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Kapitel eins
In den Tagen vor Beginn des Glastonbury-Festivals schleppte eine bunt zusammengewürfelte Armee von Feierwütigen ihre Rucksäcke und Zelte durch die schmalen, baumbestandenen Straßen von Somerset in Richtung der mythischen Talsenken der Worthy Farm.
Passierte man eine der Personenschleusen, hatte man das Gefühl, eine andere Welt zu betreten - ein sorgenfreies Utopia, in dem die Luft erfüllt war von hypnotischen Rhythmen, dem würzigen Duft unzähliger Imbissstände und dem klebrigen Geruch von Cannabis.
Die Festivalbesucher ließen ihre Rucksäcke fallen und tauchten für fünf Tage in das ekstatische Chaos der kaleidoskopischen Zeltstadt ein.
Dieses Jahr war ein ganz besonderes. Zum ersten Mal seit den 1970ern würde der wichtigste Hauptact von allen das Festival eröffnen, anstatt es Sonntagabend zu beenden. Der Grund dafür war simpel - die größte Band der Welt konnte sich aussuchen, wann sie auftreten wollte.
Und so pilgerte die Menge am Mittwochnachmittag, angezogen wie von einer unsichtbaren Macht, zum pulsierenden Herzen des Festivals: der Pyramid Stage, die wie ein intergalaktischer Streitwagen in den Himmel ragte. Im Lauf der Jahre hatten immer wieder Größen wie Amy Winehouse, Stevie Wonder, Baaba Maal, David Bowie, Adele, Dolly Parton oder die Rolling Stones auf diesen heiligen Brettern ihr Können unter Beweis gestellt. Pech für die B-Promis auf den anderen Bühnen, die heute Abend vor leeren Feldern würden spielen müssen, weil der andächtige Blick der rund hundertfünfundsiebzigtausend Festivalbesucher und x Millionen Fernsehzuschauer auf der Band ruhten, die sich »Stigma« nannte.
Solange man nicht auf dem Mars lebte, hatte man sich kaum den reißerischen Storys um die Flynn-Zwillinge Ethan und Tyrone entziehen können - den ewigen Debatten, Streitereien und Gerichtsverfahren. Doch jetzt, nach einer bitteren, sieben Jahre andauernden Trennung, hatten Stigma wieder zusammengefunden. Es war selbstverständlich, dass sie als Headliner auftreten würden, und wenn sie das Festival eröffnen wollten, dann hatten sich die Organisatoren und rivalisierenden Bands zu fügen - ob es ihnen passte oder nicht.
Obwohl sie Zwillinge waren, hätten die Flynns nicht verschiedener sein können. Es hieß, sie seien in verschiedenen Jahren geboren: Der ätherische Ethan - in jeder Hinsicht der Erste und Begünstigtere von beiden - war angeblich ein paar Minuten vor Mitternacht zur Welt gekommen, der tyrannische Tyrone - der ewig zornige Zweite - kurz nach Anbruch des neuen Jahres.
Stigma-Fans - auch »Stigs« genannt - wussten, dass die Anfeindungen nur selten von Ethan ausgingen. Er hatte ein sanftmütiges, beinahe feminines Auftreten. Die Bitterkeit war eine Eigenschaft seines gefährlichen Bruders, der nichts als Groll und Verachtung ausstrahlte - jedem, vor allem aber seinem attraktiveren und talentierteren Zwillingsbruder gegenüber. Und genau das war es. Diese Rivalität war ihre Identität. Die Flynn-Zwillinge waren die Schöne und das Biest der Musikwelt.
Trotz Tyrones Feindseligkeit - oder womöglich genau deswegen - hatten die Aufrufe der Stigma-Videos auf YouTube schwindelerregende Zahlen erreicht. Die Songs wurden unzählige Male gestreamt und downgeloadet. Das ungleiche Paar hatte etwas Mesmerisches an sich. Der androgyne Ethan war ein Meister an jedem Instrument, seine Stimme ein kristallklarer Fluss, seine Texte mystische Poesie. Mit seinen weich fallenden Locken, der Andeutung eines Bartschattens und den fein gemeißelten Gesichtszügen wurde er oft mit Marc Bolan oder sogar mit Jesus Christus verglichen. Im Gegensatz dazu war der knurrende, rotzende, kahl rasierte Tyrone ein hinlänglich kompetenter Bassgitarrist, der nichts von dem göttlichen Talent seines Zwillingsbruders abbekommen hatte. Seine mangelnde äußerliche Attraktivität machte er mit aufgepumpten Muskeln wett, die zudem mit grauenhaften Tattoos verziert waren. Tyrone war außerdem Amateurboxer mit einem ausgeprägten Faible für die britische Hardcore-Punkband GBH.
Am frühen Abend hatte sich die riesige Senke des Worthy Valley in einen brandenden Ozean aus fahnenschwenkenden Stigs verwandelt, die erbittert um einen guten Platz kämpften. Es wurden immer mehr, und wie bei Antilopen, die sich um ein Wasserloch drängen, gelang es nur den Stärksten und Tapfersten, ein freies Fleckchen direkt vor der Bühne zu ergattern, wo der Lärm ohrenbetäubend und das erdrückende Gewühl beinahe unerträglich war. Auf den umliegenden Hügeln picknickten Familien im Sonnenschein, während Teenager Cider und Joints herumgehen ließen.
