Schweitzer Fachinformationen
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Ich erzähle dir mal, wie das so läuft.
Es ist Samstag. Es klingelt an deiner Tür. Du wachst auf. Oder du bist schon wach, und es klingelt genau in dem Moment, in dem du dir dein Nutellabrot in den Mund schieben möchtest, auf das du dich freust, seit du zum ersten Mal auf die Schlummertaste gehauen hast. Oder es klingelt und du wirst beim Rasenmähen unterbrochen. Oder beim Duschen. Und du hetzt im Bademantel und nass tropfend zur Tür, weil es wichtig sein könnte. Ein Paket, vielleicht, oder deine Frau oder dein Mann, die vom Einkaufen zurückkommen und die Schlüssel vergessen haben. Es könnte wichtig sein, denkst du, und: Wehe, das sind die Zeugen Jehovas.
Natürlich sind es die Zeugen Jehovas.
Freundlich lächelnde Zeugen Jehovas.
Guten Morgen.
Aus Datenschutzgründen hast du keinen Namen. Du bist eine Hausnummer auf einem kleinen A6-Formular, das gemeinsam mit einer nummerierten Karte deines Wohnviertels in einer Klarsichtfolie in der Tasche deiner Besucher aufbewahrt wird. Nachdem du die Tür geschlossen hast, wird hinter deiner Hausnummer ein Code notiert: M oder W für dein Geschlecht, NH für «Nicht zu Hause», NI für «Nicht interessiert». In den meisten Fällen steht ein Code neben deiner Hausnummer, der deinen Besucher oder die Vertretung an einen Rückbesuch bei dir erinnert.
Hinter der Hausnummer und dem Code ist noch Raum für Notizen. Hast du eine Zeitschrift angenommen? Hat man ein Fünkchen Interesse für das angesprochene Thema in dir wahrgenommen? Warst du freundlich, feindlich, indifferent? Gibt es einen ernsthaften Grund, weshalb man nicht wieder bei dir vorsprechen sollte? Hast du Kinder, einen Partner oder eine Partnerin, ein großes Haus, wirktest du gepflegt, unglücklich oder neugierig?
Aber so weit sind wir noch nicht. Noch stehen deine Besucher da, zwei freundlich lächelnde Menschen, die so aussehen, als würden sie in einem Film Zeugen Jehovas spielen. Einer der beiden Besucher spult den auswendig gelernten Gesprächseinstieg ab, während er dich und dein Zuhause durch den Türrahmen scannt. Am Schlüsselbrett hängt ein Diddl-Anhänger? Neben der Tür klebt eine Ohne dich ist alles doof-Postkarte? Dann werden dir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die tollen Bilder von Kindern gefallen, die mit Pandas im Paradies spielen.
Einer der beiden Besucher redet mit dir, der andere lächelt freundlich. Er wird mit unwiderstehlichen Schlagworten um sich werfen, als spiele er Malen nach Zahlen auf einem Bullshit-Bingo-Zettel, ein Best Of der kleinsten gemeinsamen Nenner der Menschheit, bis er mit einem ins Schwarze trifft. Irgendetwas, das eine Reaktion bei dir auslöst, ein Gefühl, eine Zustimmung, eine Erinnerung. Er ist ein geschulter Fluchthelfer aus der Realität. Er schleust dich an Gemeinplätze wie: «Würden Sie nicht auch gern ewig leben?», «Fänden Sie es nicht schön, Ihre verstorbenen Liebsten wieder in die Arme schließen zu können?» oder «Würden Sie nicht auch gern wissen, warum Gott so viele schlimme Dinge zulässt?». Vertraute Gemeinplätze, die Widerspruch tautologisch beinahe unmöglich machen. Das einzig Exotische: Das bemerkenswert aufrichtige Lächeln der beiden. Du nickst. Wer würde das alles denn nicht wollen?! Der rhetorische Enkeltrick sozusagen. Nur, dass du es besser wissen müsstest, schließlich bist du noch keine 90 Jahre alt. Aber vielleicht weißt du es nicht besser. Und sie wissen beide, dass du es nicht besser weißt.
Während dieser ersten dreißig Sekunden erstellen deine Besucher ein ausführliches Profil von dir. Das geschieht ganz automatisch, sie sind schon lange dabei, sie haben ihre Perspektivenübernahme-Fähigkeit in vielen Stunden Predigtdienst verfeinert. Idealerweise bist du hilflos, verzweifelt, gläubig, aber von deiner Kirche enttäuscht, eher konservativ, in einer Ausnahmesituation, naiv, auf der Suche, verletzlich. Es ist einfacher, einen gläubigen Menschen zu bekehren als einen Atheisten. In den Vereinigten Staaten sind einer Studie zufolge ein gutes Drittel der Zeugen Jehovas ehemalige Protestanten, 27 Prozent waren vorher Katholiken. Trifft keiner der Faktoren zu, ist das ärgerlich, aber kein Ausschlusskriterium. Jeder verdient es, gerettet zu werden. Manche Parameter erleichtern dem Besucher jedoch sein Vorhaben. Menschen, die einem gewissen Profil entsprechen, sind empfänglicher für die Rhetorik der Wachtturm-Gesellschaft.
