Schweitzer Fachinformationen
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»Für wie lang?«, fragte die junge Frau an der Rezeption.
Ich sagte: »Eine Nacht.«
»Erwarten Sie noch jemanden?«
»Nein.«
Ihre geschwungene Brille mit der roten Fassung erinnerte mich an die einer Kollegin, die etwa im gleichen Alter wie die Hotelangestellte gewesen sein dürfte.
»Das kostet aber fünfundneunzig Euro«, sagte sie.
»Soll ich im Voraus bezahlen?«
»Nur hier ausfüllen, bitte.«
Im Zimmer, das im ersten Stock lag, öffnete ich ein Fenster und blickte auf eine ungemähte Wiese mit Löwenzahn, Gänseblümchen und Glockenblumen, leuchtende Farben in der Mittagssonne. Und immer wieder, für Sekunden, vollkommene Stille. Vielleicht dirigierte der Wind die Geräusche und die Stimmen, den Singsang der Vögel, wobei er jede Pause in seiner kosmischen Partitur genau einhielt und sein Orchester ihm bedingungslos folgte.
Bis zum Friedhof brauchte ich zehn Minuten. Seit mehr als zwei Jahren war ich nicht mehr dort gewesen, eine der örtlichen Gärtnereien kümmerte sich in meinem Auftrag um das Grab. Es sah so gepflegt aus wie die übrigen Gräber. Der graue, unauffällige Stein und die Umrandung wirkten sauber, als wäre beides kürzlich abgeschrubbt worden, aus der offensichtlich frisch gegossenen Erde wuchsen gelbe und violette Stiefmütterchen, in einer Plastikvase standen sieben rote Rosen und in der niedrigen, schmiedeeisernen Laterne mit dem aufklappbaren Deckel zuckte ein rotes Licht.
Unwillkürlich wandte ich mich um. Beim Anblick der frischen Rosen und der kaum heruntergebrannten Kerze hatte ich mir plötzlich vorgestellt, jemand anderes habe soeben an meiner Stelle gestanden. Und ich bildete mir ein, einen süßlichen Geruch wahrzunehmen, und erwartete Schritte auf dem Kies.
Aber da war niemand. Ich drehte den Kopf. Soweit ich erkennen konnte, befand sich außer mir niemand in der Nähe. Ich verschränkte die Arme vor der Brust, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen.
Siebzig Jahre wäre meine Mutter heute geworden. Sie starb, als ich dreizehn war, drei Jahre später verschwand mein Vater und tauchte nie wieder auf. Den Rest meiner Jugendzeit verbrachte ich bei der Schwester meiner Mutter und deren Mann, Lisbeth und Willibald, der mir verbot, ihn Onkel zu nennen, während Lisbeth sich in meiner Gegenwart immer selbst als Tante bezeichnete. Bis zum Tag meines Umzugs ins sechzig Kilometer entfernte München, genau einen Monat nach dem Abitur, umsorgte sie mich wie ein Kind, das seine Lebenstüchtigkeit in der gefährlichen Welt der Erwachsenen noch lange nicht bewiesen hatte. Manchmal ärgerte mich ihre Mamahaftigkeit, manchmal nervte sie mich, manchmal versöhnte sie mich mit der Abwesenheit meiner Mutter, manchmal wäre ich am liebsten weggelaufen.
Die Kirchenglocken begannen laut zu läuten, und ich öffnete die Augen. Das Sonnenlicht blendete mich, und ich senkte den Kopf. In diesem Moment hörte ich hinter meinem Rücken ein metallisches Quietschen, es klang im Gleichklang der Glocken wie eine beleidigende Disharmonie.
Mit beiden Händen stemmte ein Mann die Klappe des Abfallcontainers hoch, den Kopf tief in der Öffnung. Auf die Entfernung konnte ich nichts weiter als einen dunklen Mantel, der mir zu warm, für das Wetter völlig ungeeignet vorkam, und die breite Statur des Mannes erkennen. Vielleicht hatte er aus Versehen etwas weggeworfen, das er dringend wiederfinden musste, denn er rührte sich nicht von der Stelle. Solange ich hinsah, hielt er den Kopf gesenkt, die Arme schräg gegen den Deckel gestemmt, ohne jede Regung.
Nach einigen Minuten, in denen ich nichts tat, als den Namen meiner Mutter Alma Süden auf dem Grabstein zu lesen, bückte ich mich und besprengte mit dem kleinen Latschenzweig aus der Messingschale, die sich in ähnlicher Form auf allen Gräbern befand, die Blumen mit geweihtem Wasser, eine willkürliche Geste. Erst hinterher fiel mir ein, dass ich vielleicht in der Luft ein Kreuz hätte formen sollen.
