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Blut quoll unter Helens zerrissenen Fingernägeln hervor, sammelte sich an ihrer Nagelhaut und floss von dort in kleinen Rinnsalen über ihre Fingerknöchel. Trotz ihrer Schmerzen umklammerte sie den Vorsprung mit der linken Hand noch fester, damit sie die rechte an der Kante vorwärtsschieben konnte. Sand und Blut drohten ihre Fingerspitzen abrutschen zu lassen, und ihre Hände waren mittlerweile schmerzhaft verkrampft. Sie krallte sich mit der rechten Hand fest, hatte aber nicht mehr die Kraft, sich noch ein Stück weiter zu ziehen.
Mit einem Keuchen rutschte Helen wieder zurück und hing nur noch mit einer Hand am Sims. Das Beet mit den toten Blumen sechs Stockwerke unter ihr war mit moosigen Ziegelsteinen und Dachschindeln übersät, die von der baufälligen Villa abgestürzt und unten zerschellt waren. Auch ohne hinunterzusehen, wusste sie, was ihr passieren würde, wenn sie an diesem bröckelnden Fenstersims den Halt verlor. Noch einmal versuchte sie, ein Bein aufs Sims hochzuschwingen, aber je mehr sie strampelte, desto unsicherer wurde ihr Griff.
Ein Schluchzer entrang sich ihren aufgebissenen Lippen. Sie hing nun schon an diesem Sims, seit sie in dieser Nacht in die Unterwelt hinabgestiegen war. Es kam ihr vor, als wären seitdem Stunden vergangen, vielleicht sogar Tage, und sie war mit ihrer Kraft am Ende. Helen schrie frustriert auf. Sie musste von dieser Kante herunter und die Furien finden. Sie war der Deszender und dies war ihre Aufgabe. Die Furien in der Unterwelt aufspüren, sie irgendwie besiegen und die Scions von ihrem Einfluss befreien. Eigentlich sollte sie diesen Kreislauf der Rache beenden, der die Scions zwang, einander zu töten, und was tat sie stattdessen? Sie hing an diesem blöden Fenstersims.
Sie wollte nicht abstürzen, aber ihr war auch klar, dass sie die Furien nie finden würde, wenn sie sich noch eine Ewigkeit an dieses Sims klammerte. Und in der Unterwelt dauerte jede Nacht eine Ewigkeit. Sie musste diese Nacht beenden und dann in einer neuen Ewigkeit einen weiteren, hoffentlich erfolgreicheren Versuch starten. Und wenn sie es nicht schaffte, sich hochzuziehen, blieb nur ein Ausweg.
Die Finger von Helens linker Hand zuckten und begannen abzurutschen. Sie versuchte, sich einzureden, dass es besser war, nicht dagegen anzukämpfen, sondern sich einfach fallen zu lassen, denn dann wäre es wenigstens vorbei. Trotzdem mobilisierte sie alle Kraftreserven ihrer rechten Hand, um sich festzuklammern. Helen hatte zu viel Angst loszulassen. Vor Anstrengung biss sie sich auf die ohnehin schon blutige Lippe, aber die Finger ihrer rechten Hand glitten unaufhaltsam ab. Sie konnte sich nicht mehr halten.
Als sie auf dem Boden aufschlug, hörte sie, wie ihr linkes Bein brach.
Helen presste sich hastig die Hand auf den Mund, um in ihrem stillen Zimmer auf Nantucket nicht loszuschreien. Sie schmeckte den groben Staub der Unterwelt an ihren verkrampften Fingern. Im matten blaugrauen Licht der einsetzenden Morgendämmerung lauschte sie, wie ihr Vater aufstand. Zum Glück schien er nichts mitbekommen zu haben und ging schließlich nach unten, um das Frühstück vorzubereiten wie sonst auch.
Helen blieb im Bett, zitterte wegen des gebrochenen Beins und der gezerrten Muskeln und wartete darauf, dass sich ihr Körper selbst heilte. Tränen rannen ihr übers Gesicht und hinterließen heiße Spuren auf ihrer kalten Haut. Es war eiskalt in ihrem Zimmer.
Aus Erfahrung wusste Helen, dass sie etwas essen musste, um die Heilung abzuschließen, aber mit einem gebrochenen Bein konnte sie nicht nach unten gehen. Also zwang sie sich, ruhig liegen zu bleiben und zu warten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie sich wieder bewegen, aufstehen und hinuntergehen konnte. Bis es so weit war, würde sie liegen bleiben und behaupten, sie hätte verschlafen. Sie würde ihr verletztes Bein vor ihrem Vater verstecken, so gut es ging, und beim Frühstück lächeln und mit ihm plaudern wie gewohnt. Und sobald sie etwas gegessen hatte, würden ihre Verletzungen vollends heilen.
Es würde ihr schon bald besser gehen, versicherte sie sich selbst und weinte so leise sie konnte. Sie musste nur durchhalten.
Jemand wedelte Helen mit der Hand vor der Nase herum.
»Was?«, fragte sie erschrocken. Sie sah sich zu Matt um, der ihr mit diesem Zeichen bedeutete, wieder auf die Erde zurückzukehren.
»Tut mir leid, Lennie, aber ich kapier das immer noch nicht. Was ist ein Rogue-Scion?«, fragte er mit gerunzelter Stirn.
»Ich bin ein Rogue«, antwortete sie, ein wenig zu laut. Sie war einen Moment lang in ihre eigenen Gedanken vertieft gewesen und hatte noch nicht wieder in die Unterhaltung zurückgefunden.
