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»They belong to us, they are one of us and we want them in« - auf diesen Satz, der seinem Land die EU-Beitrittsperspektive in Aussicht stellte, hatte Juri Andruchowytsch jahrelang gewartet. Er fiel in Brüssel, drei Tage nach Russlands Invasion der Ukraine. »Tiefes Aufatmen - unter dem Heulen der Sirenen.«
Sein fulminanter Essayband Das letzte Territorium (es 2446), heute ein Klassiker, war vor zwanzig Jahren der Auftakt einer Diskussion, die bis zum 23. Februar 2022 anhielt: Wohin will die ukrainische Gesellschaft? Wo ist der Platz ihres Landes in Europa? Als Rufer in der Wüste warnte Andruchowytsch zu allen sich bietenden Anlässen vor Russlands Großmachtambitionen. Als Sisyphos der europäischen Verständigung bat er darum, die Ukraine nicht aus dem Auge zu verlieren. Der Preis unserer Freiheit versammelt Texte, die zwischen 2014, dem Jahr des Euromaidan, und 2023 entstanden sind. Pflichtlektüre für alle, die verstehen wollen, wie es zu dem Unvorstellbaren kommen konnte.
Der 56. Tag des Euromaidan war deshalb bemerkenswert, weil an der Fassade des schon zu Beginn der Proteste von Demonstranten besetzten Kiewer Rathauses ein Banner mit dem Porträt von Taras Schewtschenko entrollt wurde. Das bedeutete: »Vater Taras« ist mit uns, er ist unser höchster geistiger Führer.
Überall auf dem Maidan sieht man größere oder kleinere Schewtschenko-Porträts, manche mit Gedichtzeilen versehen. Sie sind Treffpunkt improvisierter Diskussionsklubs oder Literaturwerkstätten. Eines der größten (»der Haupt-Schewtschenko des Maidan«) segnet manchmal die große Bühne mit seiner Gegenwart, den Ort, von dem Aktivisten und Oppositionspolitiker zu den Protestierenden sprechen. Sie sprechen mit Schewtschenko im Hintergrund. Oder besser, er schaut ihnen streng über die Schulter.
Taras Schewtschenko, seine Ikone, ist integraler Bestandteil der Symbolsprache des Maidan, Zentrum seines Zeichensystems.
Geht man vom Maidan auf der Hauptstraße Chreschtschatyk in Richtung des schon erwähnten Rathauses, kommt man zum Kunst-Barbakan - dem Territorium der Künstler, Dichter, Regisseure und Musiker, die sich hier zusammengefunden haben, um mit den Demonstranten zu kommunizieren. Die eilig gezimmerten hölzernen »Wände« des Barbakan dienen gleichzeitig als 10Ausstellungsfläche. Sie hängen voller aktueller revolutionärer Bilder. Die Leute, die vorbei kommen, interessieren sich vor allem für Andrij Jermolenkos provokanten, sarkastischen Zyklus »Schewtschenkiniana«. Auf jeder Graphik eine andere Modifikation Schewtschenkos, ergänzt durch einen witzigen Namen: Schewtschenko Superman, Schewtschenko der Verkehrspolizist, Schewtschenko als Nouveau-Riche, Elvis Presley Schewtschenko (King of Ukraine), Schewtschenko als Brahmane, Schewtschenko der Dörfler. Mir persönlich fehlt ein Che Schewtschenko oder Schewtschenko Gandhi. Unter vier Augen hat mir der Künstler hingegen versichert, bald werde Schewtschenko Machno erscheinen.
In seiner Rede auf der großen Bühne des Kiewer Euromaidan zitierte Senator John McCain Schewtschenko in englischer Übersetzung: Love your Ukraine, // Love in the hard time. Fast eine Million Demonstranten hörten ihn an jenem Tag diese Worte sprechen. Vermutlich die größte Zahl von Zuhörern live, vor Ort, die Senator McCain jemals hatte.
So erhielt Taras Schewtschenko in diesen Tagen noch eine weitere Bedeutung. Er wurde zum internationalen Kommunikator der ukrainischen Protestbewegung.
Wie könnte es auch anders sein.
Es ist bezeichnend, dass man nach den Präsidentschaftswahlen von 2010, als in der Ukraine das Janukowytsch-Regime an die Macht gelangte, erneut begann, Schewtschenko zu zensieren und zu verbieten - wie zu Zaren- und Sowjetzeiten. Ein besonderer Tiefpunkt waren die Feierlichkeiten zum 199. Geburtstag des Dichters in seinem Heimatdorf Morynzi, als, wie ein Augenzeuge und Teilnehmer berichtete, »mehr Polizei herangekarrt wurde, als es Besucher gab, dem Dorfchor das Singen und den Schülern das Gedichte Rezitieren untersagt wurde, mit der Begründung, Schewtschenko habe revolutionäre Poesie geschrieben, und das sei heute unpassend«.
