Schweitzer Fachinformationen
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Vom Klimaschutz über die Vergesellschaftung großer Immobilienkonzerne bis zum Recht auf die eigenen Daten: Wir erleben gegenwärtig ein Comeback von Eigentumsdebatten. Der Band bietet erstmals eine umfassende Einführung in diese hochaktuellen Streitfragen. Welche Folgen hat die Finanzialisierung für geistiges Eigentum und das Eigentum an Wohnraum? Welche Gründe sprechen für Gemeineigentum? Sind Erbschaften von der Eigentumsidee gedeckt? Die Beiträge von u. a. Katharina Pistor, Christoph Menke, Brenna Bhandar, Rahel Jaeggi, Andrej Holm, Philipp Staab und Andreas Malm entwickeln Lösungsansätze aus den Perspektiven von Philosophie, Soziologie, Recht und Geschichte.
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Tilo Wesche
Wohl kaum eine andere Institution moderner Gesellschaften ist so umkämpft wie das Eigentum. Eigentum scheint Fluch und Segen zugleich zu sein. Einst wurde Eigentum als Schutz gegen Willkür und Raub eingeführt. Mittlerweile bedarf es eines Schutzes vor ebendiesem Eigentum. Ganz gleich, ob es sich heutigentags um Umverteilungen von unten nach oben, Konzentrationen sozialer Macht, die globale Kluft zwischen Arm und Reich, das Überschreiten planetarer Grenzen oder die gefährdete Privatsphäre im digitalen Raum handelt: Gesellschaftliche Konflikte dieser Art werden von Eigentumsrechten angetrieben, verschärft und verstetigt. Dabei wird nicht nur um konkrete Eigentumsverhältnisse gestritten, wie etwa, wem der gesellschaftliche Wohlstand, wem die Stadt oder wem die Natur gehört. Umkämpft ist auch die Deutungshoheit darüber, was Eigentum ist. Der Zankapfel besteht darin, welches Eigentum gilt: das, welches Fluch, oder das, welches Segen ist. Wenn wir uns zu gesellschaftlichen Konflikten verhalten wollen, so müssen wir deshalb auch um die Frage ringen: Was überhaupt ist Eigentum?
Der Versuch, diese Frage zu beantworten, ist wie das Schälen einer Zwiebel. Jede Antwort wirft neue Fragen auf. Schier unerschöpflich sind die Vorstellungen darüber, was Eigentum ist und sein soll. Wer in seiner kulturellen und historischen Vielfalt eine Reinform des Eigentums sucht, jagt einer Chimäre nach. Doch mögen sich Eigentumsvorstellungen noch so sehr unterscheiden, so setzen sie gleichwohl Strukturähnlichkeiten voraus. Zwischen deren konkurrierenden Deutungen verlaufen die umkämpften Konfliktlinien. In dieser Einleitung sollen, notgedrungen äußerst schematisch, einige Konfliktlinien nachgezeichnet werden.
Ausgegangen wird von der Beobachtung einer Eigentumsvergessenheit in den Sozialwissenschaften und von der Frage, wie die Eigentumsforschung Boden gutmachen kann (1.). Anschließend werden einige Schlüsselbegriffe der Eigentumstheorie erläutert. Zunächst werden drei Bedeutungen unterschieden, die Eigentum hinsichtlich seiner Funktionen (2.), Werte (3.) und Normen (4.) annimmt. Sodann werden die normativen Grundlagen genauer be10trachtet (5.) und auf diesem Feld vier Konfliktlinien nachgezeichnet. Sie verlaufen entlang der Alternativen von individueller und kollektiver Freiheit (6.), Sachen und Gütern (7.), Schranken und Grenzen (8.) sowie Aneignung und Enteignung (9.). Abschließend wird der Aufbau des Buches erläutert, der sich daraus ergibt (10.).
Nichts ist bemerkenswerter in den Sozialwissenschaften als ihre Eigentumsvergessenheit. Sie lenken von vornherein ihre Gesellschaftsanalysen auf Gleise, die einen mit traumwandlerischer Sicherheit an der Frage nach dem Eigentum, dieser gesellschaftlichen Basisstruktur, vorbeileiten. Dabei bildete die Eigentumsfrage einst die Achse, um die das Denken in der politischen Philosophie kreist. Von Thomas Hobbes und John Locke über Immanuel Kant und G.W.F. Hegel bis Karl Marx steht die Eigentumsfrage im Mittelpunkt der politischen Theoriebildung. Seit dem späten 19. Jahrhundert geriet sie in den Sozialwissenschaften jedoch in Vergessenheit und wanderte in die angewandten Eigentumswissenschaften, das heißt in die aufkommenden Rechts- und Wirtschaftswissenschaften aus. Selbst dort, wo sie, wie bei Émile Durkheim und Georg Simmel, berührt wird, hat sie ihren zentralen Stellenwert eingebüßt. Erst seit der Banken- und Finanzkrise 2008 wird verstärkt versucht, sie als eine sozialwissenschaftliche Forschungsfrage wiederzugewinnen.[1]
Mit der sozialwissenschaftlichen Eigentumsvergessenheit wird die Tendenz verstärkt, dass gesellschaftliche Konflikte nicht mehr als Konflikte ums Eigentum sichtbar werden. Denn ihre Wahrnehmung als Eigentumskonflikte setzt klarerweise ein Verständnis dessen voraus, um was in ihnen gestritten wird: Es bedarf einer empirisch und theoretisch belastbaren Vorstellung von Eigentum, von seinen Strukturmerkmalen, Widersprüchen und Kontexten. Die Eigentumsvergessenheit arbeitet somit einer Invisibilisierung von Eigentumsverhältnissen in die Hände. Selbst wo genau hingesehen wird, bleiben die Eigentumsverhältnisse unsichtbar. Ohne ein scharfgestelltes Eigentumsverständnis entzieht sich dem Blick, 11dass sich hinter sozialen Ungleichheiten, politischen Verwerfungen, ökonomischen Erschütterungen, technologischen Umbrüchen und ökologischen Krisen oftmals ein Streit um die Eigentumsfrage >Wem gehört was und warum?< verbirgt. Wir kommen gleich auf diese Invisibilisierung zurück, wenn wir uns ihren Ursachen zuwenden.
