Schweitzer Fachinformationen
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Als »Barrikadenpianist« hat er die Revolution zu Hause unterstützt. In der Emigration verdient er sein Geld als Salonmusiker - Josip Rotsky, ein Mann unklarer Identität, dessen Name sich auf Trotzki, Brodsky und Joseph Roth reimt. In einem Schweizer Hotel muss er für den Diktator seines Landes spielen - und wird zum Attentäter.
Nach der Haft zieht Rotsky sich in die heimatlichen Karpaten zurück. Geheimdienstler und andere Finsterlinge trachten ihm nach dem Leben. Mit seiner Geliebten Animé und dem Raben Edgar flieht er nach Griechenland. Erst auf der Gefängnisinsel am Null-Meridian ist Schluss. Dort sendet sein »Radio Nacht« rund um die Uhr Musik, Poesie und Geschichten in die sich verfinsternde Welt.
Das Internationale Interaktive Biografische Komitee (IIBC) - eine dermaßen einflussreiche und respektgebietende Institution, dass ich schon seit zwei Jahrzehnten um das Recht buhle, ihr korrespondierendes Mitglied zu werden - hat mich mit der ausführlichen und kommentierten Beschreibung des Lebens eines gewissen Josip Rotsky beauftragt. Ich habe diesen Auftrag nicht nur mit stillschweigender Genugtuung angenommen, sondern auch im Bewusstsein der Verantwortung für seine besondere Komplexität. Die Summe meiner Kenntnisse über die Person, deren Lebensweg ich umfassend und vollständig dokumentieren sollte, betrug kaum mehr als null und erschöpfte sich in dem erwähnten Vor- und Nachnamen.
Wobei auch diese minimalen Angaben offenbar nicht verlässlich sind. Schon der Vorname. Wirklich Josip? Oder doch archaischer - Osip? Vielleicht Josiph? Oder sogar Joseph und Józef? Oder gleich Joasaph und Josaphat?
Josip Rotsky. Ein prätentiöser Hybrid aus Brodski und Roth. Letzterer war seinem Geburtsort nach ebenfalls ein brodskyj beziehungsweise brodywskyj, einer aus Brody. Dies nur am Rande.
Nach einigem Meditieren und dem skrupulösen Durchforsten aller möglichen Internetressourcen konnte ich erste Schlüsse ziehen. Vor allem, dass Josip Rotsky wirklich existiert hat oder vielleicht immer noch existiert. Dass es sich also nicht um das Hirngespinst eines der Komitee-Funktionäre handelte. Niemand im Komitee hatte die Absicht, eine weitere biografische Fiktion in Umlauf zu bringen - das hätte ich selbst unter der Folter bestätigt. Rätselhaft blieb, warum das Komitee so stark an ihm interessiert war. Die Antwort, so vermutete ich, würde mit dem Fortgang meiner Forschungen Gestalt annehmen.
Zuerst gab es nur Brosamen. Es gelang mir herauszufinden, dass Josip Rotsky eine musikalische Ausbildung abgebrochen hatte und wohl mehrere Tasteninstrumente beherrschte. Anfang der neunziger Jahre spielte er in einer Band und war in Serbien auf Tournee. Vielleicht war es auch Mazedonien. Die Sprache lernte er nicht, imitierte jedoch ab und zu serbische Ausdrücke. Wenn er zum Beispiel ein paar besonders verführerische Linien oder Wölbungen nachschaute, rief er begeistert »kakova malica!«, was, wie er glaubte, in seiner Muttersprache »so ein Mädchen!« hieß.
Überhaupt benutzte er gern eigene, spontan erfundene Wörter. Manche kehrten später wieder, andere tauchten nur einmal auf.
In seinem vorherigen Leben, das auf die Wende vom XV. zum XVI. Jahrhundert fiel, war er ebenfalls Musikant gewesen, aber offenbar ein viel begabterer.
Außerdem erfuhr ich, dass Josip Rotsky meist einfarbige, eher helle Hemden trug. Obwohl ihm auch Schwarz nicht schlecht stand. Vielleicht wegen seiner Heterochromie - ein äußerst seltenes Phänomen, wenn die Augen unterschiedliche Iris-Färbung aufweisen. Dass eines von Rotskys Augen grünlich war, darf als gesichert gelten. Ob das rechte oder das linke, konnte ich so wenig ermitteln wie die Farbe des anderen Auges.
Sein Land hatte Josip Rotsky unfreiwillig verlassen. Es gibt Anlass anzunehmen, dass dies vor allem mit dem Scheitern der Revolution zusammenhängt. An beidem - der Revolution wie ihrem Scheitern - hatte er einen nicht geringen Anteil. Daher auch seine mutmaßliche Mitwirkung bei einem politischen Attentat. Welches offenbar erfolgreich war.
Das war ungefähr alles, was ich über Josip Rotsky wusste, als ich mich zur Fortsetzung meiner Recherche-Exerzitien auf Wanderschaft begab. Ohne mich in Einzelheiten meiner verschlungenen Reise zu verlieren, deren Abwege manchmal hoffnungslos absurd erschienen und höchstwahrscheinlich nirgendwohin, nur in eine absolut verschlossene Sackgasse führen würden, will ich berichten, wie ich auf ein unüberwindliches Hindernis in Gestalt eines übel beleumundeten Schweizer Gefängnisses traf, das ich schließlich umgehen musste, ohne Einlass gefunden zu haben. Dieser Misserfolg wurde zu einer Art Wendepunkt.
