Schweitzer Fachinformationen
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Die dreiundsiebzigjährige Babette Halmar aus München ist spurlos verschwunden. Sie lebte allein, galt als rüstig und lebensfroh. Nachdem die Polizei ein Foto von ihr in den Zeitungen veröffentlicht hat, meldet sich eine Frau, die behauptet, deren Schwester zu sein. Sie hat die Vermisste seit Kriegsende für tot gehalten, während diese offenbar jahrzehntelang unter einem anderen Namen in der Stadt wohnte. Tabor Südens Fahndung bekommt eine völlig neue Richtung: in eine bewegende Vergangenheit.
Manchmal sprachen wir über nichts anderes als über den Tod.
»Hast du Angst?«, fragte Martin Heuer.
»Ja«, sagte ich. »Wenn ich glücklich bin.«
»Glaubst du an Gott?«
»Das weißt du doch«, sagte ich und winkte der Wirtin, die an einem Tisch saß und mit Gästen über ein in der Zeitung ausgebreitetes Verbrechen diskutierte. »Wenn es mir gut geht, glaube ich an Gott.«
»Sonst nicht?«
Martin zündete sich eine Zigarette an, blies den Rauch in Richtung Tür und rutschte auf dem Barhocker herum. Seine Daunenjacke knisterte. Draußen war es ziemlich warm, aber er hatte den Reißverschluss geschlossen und dachte auch in der Kneipe nicht daran, ihn zu öffnen oder womöglich die Jacke abzulegen. In ihm war etwas erkaltet. Und vielleicht sog er deshalb so gierig den Rauch seiner Salemohne ein, weil er sich einbildete, auf diese Weise gelange ein wenig Wärme in seine Arktis.
Darüber sprachen wir nicht. Schon lange nicht mehr.
»Noch zwei?« Die Wirtin wirkte nicht weniger bebiert als wir.
Martin nickte.
»Unbedingt«, sagte ich.
»Hast du das gelesen?«, sagte die Wirtin, die Hanni hieß, wie sie mir einmal bei einer innigen Abschiedsumarmung nach einem endlosen Abend ins Ohr geflüstert hatte. »Jetzt müssen die den Prozess von vorn anfangen, weil der Zeuge das Mädchen in der Türkei gesehen hat. Gibt's doch nicht. Glaubst du so was? Da stimmt doch was nicht. Die ist doch tot. Der Bursche, der da vor Gericht steht, der wars. Die ist doch nicht in der Türkei! Wie soll die da hingekommen sein?«
Sie stellte die Gläser vor uns auf den Tresen und zog mit einem Kugelschreiber einen weiteren blauen Strich auf meinem Deckel. Es war Freitagabend und Martin mein Gast.
»Die Polizei hat Mist gebaut«, sagte Hanni. »Die brauchen jetzt ein Alibi.«
»Was für ein Alibi?«, sagte ich.
Obwohl ich relativ regelmäßig im »Augustinerstüberl« an der Tegernseer Landstraße mein Bier trank - ab und zu in Begleitung meines besten Freundes und Kollegen Martin Heuer -, kannte kein Gast meinen Beruf. Wenn ich allein am Tresen stand, redete ich selten mit jemandem, allenfalls mit der Wirtin, die eine Vorliebe für Fragen hatte, die sie sich selber beantwortete.
»Das Mädchen ist tot, die liegt irgendwo verbuddelt unter der Erde, und die Polizei findet die Leiche nicht. Wieso haben die den Sohn von dem Wirt verhaftet? Die haben endlich was gebraucht zum Vorzeigen. Die haben komplett versagt. Haben die nicht die ganze Sonderkommission ausgewechselt wegen Erfolglosigkeit? Das ist von München ausgegangen, von oberster Stelle und jetzt.«
»Möge es nützen!«, sagte Martin und hob sein Glas.
Seit er gelesen hatte, dass dies die Übersetzung von prosit sei, hatte er einen Trinkspruch.
»Möge es nützen!«, sagte ich.
Wir stießen mit den Gläsern an und tranken und wischten uns den Schaum vom Mund.
»Der Bursche sagt nichts«, sagte die Wirtin und sah Fredi an, der wie immer am Rand des Tresens saß, ein fetter Mann mit einem schwarzen dichten Vollbart, der sein breites Gesicht ausufernd erscheinen ließ. Wann immer ich ihm begegnete, trug er einen Blaumann mit der Aufschrift der Brauerei, für die er arbeitete. Und er trank Rotwein - in einer Kneipe wie dem »Augustinerstüberl« eine waghalsige Art des Durstlöschens. Gern kratzte er sich intensiv und ausführlich an den Unterarmen, was ein Geräusch verursachte, dessen nervzerrende Eindringlichkeit den ständig dudelnden Schlagern aus dem Radio in nichts nachstand.
Fredi nickte. Es sah aus, als würde sein Kopf jedes Mal nach unten plumpsen.