Die offizielle Haltung der Staatsmacht zum »Großen Taras« blieb allerdings weiterhin ehrerbietig. Und selbst der höchste Staatspreis »im Bereich von Literatur und Kunst« trägt noch seinen Namen. Dass man ihn in den vergangenen Jahren keineswegs herausragenden und revolutionären, sondern ausgesprochen loyalen Künstlern verliehen hat, steht auf einem anderen Blatt.
Zweifellos würde es der Staatsmacht gefallen, Schewtschenko in ihrem ideologischen Arsenal als eine Art bronzenen Götzen oder wenigstens disziplinierten Staatsdiener zu führen. Die Staatsmacht hatte jedoch unter anderem das Problem, dass sie über keinerlei Ideologie verfügte, nur über ein Bündel krimineller Instinkte, mit denen sich Schewtschenko einfach nicht verträgt. Er ist kein Götze, sondern Wort und Text, lebendig, aufständisch und gefährlich. Und er steht für ei12nen zentralen nationalen Mythos: den Gründungsmythos, der die Ukraine als eigenständiges Land konstituiert hat - das Ukrainische als eigene Sprache, die Mentalität der Ukrainer und ihr Bewusstsein von sich selbst. Der reale Mensch, der Dichter Taras Schewtschenko, hat nur partiell damit zu tun, aber das ist auch egal - der Mythos überwölbt die Realität.
Ein deutscher Freund hat ins Schwarze getroffen, als er einmal ironisch meinte: »Schewtschenko ist für die Ukrainer Luther, Kant und Goethe in einem.«
Schewtschenkos schöpferisches Vermächtnis - das sind 218 von den Herausgebern traditionell im Band »Der Kobsar« zusammengefasste Gedichte und Poeme, neun Novellen (erheblich schwächer als die Gedichte), das einzigartige Tagebuch mit dem Titel »Journal« und ein umfangreiches künstlerisches Werk, vor allem Graphiken, Aquarelle, Radierungen und Drucke. Ohne zu vergessen, dass Schewtschenko seinen Lebensweg als 47-jähriger »akademischer Graveur« der Petersburger Akademie der Künste beschlossen hat, lassen wir die Bildende Kunst hier aus Platzmangel beiseite und wenden uns dem literarischen Teil seines Werkes zu.
Was macht seine Stärke aus? Wie pulsiert das Leben im Gewebe, und wohin reichen die Nervenenden? Warum geht der Dichter Schewtschenko, anders als seine Zeitgenossen Goethe, Byron, Puschkin, Mickiewicz, Lermontow, Schiller und Shelley, auch nach zweihun13dert Jahren noch nicht zur ewigen Ruhe ins Dichterparadies ein? Warum benimmt er sich nicht so, wie es sich für einen normalen Klassiker aus einem normalen Land gehört, sondern treibt sich ruhelos in der Hölle der ukrainischen Gegenwart herum? Anders gesagt - was macht er auf diesen Barrikaden?
Schewtschenkos Ethos ist aufständisch. Das Etikett »revolutionärer Romantiker« der alten sowjetischen Literaturwissenschaft schien wie für ihn erdacht. Sein System in der Poesie verkörperter Überzeugungen basiert darauf, dass die Welt von sozialer und nationaler Ungerechtigkeit beherrscht wird; dass es eine existentielle Pflicht des Menschen ist, für Gerechtigkeit einzustehen; dass die Gewalt der Starken dieser Welt die Gewalt jener gebiert, die sich im Namen der Gerechtigkeit auflehnen; dass es in der künftigen gerechten Welt keine Gewalt geben wird, dass die Freiheit ebenso ein Ideal ist wie die Gerechtigkeit und dass die Freiheit des Einzelnen und die Freiheit menschlicher Gemeinschaften gleich wertvoll sind.
Warum gerade diese beiden Ideale - Freiheit und Gerechtigkeit? Das ist leicht zu verstehen, wenn man sich Schewtschenkos Herkunft vor Augen führt: Der künftige Dichter wurde als Leibeigener geboren, seine nahen Vorfahren aber waren noch freie Menschen (Kosaken) gewesen; erst Ende des 18. Jahrhunderts hatte das russische Zariat sie zu Unfreien gemacht. Die Lage der 14leibeigenen Bauern im Russischen Imperium lässt sich mit der Lage der schwarzen Sklaven in den damaligen Vereinigten Staaten vergleichen - ihre Herren konnten vollständig frei über ihre Körper, Seelen und Schicksale verfügen. Einen bedeutenden Teil seines Lebens - 24 Jahre, also mehr als die Hälfte - war Schewtschenko das persönliche Eigentum von Herrn Engelgardt, einem russischen Adligen mit deutschen Wurzeln. Dass ihn eine Gruppe Petersburger Künstler in einer gemeinsamen Anstrengung freikaufte, war fast die glücklichste Episode seines Lebens.
Dabei kann man sich nicht genug wundern über das Maß an innerer Freiheit, das er für sich selbst erreicht hat - mit jeder neu geschriebenen Zeile. Wie ein echter »revolutionärer Romantiker« oder besser gesagt, wie ein romantischer Held marschierte er mutterseelenallein und kaltblütig gegen die ganze...
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