Schweitzer Fachinformationen
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Maximilian Grauke hat seine Frau ohne Erklärung verlassen. Ein Schuster, der sein eintöniges Leben hinter sich lassen will - so scheint es zumindest. Doch Grauke ist nicht zum ersten Mal verschwunden. Und die Befragung seiner Frau und ihrer Schwester lässt mehr Fragen offen, als sie beantwortet. Je tiefer Kommissar Tabor Süden in die Welt des verschwundenen Mannes eintaucht, umso mehr erscheint sie ihm in einem völlig neuen Licht.
Die Frau, die mir die Tür öffnete, kam mir winzig vor. Ich schaute auf sie hinunter wie auf ein Kind. Sie legte den Kopf in den Nacken.
Sie trug ein schwarzes Kleid mit weißem Spitzenkragen. Und feste schwarze Schuhe. Sie mochte Mitte fünfzig sein.
»Wer sind Sie?«, fragte sie.
»Wir haben telefoniert.«
»Sie sind Tabor Süden?«
»Glauben Sie mir nicht?«
»Zeigen Sie mal Ihren Ausweis.«
Ich gab ihr eine Visitenkarte.
»Was soll das denn?«, sagte die Frau, nachdem sie sich die kleine Karte dicht vor die Augen gehalten hatte.
Manchmal war ich übermütig.
»Haben Sie keinen richtigen Ausweis? So eine Karte kann ja jeder drucken!«
Ich zog den blauen Ausweis aus der Tasche.
»Müssen die nicht grün sein?«, sagte die Frau.
Ich sagte: »Die Farbe wurde modernisiert.«
»Darauf sehen Sie aber anders aus«, sagte die Frau.
»Sind Sie Frau Grauke?«
»Sie haben doch bei mir geklingelt. Sind Sie betrunken?«
»Nein.«
»Wie viel haben Sie getrunken? Geben Sie's zu, ich hab Verständnis für Säufer, mein Mann ist auch einer.«
»Nur Kaffee und Mineralwasser«, sagte ich.
Es war heiß. Mindestens achtundzwanzig Grad. Die Sonne schien mir direkt auf den Hinterkopf.
»Dann kommen Sie endlich rein!«, sagte Frau Grauke.
Wir gingen durch den nach Lorbeer riechenden Flur. Auf dem Tisch im Wohnzimmer standen drei Teetassen, eine Kanne und ein Teller mit Plätzchen.
»Mein Mann ist weg«, sagte Frau Grauke unvermittelt.
»Wo ist er hin?«, fragte ich. Ich wusste nicht, was mit mir los war. Schon beim Aufstehen hatte ich mich von Ute an mein Alter erinnern lassen müssen. Aus Gründen, die ich nicht verstand, war sie der Meinung, erwachsen zu sein habe etwas mit Ernsthaftigkeit zu tun, zumindest in den wesentlichen Dingen.
Ich fand, dass alles, je älter man wurde, immer weniger ernsthaft schien. Immer weniger.
»Wie bitte?«
»Was?«, sagte ich.
»Sie sind doch betrunken.«
Ich rührte mich nicht. Zuerst musterte sie meine braunen Lederstiefel. Dann kletterte ihr Blick meine speckige, an den Seiten geschnürte Lederhose hinauf. Verweilte auf meinem weißen Hemd und der Lederjacke. Schließlich starrte sie mir ins Gesicht.
»Sie müssen sich mal rasieren, Sie.«
»Ja«, sagte ich.
»Und zum Friseur müssen Sie auch.«
Heute Morgen hatte ich wieder keine Zeit gehabt, mir die Haare zu waschen. Wegen Utes Monolog. Ich hörte ihr zu. Dann musste ich los.
»Und Sie haben grüne Augen, weil Sie Polizist sind«, sagte Frau Grauke.
»Unbedingt«, sagte ich.
»Und Sie heißen tatsächlich Tabor Süden?«
»Wollen Sie's noch mal lesen?«
Frau Grauke setzte sich auf die Couch. Und goss Tee in beide Tassen.
»Mein Mann ist weg«, sagte sie wieder. »Und jetzt hab ich die Polizei im Haus.« Sie sprach zu ihrer Tasse. Hielt sie hoch, ohne aus ihr zu trinken.
Es klingelte an der Tür.
»Wären Sie so freundlich?«, sagte Frau Grauke.
Ich ging zur Tür. Draußen stand eine Frau, die nicht viel größer war als Frau Grauke.
»Grüß Gott, großer Mann«, sagte sie mürrisch.
»Grüß Gott.«
»Ich bin Frau Trautwein.«
»Ich bin Herr Süden.«
»Süden wie Norden?«
»Wie Norden, Osten und Westen«, sagte ich.
»Gibts neuerdings Humorausbildung bei der Polizei?«, sagte Frau Trautwein finster, schob mich beiseite und ging eilig ins Wohnzimmer.
Ich schloss die Tür. Und roch an dem Lorbeerkranz, der an der Innenseite hing.
