war feucht und klebrig. Am Ende eines kleinen Gangs hinterm Haus lag die zweistöckige Garage, wo mein Großvater jeden Tag mehrere Stunden verbrachte, wo er eine Lochplatte mit Werkzeug, aufeinandergestapelte Farbdosen, eine Werkbank mit Schraubstock und einen alten Kühlschrank mit Bier...
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