Durch diese Invisibilisierung wird schließlich die Eigentumsfrage einer politischen Öffentlichkeit entzogen. Wo Eigentumsverhältnisse nicht ins Bewusstsein gelangen, besteht wenig Anlass dazu, sie in Frage zu stellen und nach Alternativen zu suchen. Eine Entpolitisierung des Eigentums ist die Folge: Eigentumskonflikte lassen sich in der gesellschaftspolitischen Debatte nicht mehr adressieren. Gerät die Eigentumsfrage in den Sozialwissenschaften in Vergessenheit, rückt sie zunehmend auch aus dem Blickfeld politischer und zivilgesellschaftlicher Gestaltungsmacht. Ohne Kategorien des Eigentums bleiben Eigentumsverhältnisse unsichtbar und damit gegen eine öffentliche Politisierung abgeschirmt.
Vergessenheit, Invisibilisierung und Entpolitisierung des Eigentums bilden gemeinsam den kritischen Ausgangspunkt des vorliegenden Bandes. Dessen Beiträge eint das Anliegen einer eigentumstheoretischen Dechiffrierung gesellschaftlicher Konflikte. Diese sollen in Kategorien des Eigentums betrachtet und somit als Eigentumskonflikte sichtbar gemacht werden, um die Eigentumsfrage in den gesellschaftspolitischen Diskurs zurückzuholen. Werden beispielsweise soziale Ungleichheiten eigentumstheoretisch betrachtet, erschließen sie sich nicht nur als Verteilungskämpfe um Besitz wie Einkommen und Vermögen, sondern auch als Teilhabekonflikte um soziale Macht. Soziale Ungleichheiten sind immer auch Ausdruck von Eigentumskonzentrationen, wo die eigentumsgebundene Entscheidungsmacht in den Händen weniger liegt. Bahn bricht sich die Forderung nach gleicher Teilhabe an ihr etwa in urbanen Auseinandersetzungen darüber, wem die Stadt gehört. Im Licht der Eigentumsfrage treten aber auch Ursachen für politische Verwerfungen wie Postdemokratie und Demokratieskepsis zutage. Wer von der Eigentümermacht ausgeschlossen ist, wird leicht empfänglich für den Eindruck fehlender Selbstwirksamkeit und das Misstrauen gegenüber einer Demokratie, in der wenige Eigentümer gesellschaftlich mehr Einfluss ausüben als andere durch politische Mitbestimmung. Insbesondere im Finanzkapitalismus schrumpft 12Eigentum auf die Freiheit der ökonomisch Erfolgreichen zusammen. Schließlich lassen sich auch die gegenwärtigen Ökologiekrisen der Erderwärmung, Globalvermüllung, Ressourcenerschöpfung und des Artensterbens als Streit um die Frage begreifen, wem die Natur überhaupt gehört.
Um solche Eigentumsfragen für die gesellschaftspolitischen Debatten der Gegenwart wiederzugewinnen, muss bei den Ursachen für die Eigentumsvergessenheit angesetzt werden. Diese Ursachen sind vielfältig. Erstens wurde ihr durch die zunehmende Ausdifferenzierung der Einzelwissenschaften im 19. Jahrhundert der Boden bereitet. Indem sich spezifische Wissenschaften herausbilden, wird keine von ihnen allein einem Eigentumsverständnis mehr gerecht. Was Eigentum ist, wie sich Eigentum begründen lässt, wann Eigentum gerechtfertigt ist und wann nicht sowie welche Pflichten mit ihm verbunden sind - mit solchen Fragen sind jeweils Philosophie, Soziologie und Staatswissenschaft überfordert. Sie entlasten sich folglich von einer Eigentumsforschung und verlassen sich stattdessen auf die hochgradig präzisen und differenzierten Eigentumsvorstellungen, mit denen in den Rechts- und Wirtschaftswissenschaften gearbeitet wird. Diese beschränken sich jedoch in der Regel auf Anwendungsfragen: Wie lassen sich Eigentumsansprüche verrechtlichen; wie Eigentumsstreitigkeiten schlichten; wie Eigentumsschutz durchsetzen; und wie Eigentumsrechte funktional nutzen? Mit dieser Beschränkung auf Anwendungsfragen geht einher,...
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