Helen setzte sich aufrechter hin, sah sich um und musste feststellen, dass alle anderen sie anstarrten. Mit Ausnahme von Lucas. Er betrachtete die Hände in seinem Schoß und seine Lippen waren fest zusammengepresst.
Helen, Lucas, Ariadne und Jason saßen nach der Schule am Küchentisch der Delos und versuchten, Matt und Claire alles zu erklären, was sie über Halbgötter wissen mussten. Die beiden waren Helens beste Freunde, und obwohl beide kluge Köpfe waren, gab es in Helens Vergangenheit doch vieles, das sie nicht wussten. Und nach allem, was Matt und Claire für sie getan hatten, verdienten sie Antworten. Immerhin hatten sie vor sieben Tagen ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um Helen und der Familie Delos zu helfen.
Sieben Tage erst, dachte Helen und zählte sie an den Fingern ab, um sich zu vergewissern, dass es stimmte. Nach dieser ganzen Zeit in der Unterwelt kommt es mir eher vor wie sieben Wochen.
»Es klingt kompliziert, aber das ist es eigentlich nicht«, sagte Ariadne, als klar wurde, dass Helen nicht weitersprechen würde. »Es gibt vier Häuser und diese vier Häuser sind seit dem Trojanischen Krieg verfeindet. Deswegen stacheln uns die Furien an, jemanden von einem anderen Haus zu töten. Es geht dabei um Blutrache.«
»Vor einer Million Jahren hat jemand aus dem Haus von Atreus jemand aus dem Haus von Theben umgebracht, und man erwartet von euch, dass ihr diese Blutschuld bezahlt?«, fragte Matt voller Zweifel.
»So ungefähr. Allerdings war es viel mehr als nur ein Toter. Du darfst nicht vergessen, dass wir hier vom Trojanischen Krieg reden. Da sind viele Leute gestorben, sowohl Halbgott-Scions als auch Normalsterbliche wie du«, erklärte Ariadne mit einem entschuldigenden Grinsen.
»Ich weiß, dass der Krieg eine Menge Leben gekostet hat, aber was bringt euch diese Blut-für-Blut-Geschichte eigentlich?«, hakte Matt nach. »Das endet doch nie. Das ist doch Irrsinn.«
Lucas lachte humorlos, schaute von seinem Schoß auf und sah Matt in die Augen. »Du hast recht. Die Furien treiben uns in den Wahnsinn, Matt«, sagte er ruhig und geduldig. »Sie verfolgen uns, bis wir daran zerbrechen.«
Helen kannte diesen Tonfall. Sie nannte ihn insgeheim Lucas' Professorenstimme. Wenn er so dozierte, hätte sie ihm den ganzen Tag zuhören können, auch wenn sie inzwischen wusste, dass dieses Verlangen falsch war.
»Sie bringen uns dazu, dass wir einander umbringen wollen, um einer verdrehten Form von Gerechtigkeit Genüge zu tun«, fuhr Lucas im selben gemessenen Ton fort. »Einer ermordet jemanden aus unserem Haus, wir revanchieren uns mit dem Mord an einem seiner Angehörigen, und so geht das nun schon seit dreieinhalbtausend Jahren. Und wenn ein Scion jemanden aus seinem eigenen Haus umbringt, wird er zum Ausgestoßenen.«
»Wie Hector«, bemerkte Matt zögerlich. Den Namen ihres Bruders und Cousins laut auszusprechen, ließ den Fluch der Furien sofort wieder aufflammen und brachte den Delos-Clan in Rage. Matt hatte es nur gewagt, um ganz sicherzugehen. »Er hat euren Cousin Kreon getötet, weil Kreon eure Tante Pandora umgebracht hat, und jetzt verspürt ihr den unwiderstehlichen Drang, ihn zu töten, obwohl ihr ihn immer noch liebt. Also für mich hat das nicht das Geringste mit Gerechtigkeit zu tun.«
Helen sah sich um und stellte fest, dass Ariadne, Jason und Lucas mit den Zähnen knirschten. Jason war der Erste, der sich wieder in den Griff bekam.
»Deswegen ist das, was Helen tut, so wichtig«, erklärte er. »Sie geht in die Unterwelt, um die Furien zu besiegen und dieses sinnlose Töten zu beenden.«
Matt hätte gern noch weitere Fragen gestellt. Er verstand die Sache mit den Furien immer noch nicht recht, aber er merkte natürlich, dass dieses Thema alle anderen am Tisch sehr belastete. Claire wollte aber noch einige Punkte geklärt wissen.
»Okay. Das ist dann also ein Ausgestoßener. Aber Rogues wie Lennie sind Scions, deren Eltern aus verschiedenen Häusern stammen, aber nur ein Haus kann sie für sich beanspruchen, richtig? Das bedeutet, dass sie dem anderen Haus gegenüber immer noch diese Blutschuld haben?« Claire versuchte, sich möglichst vorsichtig auszudrücken, weil sie wusste, wie schwer das für Helen war, aber sie musste es aussprechen. »Du wurdest von deiner Mutter Daphne beansprucht. Oder vielmehr von ihrem Haus.«
»Dem Haus von Atreus«, bestätigte Helen deprimiert und musste wieder daran denken, wie ihre lange verschollene Mutter vor neun Tagen wiederaufgetaucht war und ihr mit einer sehr unerfreulichen Neuigkeit das Leben ruiniert hatte.
»Und dein richtiger Vater - nicht Jerry, obwohl ich gestehen muss, Lennie, dass Jerry für mich immer dein richtiger Dad sein wird«, verkündete Claire entschieden, bevor sie zum Thema zurückkam. »Dein biologischer Vater, den du nie kennengelernt hast und der vor deiner Geburt...
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