»Sie haben keinen Durchsuchungsbefehl«, sagte Frau Trautwein, als ich ins Zimmer kam.
»Das ist meine Schwester«, sagte Frau Grauke.
»Mir wär's lieber, Sie hätten eine Kollegin mitgebracht«, sagte Frau Trautwein.
»Die kommt gleich«, sagte ich. »Sie hat noch einen Termin.«
»Setzen Sie sich«, befahl Frau Grauke.
»Ich steh lieber.«
»Bevor Ihre Kollegin nicht hier ist, fangen wir nicht an«, sagte Frau Trautwein und nahm neben ihrer Schwester Platz. Frau Trautwein trug ein dunkelblaues Kostüm, dazu eine weinrote Handtasche, die sie ständig an ihrem Handgelenk zurechtrückte. Frau Trautwein schien etwas älter zu sein als ihre Schwester, Ende fünfzig.
»Wollen Sie eine Tasse Tee?«, fragte Frau Grauke.
»Ja.«
»Im Vergleich zu Ihrer Figur auf dem Foto haben Sie ganz schön angekörpert«, sagte sie, während sie mir die eingeschenkte Tasse reichte.
Ich sagte: »Auf dem Foto ist hauptsächlich mein Gesicht zu sehen.«
»Sie haben auch im Gesicht angekörpert.« Ein verhutzeltes Grinsen huschte über ihren Mund.
Ich stellte die Tasse mit dem Unterteller auf meine flache Hand und sah die beiden Frauen an. Sie mussten lange geübt haben für ihre Vorstellung.
»Können wir jetzt anfangen?«, sagte Frau Trautwein. Sie meinte mich.
Ich sah meine Kollegin an und konnte keinen Unterschied zu ihrem Aussehen am Morgen feststellen. Außer dass sie blasser wirkte. Angespannter. Abwesender.
Zwanzig Minuten nachdem ich die Wohnung in der Jahnstraße betreten hatte, war sie aufgetaucht, die Ledertasche über der Schulter, Schweiß in den Haaren.
Das fiel mir auf, weil sie angekündigt hatte, sich von einer Freundin die Haare schneiden zu lassen. Und als sie vor mir stand, waren ihre Haare so lang wie vorher, fast so lang wie meine.
Natürlich war ich es gewesen, der ihr die Tür geöffnet hatte.
»Tut mir leid«, sagte sie leise.
Und ich sagte: »Sie haben nichts versäumt.«
Dann setzte sie sich auf einen Stuhl im Wohnzimmer, lehnte ihre Tasche ans Stuhlbein, stellte sich vor und nahm von Frau Grauke eine Tasse Tee entgegen.
Währenddessen schaute ich sie an.
Es war das erste Mal, dass ich sie anschaute. Nicht dass ich sie zum ersten Mal sah, ich sah sie jeden Tag. Seit einer Woche. Davor war ich ihr nur zufällig ein paar Mal begegnet, im Flur, bei einer Pressekonferenz, einmal in einer Sonderkommission, in der wir aber nicht für dieselbe Gruppe eingeteilt worden waren. Ich wusste, sie arbeitete bisher beim Mord und war früher beim Rauschgift gewesen. Und ich wusste, dass sie mit Karl zusammenlebte. Jeder im Dezernat wusste das. Karl leitete das Dezernat 11.
Wir redeten nicht viel miteinander, er und ich. Wir redeten fast nie. Trotzdem verstanden wir uns. In gewisser Weise lebten wir im selben Haus auf verschiedenen Stockwerken. Wir mussten beide jeden Tag durch denselben Eingang. Nachts lag jeder an seiner Wand, die kalt war und abweisend. Seine Wand sah genauso aus wie meine, und wir arbeiteten hart daran, uns nicht einschüchtern zu lassen. Es war eine reale Wand, und wenn sie kippte, dann kippte sie nicht nur in unserer Vorstellung. Unsere Ängste waren real.
Vermutlich deshalb verteidigte er mich oft, wenn ich wieder einmal bewies, dass ich im Grunde für den Polizeidienst ungeeignet war. Wir duzten uns. Und es kam vor, dass er mir etwas mitteilte, was mich nichts anging.
An so etwas musste ich denken, während ich Sonja anschaute.
Ihr Name war Sonja Feyerabend. Sie hatte eine hohe Stirn und eine schmale Nase, deren Spitze leicht nach oben zeigte. Ihre Haare waren braun und fast schulterlang und ihre Augen grün wie meine. Und: Sie hatte die Angewohnheit, ihr Mineralwasser nie in den Kühlschrank zu stellen.
Das hatte mir Karl eines Nachts erzählt, als wir auf einen Anruf vom Erkennungsdienst warteten. Ich sagte: Na und? Und er sagte: Später erinnert man sich nur noch an solche Sachen.
Ich erinnerte mich schon jetzt daran. Eine ausgeliehene Erinnerung. Davon kriegt man keine Wunden.
»Können wir jetzt anfangen?«
»Was...
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