Schweitzer Fachinformationen
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Für die Frau des Postbeamten, der nach der Privatisierung der Post kein Beamter mehr war, sondern Angestellter wie alle seine Kollegen, schien es das Wichtigste zu sein, dass ich Kaffee trank. Gegen meine Gewohnheit hatte ich mich an den Wohnzimmertisch gesetzt, nur um ihr einen Gefallen zu tun und sie auf diese Weise vielleicht etwas zu beruhigen, wobei sie sich größte Mühe gab, sich nichts anmerken zu lassen. Zur Begrüßung an der Tür hatte sie mich angelächelt und hereingebeten, als wäre ich ein freudig erwarteter, oft gesehener Gast, der endlich einmal wieder den Weg in die Innenstadt gefunden hatte.
Das Ehepaar Korbinian wohnte neben der Feuerwehrtrutzburg nahe des Sendlinger Tors, ein paar Meter von einem elfstöckigen Backsteingebäude entfernt, das als das erste Hochhaus Münchens galt, weswegen schräg gegenüber noch immer ein »Café am Hochhaus« existierte. Bis vor einigen Jahren zählten die Adressen in der schmalen Straße zwischen Feuerwehrgebäude und Marionettentheater zur Blumenstraße, der angrenzenden Hauptstraße, mittlerweile wohnten die Korbinians und ihre Nachbarn An der Hauptfeuerwache. Die Wohnung des Postlerehepaars im Parterre eines gelben Hauses war vollgestellt mit schweren Möbeln aus dunklem Holz. An den Wänden hingen unzählige Landschaftsbilder, in braunen Farben gehaltene kleine Gemälde und Stiche, daneben Familienfotos in Schwarzweiß und oval gerahmte Porträts älterer Menschen mit verschlossenen Gesichtern. Es kam mir vor, als dürfe es in dieser Wohnung keinen freien Platz geben, keinen direkten Blick auf die weiße Wand, keinen offenen Blick nach draußen. Hinter den dicht geschlossenen, bis zum Boden reichenden Vorhängen erahnte man eine ferne Welt.
Das war die Wohnung zweier Menschen, die keine ferne Welt brauchten, deren Genügsamkeit sich auf dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr verteilte, eingebettet in einen unveränderlichen Alltag, der sie auch dann nicht wesentlich erschütterte, wenn bundespolitische Entscheidungen sich unmittelbar auf die Tätigkeit am Schalter auswirkten. Korbinians Dienst begann um acht Uhr morgens und endete von Montag bis Freitag um achtzehn Uhr, jeden zweiten Samstag um zwölf Uhr dreißig. Zog man die Mittagszeit ab, hatte die Vierzigstundenwoche am Ende des Jahres tatsächlich vierzig Stunden gedauert und der Urlaub sechs Wochen. So sah der Lebensrhythmus des Ehepaars von der Hauptfeuerwache seit einunddreißig Jahren aus, so lange arbeitete Cölestin Korbinian bei der Post, und nichts hatte bisher darauf hingedeutet, er habe keine Freude mehr an seiner Beschäftigung oder trage sich womöglich mit Kündigungsgedanken. Wenn er morgens aus dem Haus ging, küsste er seine Frau auf den Mund, sagte etwas zu ihr, was ihm gerade durch den Kopf ging, und machte sich zu Fuß auf den Weg zum Postamt in der Fraunhoferstraße, in dem er im Alter von neunzehn Jahren seine ersten Briefmarken verkauft hatte. Inzwischen gehörte die Schalterhalle nicht mehr der Post, sondern einer privaten Firma, die mit Papier und Büroartikeln handelte und bereits eine Reihe von Postämtern übernommen hatte und diese mehr oder weniger wie Schreibwarenläden führte.
Das störte Cölestin Korbinian sehr. Anfangs hatte er sich fast täglich über die schlecht ausgebildeten jungen Mitarbeiter geärgert, die das eigentliche Postgeschäft nur nebenbei betrieben, weil sie zu Verkaufsfachfrauen und -männern ausgebildet wurden, von denen die wenigsten später bei der Post landeten, sondern in Kaufhäusern und Supermärkten. Ärger und Kummer hatten sich bei Korbinian derart aufs Gemüt gelegt, dass sein Kollege Magnus Horch eines Abends an der Wohnungstür bei der Feuerwache klingelte, um zu erfahren, ob Cölestin Probleme habe oder krank sei oder ihn etwas bedrücke, worüber er nicht sprechen wolle.
Nach jenem Abend nahm Cölestin Korbinian seine jüngeren Kollegen nur noch professionell zur Kenntnis, er half ihnen, wenn sie Fragen über Beförderungssysteme im Ausland oder spezielle Haftungsbedingungen hatten, und hörte weg, wenn Kunden sich lautstark über Ahnungslosigkeit und Unhöflichkeit beschwerten. Die Art der Ausbildung lehnte er immer noch ab, aber nur im Stillen und mit schwindender Intensität. Er sei, sagte seine Frau, wie immer gewesen.