Die dunkle Bühne war leer bis auf ein paar Techniker in knallengen Jeans und Stigma-T-Shirts. Sie überprüften ein letztes Mal die verschiedenen Saiteninstrumente, die im hinteren Teil bei den Verstärkern auf Ständern aufgereiht waren: Akkordzithern, Hackbretter, Lauten, Mandolinen, Sitars und Zithern. Ja, Ethan konnte sie alle spielen - und noch viel mehr.
Jetzt verschwanden sogar die Techniker im finsteren Bühnenschlund, und für zehn lange Minuten brütete die Pyramid Stage still und leer in der Sonne. Die gespannte Erwartung war nahezu greifbar. Würde die Band wirklich auftreten? Tyrone war bekannt dafür, dass er in allerletzter Minute ausrastete und den Auftritt verweigerte.
Zögerlicher Applaus wurde laut und verebbte wieder. Rufe ertönten, gefolgt von Gelächter. Eine überschäumende Bierdose wurde durch die Luft geschleudert.
Und dann, endlich, fiel ein einzelner Scheinwerfer auf eine einsame Gestalt, die von der Seite her auf die Bühne trat. Es handelte sich um die allgegenwärtige kanadische Radiomoderatorin und MC Vula Plenty. Sie wirkte winzig auf der gewaltigen Bühne, doch sie grinste von einem Ohr zum anderen. Alles war okay. Stigma waren da. Sie würden auftreten.
Vula nahm das Mikrofon und begrüßte mit ihrer samtigen Stimme die vielen Zuschauer auf der Worthy Farm und auf der ganzen Welt. Anschließend machte sie ein paar Schritte zurück und forderte die Menge auf, die Band gebührend zu empfangen. »Willkommen in Glastonbury - und hier sind sie: die WAHNSINNSJUNGS . VON . STIGMA!«
Ein kehliger Freudenschrei hallte durchs Tal. Pyrotechniker ejakulierten in den Himmel. Die Bühne war schlagartig in ein grellweißes Licht getaucht, und dann glitt der unübertreffliche Ethan wie ein barfüßiger Balletttänzer über die Bretter. Grazil, feingliedrig, in fließende Gewänder gekleidet. Auf den riesigen Bildschirmen funkelten seine smaragdgrünen Augen vor Güte und Intelligenz.
Das Getöse wurde nicht weniger, als sein Bruder auf die Bühne kam - der fluchende, schwankende Tyrone, eine Bierflasche in der Hand. Mit der anderen entlockte er seiner Bassgitarre ein paar unangenehme Töne.
Jede Stigma-Show war ein einzigartiges Spektakel. Heute Abend wurden die Flynn-Zwillinge von acht Musikern mit Schlagzeug, Keyboard und Blechblasinstrumenten unterstützt, außerdem kamen mehrere Background-Sänger aus der Seitenkulisse, ebenso wie eine exotische Tanztruppe, die die düsteren Charaktere von Tarotkarten verkörperte: den Narren, den Magier, die Hohepriesterin, den Eremiten, den Teufel, die Sonne und den Mond.
Ethan nahm das Mikro und sprach ein paar Minuten lang darüber, wie jung die Brüder noch gewesen waren, als sie das letzte Mal auf dieser Bühne gespielt hatten, und wie ein ganz besonderer Mensch in sein Leben getreten war und ihn zum Umdenken bewegt hatte. Er war kein unbefangener Sprecher - er nuschelte und stotterte schüchtern -, aber sobald er zu singen begann, verwandelte sich das unbeholfene, kindliche Gestammel in flüssiges Silber, wie das Lied eines Märchenvogels.
Der Auftritt begann mit den Stigma-Standards: »Legend of You«, »Tiger in the Subway«, »Heathen Child« und »And For You a Love Song« - bei Letzterem zupfte Tyrone übellaunig an den Saiten seiner Bassgitarre, während Ethan entrückt zu den Klängen von Mandoline und Laute sang. Sein expressives Vibrato schwebte hinaus in die Abendluft, die von unzähligen iPhones und Feuerzeugen in ein tanzendes Lichtermeer verwandelt wurde.
Plötzlich unterbrach der fragile Mann diese außergewöhnliche Darbietung, indem er abrupt zu spielen aufhörte und einen schmalen Finger vor die Lippen legte. Während die Welt um ihn herum verstummte, deutete er über die Bühne und die in seinem Rücken liegenden Felder und Wälder hinweg zu einem konischen Hügel in der Ferne, dem Glastonbury Tor, hinter dem gerade die Sonne in einer melodramatischen Feuersbrunst unterging. Selbst der zynischste Betrachter verspürte die Gänsehaut verursachende Magie des Augenblicks.
Während Laserstrahlen und Stroboskoplichter über den Abendhimmel zuckten, brachten Stigma mehrere Klassiker ihres Bestselleralbums Global Eyes, das so gut wie alle Awards abgeräumt hatte, die die speichelleckerische Musikindustrie zu bieten hatte. Die Jahre der Trennung hatten ihrem Genie nichts anhaben können. Die Menge schmolz dahin und taumelte einem gemeinschaftlichen Orgasmus der Glückseligkeit entgegen . Ethan Flynn stand in Flammen!
Ungefähr zur Hälfte des Auftritts wandte Ethan sich um, schwebte leichtfüßig in den hinteren Teil der Bühne und holte seine legendäre Vintage-Stratocaster - ein glänzendes Wunderwerk der Handwerkskunst, bei den Stigma-Fans bekannt als »Excalibur«. Das Publikum drehte durch; die Sanitäter der St John Ambulance hatten alle Hände voll damit zu tun, sich um...
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