»Der sagt nichts«, wiederholte Hanni. »Und wahrscheinlich weiß er nichts. Er ist ja auch noch behindert. Magst noch einen, Fredi?«
Wortlos schob Fredi das leere Glas an den Rand der Theke.
Aus einer bauchigen Flasche mit einem roten Plastikschraubverschluss schenkte Hanni nach.
»Zmwoi«, sagte Fredi zu niemandem direkt, bevor er trank.
Hanni zündete sich eine Zigarette an und setzte sich wieder an den Tisch.
»Ich glaub an Gott«, sagte Martin. Und ich bemerkte, wie seine Hand mit der Zigarette zitterte. »Aber glaubt er auch an mich?«
»Er hat keine andere Wahl«, sagte ich.
»Wieso?«
»Du bist sein Kind.«
»Spinnst jetzt?« Mit einem Zug leerte Martin sein Glas, inhalierte den Rauch und behielt ihn in der Lunge, hustete und wischte sich über die Stirn. In der trüben Beleuchtung der Kneipe verlor sein bleiches, knochiges Gesicht an Trostlosigkeit, und seine wie zu einem Nest geformten Resthaare schimmerten ein wenig und klebten ihm nicht nur schweißig am Kopf.
Dann schwiegen wir.
Unser Schweigen wurde von Ralph McTell gestört, dessen »London-Song« wir schon in unserer Jugend Ohrkrebs fördernd fanden. Zum Glück landete er danach keinen Hit mehr.
Von draußen hörten wir das Prasseln des Regens, der, von kurzen Unterbrechungen abgesehen, seit drei Tagen anhielt.
»Glaubst du, die Türkei-Sache bringt was?«, sagte Martin, die Hände um das Glas geklammert, als wolle er sich daran wärmen.
Nach der Einschätzung des Staatsanwalts führten die Beobachtungen des Zeugen zu keiner neuen Spur. Zwar behauptete der Mann, die achtjährige Magdalena auf dem Markt einer türkischen Kleinstadt wiedererkannt zu haben, doch die Begegnung lag zwei Monate zurück. In den Befragungen durch die Kollegen der Sonderkommission machte der Ingenieur anscheinend widersprüchliche und ungenaue Aussagen, die das laufende Gerichtsverfahren nicht ins Wanken brachten. Vor einem Jahr war das Mädchen auf dem Heimweg von der Schule spurlos verschwunden, niemand im Dorf hatte etwas bemerkt, und die Kollegen, die vor Ort fahndeten, gerieten zunehmend unter Druck. Die Presse nahm den Leiter der Soko Magdalena ins Visier, und nach acht Monaten wurde er von unserer obersten Dienststelle, dem Innenministerium, abberufen. Seinem Nachfolger gelang wenig später die Festnahme eines Mannes, der auch vorher schon unter Verdacht geraten war, allerdings ohne ausreichende Beweise. Mit einem Mal legte er ein Geständnis ab. Er erklärte, er habe dem Mädchen aufgelauert und es anschließend in einen Wald entführt und missbraucht. Umgebracht habe er Magdalena jedoch nicht, er wisse nicht, wo sie nach der Vergewaltigung hingelaufen sei. Die Widersprüche in seinen Aussagen häuften sich, und im Wald wurden neue Spuren gefunden, worauf der Staatsanwalt Anklage wegen Vergewaltigung und Mordes erhob. Der geistig zurückgebliebene junge Mann hielt an seiner ursprünglichen Aussage immer noch fest. Ob die Indizien für eine Verurteilung reichen würden, war nach wie vor ungewiss.
»Der Zeuge will das Mädchen eine Minute lang gesehen haben«, sagte ich. »Gleichzeitig hat er erklärt, sie sei an der Hand einer Türkin an ihm vorbeigegangen.«
»Eine Minute lang?«, sagte Martin.
Ich schwieg.
Für eine Vermissung wie die der achtjährigen Magdalena nicht zuständig zu sein, versetzte uns in einen Zustand von beinahe ärgerlicher Rastlosigkeit, weil wir uns einbildeten, aus dem Umfeld des Opfers ganz andere Dinge herausschälen zu können als unsere Kollegen, geheime Dinge, nur uns zugängliche Dinge.
Und dabei scheiterten wir oft genug an unseren eigenen Fällen, aus Blindheit, aus Sturheit. Und wir benötigten meist eine lange Zeit, um die entscheidende Tür zu öffnen oder diese in einem lichtlosen Haus überhaupt erst zu entdecken.
Es war ein lindgrün gestrichenes Haus, an dessen Tür wir am nächsten Tag, an dem wir eigentlich dienstfrei hatten, klingelten. Und es sollte fünf Wochen dauern, bis sich jene Tür vor unseren Augen auftat, hinter der uns die wahre Wirklichkeit in Empfang nahm.
Er ging voraus, knipste das Licht an und hielt plötzlich inne.
»Babett?«, sagte er mit leiser, knarzender Stimme und mit nach vorn gebeugtem Oberkörper. Der Schulterteil seines grauen Anoraks...
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