Wie ist jemand, der wie immer ist? Wann fängt das »immer« an? Mit dem ersten Kuss? Mit der Hochzeit? Mit dem Eintritt ins Berufsleben? Mit dem dreißigsten Geburtstag? Und endet es mit einer neuen Frisur? Mit einem Weißwein zum Abendessen statt einem hellen Bier wie seit zehn Jahren? Mit einer anderen Meinung zur Meinung des Tagesthemenmoderators oder der des Oberbürgermeisters? Mit einem roten Hemd? Mit einer Sonnenbrille von Ray-Ban? Mit einer heimlichen Geliebten? Mit dem Tod der Partnerin? Mit dem eigenen Tod? Und was wäre dann am offenen Grab zu sagen? Er lebte wie immer und starb ganz anders?
Er sei wie immer gewesen. Als die anfänglichen Erschütterungen sich in ihm gelegt hatten, kehrte er zum Normalsein zurück. Und vermutlich war ein solides Normalsein die Basis für eine einunddreißig Jahre währende Tätigkeit bei der Post, noch dazu im selben Postamt. Denn Cölestin Korbinian war nach kurzen, unfreiwilligen, ausbildungsbedingten Stopps in Schwabing und Neuhausen unverzüglich in die Isarvorstadt zurückgekehrt, dahin, wo sein Leben stattfand, wo er aufgewachsen war, wo ihn alle Leute kannten, von wo aus er nur fünf Minuten bis zum Isarufer brauchte und höchstens fünfzehn bis in die Altstadt, in die Gegend um den Max-Joseph-Platz, zur Dienerstraße, zum Alten Peter, zum Viktualienmarkt. Die Vorstellung, in einem anderen Stadtteil wohnen zu müssen, schreckte ihn nicht, er hielt sie für vollkommen abwegig und absurd und unnütz.
Seit seiner Geburt in der Klinik an der Nussbaumstraße war die Heimat des Cölestin Korbinian östlich des Sendlinger Tors, und wenn die neuen Pächter ihren Laden in der Fraunhoferstraße schließen sollten, würde er vorzeitig in Rente gehen und sich unter keinen Umständen in ein anderes Postamt versetzen lassen oder irgendeine Verwaltungsstelle beim Staat annehmen, die man ihm als langjährigen Beamten zur Verfügung stellen musste. Vielleicht hatte er sowieso vor, in ein paar Jahren die Arbeit zu beenden. Gelegentlich sprach er mit seiner Frau darüber, und sie unterstützte seine Pläne.
Sie hatte seine Pläne immer unterstützt, zum ersten Mal, als er ihr die Idee unterbreitete, ob sie eventuell bereit sein könne, ihn zu heiraten. Das war vor fast dreißig Jahren gewesen. Dann hatte es noch eine Weile gedauert, bis er genügend Mut und Entschlusskraft beisammenhatte, bevor er eines Abends im März am Ufer unterhalb der Reichenbachbrücke, wo die Isar, von der Schneeschmelze braun und fett geworden, mit einem bulligen Geräusch vorbeirauschte, die entscheidende Frage stellte, etwas leise, wie Olga Korbinian sich erinnerte, aber vielleicht lag es am lauten Fluss. Sie heirateten am vierzehnten Mai in St. Maximilian, der Kirche, in der Cölestin Korbinian getauft worden war. Kurz darauf zogen sie in die Blumenstraße, in jenen Teil, der später in An der Hauptfeuerwache umgetauft wurde. Einen Anlass wegzuziehen oder sich zu trennen gab es nie. Alle heiligen Zeiten brachte Olga ihren Mann dazu, mit ihr nach Südtirol zu verreisen, meist nach Meran, wo sie als Kind oft die Ferien mit ihren Eltern verbracht hatte. In der Erinnerung hörte sie das Klacken ihrer rosafarbenen Stöckelschuhe, die sie als kleines Mädchen tragen durfte, nur im Urlaub allerdings, und jedes Mal, wenn sie mit Cölestin an den alten Häusern vorüberging, stellte sie sich mit einem Eis in der Hand in den Schatten einer Laube, so wie sie es als Kind getan hatte, und bat ihn, sie zu fotografieren. Widerwillig tat er es, seiner Meinung nach hatten Fotos keinen Sinn, sie würden einem nur etwas vorgaukeln, und wenn Olga fragte, was er damit meine, wandte er sich ab und kam vielleicht beim Abendessen darauf zurück, indem er erklärte, was man erst fotografieren müsse, könne man auch gleich vergessen.
Manchmal sagte er solche Sachen, dann wunderte sie sich ein wenig über ihn und sah ihn länger an als üblich, beobachtete ihn sogar, abends in der Pension, morgens beim ...
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