Im Dezember vergangenen Jahres verschlug es mich nach Nashorn - kein Städtchen, sondern eine richtige Stadt unweit eines der rund siebzig geografischen Mittelpunkte Europas östlicher Spielart. Die Karpaten nehmen dort recht exotische vulkanische Formen an, und ihre mit Nussbaum- und Kastanienhainen bewachsenen Ausläufer bilden ganze Kaskaden steilerer und sanfterer Hänge, an die sich seit beinahe neun Jahrhunderten die erwähnte Stadt ideal schmiegt. Nashorn hieß sie allerdings nicht vom Moment ihrer Gründung an, sondern erst seit der Regierungszeit des sechsundzwanzigsten Barons Florian-August. Also etwa seit Ende des XV. Jahrhunderts.
Es dauerte eine ganze Weile, bis ich die Wohnung anmieten konnte, in der Josip Rotsky noch wenige Jahre zuvor gewohnt hatte, aber ich löhnte dasselbe, wie mir der schmierige Makler versicherte, und das musste angesichts der schleichenden Inflation wohl als unverdientes Privileg gelten.
So wurde ich zum Einwohner dieser nur auf den ersten Blick unscheinbaren Stadt. Das Haus, dessen halbes Erdgeschoss vorübergehend zu meiner Verfügung stand, war ein mehrstöckiges Musterbeispiel architektonischer Unsicherheit; es drängte sich mit aller Macht an den felsig-basaltigen, wild genannten Fuß des Festungsbergs - als wolle es auf ewig verschwinden, sich in seinen Eingeweiden verstecken. Als Besonderheit des Hauses konnte allenfalls sein Keller gelten, vielmehr der dort befindliche Klub. Wobei der meistens geschlossen blieb. Wenn er, selten genug, einmal öffnete, war er nur mäßig besucht. Ich habe nur einmal dort gesessen, am Abend nach dem Einzug. Es handelte sich um eine typisch altmodische Spelunke, wo früher einmal so viel geraucht worden war, dass dieser Geist nicht vertrieben werden konnte - egal, wie viel Durchzug man veranstaltete. Ein weiteres Element seiner Oldschool-haftigkeit waren die Zahnstocher - nicht nur auf den Tischen, neben Salz- und Pfefferstreuer, sondern auch auf der Theke. Fehlten nur noch die Senffässchen. Keiner der Angestellten beeilte sich, mein vorgeblich schwaches Interesse zu befriedigen. Der betont apathische Barmann ließ sich zumindest die Information aus der Nase ziehen, hier habe es kürzlich noch ein anderes Lokal gegeben, keine Ahnung, für welches Publikum. Das heißt, er habe doch eine Ahnung, eine schwache: »Irgendwelche Emigranten.« Der einheimische Blaufränkische erwies sich als unterdurchschnittliche Abart dieses unterdurchschnittlichen Weins, und es passierte auch sonst nichts Anregendes. So tauchte in meinem Blickfeld auch nicht der Schatten von etwas auf, das den Ausruf »kakova malica!« verdient hätte. Nachdem ich das zweite Glas heruntergewürgt hatte, zahlte ich und stieg die Treppe hinauf nach Hause.
Zur Monatsmitte hin, als die Tage kritisch kurz und schamlos finster wurden, vor allem in einer Parterrewohnung unter dem Festungsberg, erlebte ich das bis dato einzige mystische Abenteuer meines Lebens. Nachdem ich am Nachmittag einen weiteren Stapel Dokumente durchgegangen war, ohne fündig zu werden, und vor dem Fenster die äußerst zaghaften Versuche des Schnees beobachtet hatte, endlich auf alle Zurückhaltung zu pfeifen und mit Macht zu fallen, beschloss ich, eine Pause einzulegen und auf dem verführerisch nahen Sofa ein Nickerchen zu halten. Als ich vom Dösen in den Schlaf glitt, registrierte ich noch einen mir neuen Umstand: Von unten, also aus dem Keller, erklangen Geräusche verschiedenen Timbres und verschiedener Lautstärke, die auf couragiertes Verrücken von Möbeln und das Aufstellen von Instrumenten hindeuteten. Vielleicht waren es noch nicht alle. Jedenfalls bearbeitete der Tontechniker mit aller Macht das Schlagzeug.
Schließlich fiel mir noch ein, dass heute Freitag war und abends ein Konzert stattfinden sollte.
Etwas Drittes nahm langsam Konturen an. Alles war wie damals. Ich war nicht ich, sondern Josip Rotsky. Ich lag auf seinem Sofa, in seiner Zeit. Er war es, der die Geräusche aus dem Keller hörte. Ich brauchte mich nur aufzulösen in dem, was weiter geschah. In einer anderen Zeit an einem anderen Tag, gegen Ende eines Jahres, in ebendieser Wohnung.
Unten wurde weiter die Bass Drum eingestellt - lange, öde und eintönig. Daran war nichts Ungewöhnliches. Über einem Klub zu wohnen, bringt gewisse Unannehmlichkeiten mit sich, vor allem freitags und samstags. Der Klub hieß...
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