Als ich den Friedhof verließ, hatten die Glocken aufgehört zu läuten, und der Mann am Container war verschwunden. Nahe der Kirchenmauer bemerkte ich eine mit Brettern bedeckte Grube und einen Erdhaufen daneben.
Ich ging denselben Weg zurück, den ich gekommen war, ohne jemanden zu beachten oder einen Blick auf die unvermeidlich vertrauten Bauernhäuser und Läden zu werfen. Abends, so hatte ich mir vorgenommen, wollte ich noch einmal das Grab besuchen. Anschließend würde ich im Restaurant meines Hotels trinken, bis ich einen mir angemessenen Zustand der Bebiertheit erreicht hätte, der mich hernach am offenen Fenster im ersten Stock vor jeglicher Bewunderung der Landschaft bewahren würde.
Auf der Hotelterrasse direkt unter meinem Fenster setzte ich mich an einen Tisch an der Hauswand, beschattet vom Astwerk einer Kastanie, schläfrig, seltsam missgelaunt, unhungrig und nicht einmal durstig. Als ich den Kopf hob, weil ich ein leises Geräusch gehört hatte, stand ein Mann vor mir, der genauso angezogen war wie ich, mit einem weißen Hemd und einer schwarzen Hose. Statt einer schwarzen Lederjacke wie ich trug er eine schwarze Weste. Sein Gesicht sah gerötet und aufgedunsen aus, und er schaute auf mich herunter. Er schaute. Ich schaute zurück. Eine Weile schauten wir uns an.
Und dann stellte er mir die möglicherweise gemeinste Frage der Welt: »Kennst mich noch?«
Und ich sagte ungeniert munter: »Nein.«
»Ich bin der Johann«, sagte er. »Servus, Süden.«
»Servus.«
»Johann Gross«, sagte er.
»Ja.«
»Was machst du bei uns? Bist du wegen der Beerdigung vom Pfarrer hier? Hast du den noch gekannt?«
»Wen?«, sagte ich. Dann zog ich die Lederjacke aus und hängte sie über die Lehne des Stuhls neben mir.
»Den Pfarrer Wild«, sagte er. »Dass ich dich hier treff! So was! Magst was trinken, Süden? Oder ist dir lieber, wenn ich Tabor sag? Wir haben alle immer Süden zu dir gesagt. Aber jetzt bist du ja ein bekannter Kommissar, hab schon von dir in der Zeitung gelesen.«
»Ich bin nicht bekannt.«
»Wer in der Zeitung steht, ist bekannt.«
»Wie geht's dir, Johann?«, sagte ich.
Er stockte einen Moment. »So warst immer«, sagte er. »Du hast schon früher immer Johann zu mir gesagt und nicht Hansi, wie die andern. Das hab ich dir immer hoch angerechnet, weißt du das?«
»Einige haben dich Südi genannt, das hast du gehasst.«
Ich sagte: »Ich habe einen Kollegen, der nennt mich immer noch so.«
»Ein blöder Hund«, sagte Johann. Aber es klang nicht komisch. Er grinste oder lächelte auch nicht. Auf seinem plumpen Gesicht spielte keine Musik, es war verstummt, es funktionierte nur noch nach den ledernen Gesetzen der Muskeln und den zornigen des Blutes. Ich erkannte ihn wieder, den Sohn des Architekten, den behüteten Jungen, der immer in frisch gewaschenen Hemden und Hosen auf den Spielplatz kam, immer fesch und adrett, immer zum Vorzeigen geeignet, immer ein anderer als der, der er wirklich sein wollte.
»Gut geht's«, sagte er. »Ich bin hier angestellt.«
Johann Gross war also Kellner geworden. Aber ich wusste, dass er sich als Kind nichts sehnlicher gewünscht hatte als eine Gitarre und Mitglied einer Band zu werden, vielleicht in der, in der auch ich zeitweise auf den Bongos spielte. Nichts machte ihm mehr Freude, als Platten von Rockbands zu hören und auf einem Stück Holz die Riffs nachzuahmen und mitzusingen, alles heimlich natürlich, denn seine Eltern verboten ihm sein Vergnügen. Und er fügte sich. Und ich habe nie verstanden, wieso.
»Habt ihr eine Suppe?«, sagte ich.
»Erbsensuppe mit Würstel«, sagte er. »Ist dir nicht zu heiß dafür?«
»Schön, dich wiederzusehen«, sagte er, und ich bildete mir ein, sein Mund wehrte sich gegen die Ausdruckslosigkeit in seinem Gesicht.
»Welcher Pfarrer ist gestorben?«, sagte ich.
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