Es gibt nicht viele Gründe, warum man dich nicht noch mal besuchen sollte. Wenn du nicht ausdrücklich darauf bestehst, von einem erneuten Besuch abzusehen, wird derjenige, der mit dir gesprochen hat, kein NI in deiner Zeile eintragen. Das NI ist ein inoffizielles Kürzel, es ist auf dem Formular noch nicht mal vorgesehen. Der Besucher ist darauf vorbereitet, dass du ihn schnell loswerden möchtest. Ein flapsiges «Ich habe keine Zeit», «Vielleicht ein anderes Mal» oder selbst ein «Kein Interesse, danke» deinerseits wird bloß als Abfallprodukt unserer schnelllebigen, stressigen Gesellschaft aufgefasst. Genau das ist womöglich der Aufhänger für den nächsten Besuch. Oder ein anderes Detail, das man in deiner Zeile notiert, eine Kleinigkeit, eine Beobachtung, eine Auffälligkeit.
Man wird es als Einstieg in das Folgegespräch nutzen, und du wirst dumm gucken, weil du keine Ahnung hast, wovon der Besucher redet. Du wirst den Besucher nicht sofort wiedererkennen, aber er wird sich an genug Details erinnern, um entsprechend vorbereitet eine Publikation im Gepäck zu haben, die zufälligerweise etwas mit der Kleinigkeit, der Beobachtung, der Auffälligkeit zu tun hat. Der Besucher wird dich auf dem falschen Fuß erwischen, und egal, was du sagst und wie du dich verhältst, er wird wieder eine Notiz anfertigen. Er wird wiederkommen. Vielleicht sagst du diesmal aber auch, dass du wirklich kein Interesse hast. Vielleicht hast du diesmal das seltene Glück und hinter deiner Hausnummer steht ein NI. Herzlichen Glückwunsch. Es dauert ein Jahr, bis die Zeugen Jehovas wieder an deiner Tür klingeln. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wirst du niemals ein Zeuge Jehovas sein.
Womöglich steht in der Notiz aber auch, dass du einen Wachtturm entgegengenommen hast. Was man der Notiz nicht entnehmen kann: Das machtest du nur, um ihn abzuwimmeln, weil du vielleicht etwas überrumpelt worden bist, wie das bei Haustürgeschäften so häufig der Fall ist.
Mittlerweile nimmt dein Besucher das mit dem Datenschutz nicht mehr so ernst. Er hat konkrete Angaben zu deinem Namen, deinem geschätzten Alter, deinem vermuteten Familienstand und der Tageszeit, zu der er dich angetroffen hat, notiert. Vielleicht hast du ihm auch schon deine religiöse Zugehörigkeit mitgeteilt. Er hat gelernt, all diese Informationen für seine Zwecke einzusetzen.
Aber sei ihm nicht böse. Wie alle auf der untersten Ebene eines Schneeballsystems glaubt er an das, was er dir verkaufen möchte. Er glaubt, dass es dein Leben bereichern wird, so wie er überzeugt ist, dass es sein Leben bereichert hat. Er will dir die Wahrheit verkaufen. Den Schlüssel zum ewigen Leben. Dein Besucher ist ein eifriger Bibellehrer, ein Verkündiger der Guten Botschaft. Und er wird nicht aufgeben, jetzt erst recht nicht.
Der Preis? Nichts, was sich in Geld aufwiegen ließe. Die Wachtturm-Gesellschaft ist nicht hinter deinem Vermögen her. Wir sind hier ja nicht bei Scientology. Du kannst jahrzehntelang Zeuge Jehovas sein, ohne auch nur einen Cent an die Organisation zu zahlen. Alles, was sie will, ist deine totale, hundertprozentige Loyalität. Es ist nicht teuer, ein Zeuge Jehovas zu sein. Die Höhe des Preises, den du bezahlst, bestimmst du selbst. Die Währung steht im Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes. Die freie Entfaltung deiner Persönlichkeit. Vergiss die Handlungsfreiheit, vergiss dein Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Man wird dir sagen, was du zu tun hast, man wird dir vorschreiben, was du zu sagen hast, man wird anordnen, wie du dich zu kleiden und zu benehmen hast. Und du wirst es tun, du wirst es gerne tun, denn du kannst dich nicht entsinnen, dass man es dir befohlen oder vorgeschrieben, gar verboten hätte. Du wirst überzeugt sein, dass es deine eigene Idee war, dein eigener Wunsch, deine eigene freiwillige Reaktion auf den vergemeinschaftlichten Imperativ, der die Sprache der Wachtturm-Gesellschaft dominiert.
So weit sind wir aber noch lange nicht.
In den letzten Jahren hat der Besucher wichtige demographische Erkenntnisse über dein Wohnviertel gewonnen und in einem separaten Notizbuch detailliert aufgezeichnet. Er ist noch alte Schule; manche seiner jüngeren Zeugen-Jehovas-Kollegen nutzen bereits eine Smartphone-App.
Dummerweise hast du den Wachtturm nicht gelesen, auf den er dich anspricht. Das ist nicht schlimm. Von seinen Besuchen bei deinen Nachbarn weiß er, dass es noch viele andere Themen gibt, die die Menschen in deinem Wohnviertel bewegen. Wie der Zufall es will, enthält der aktuelle Wachtturm einen Artikel zu einem der Themen. Natürlich hat er ihn dabei. Du bist viel zu überrascht, um abzulehnen. Als er dich fragt, ob es in Ordnung wäre, wenn er die Zeitschriften regelmäßig in deinem Briefkasten hinterlässt, bist du einverstanden, weil du hoffst, dass er nicht mehr klingelt.
Er lobt deinen Vorgarten und deine Vorhänge und fragt, ob dein Schnupfen besser geworden ist. Vielleicht erwähnt er, dass ihm aufgefallen ist, dass du beim letzten Mal ein Dortmund-Trikot trugst. Ihr unterhaltet euch fünf Minuten lang über das...
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